D. Hoffmann u.a. (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland

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Titel
Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 8: 1949-1961. Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus


Herausgeber
Hoffmann, Dierk; Schwartz, Michael
Erschienen
Baden-Baden 2004: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
XII, 1.007 S.
Preis
€ 169,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gieseke, Abteilung Bildung und Forschung, BStU

Das Unternehmen einer Geschichte der Sozialpolitik im Nachkriegsdeutschland (angelegt auf mindestens elf Bände zuzüglich CD-ROM mit tausenden Dokumenten) ist nicht nur dem Umfang nach eine titanische Herausforderung. Es stellt auch besondere Anforderungen an die Synthesekraft der beteiligten Wissenschaftler. Im Falle der DDR kommt erschwerend hinzu, dass diese sich nach Kräften von der bürgerlich-kapitalistischen Tradition der Sozialpolitik als „Reparaturbetrieb“ abgrenzte und doch in mancher Hinsicht eng mit ihr verwoben war. Von Bedeutung ist dieser ostdeutsche „Sonderweg“ nicht nur aus allgemeinem historischen Interesse, sondern auch, weil er als Erfahrung noch heute intensiv nachwirkt.

Nach den Bänden zu allgemeinen Grundlagen und historischen Anfängen in der Besatzungszeit nach 1945 1 liegt nunmehr die erste „reine“ Lieferung zur DDR-Geschichte vor. Der von Dierk Hoffmann und Michael Schwartz betreute Band widmet sich der frühesten (und am dichtesten erforschten) Phase von 1949 bis 1961. Sie war geprägt von der Bewältigung der Kriegsfolgen, den weit reichenden Ansprüchen sozialistischer und kommunistischer Gesellschaftsgestaltung und dem Konkurrenzdruck aus dem Westen.

Die beiden Herausgeber lassen in ihrer Einleitung zu den politischen Rahmenbedingungen keinen Zweifel daran, dass die Sozialpolitik der DDR in jenen Jahren nur in enger Verklammerung mit der Durchsetzung der SED-Herrschaftsprinzipien interpretiert werden kann. Sie bilanzieren die intensiven politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen und präsentieren damit einen (auch über den sozialpolitisch interessierten Leserkreis hinaus) sehr nützlichen Überblick auf aktuellem Stand.

Dies gilt auch für den zweiten einleitenden Abschnitt zu Gesellschaftsstruktur und sozialpolitischen Handlungsfeldern der frühen DDR, der sowohl die geistigen Traditionen des Politikfelds aus der Weimarer Zeit beleuchtet als auch eine Fülle von Basisdaten zur sehr bewegten Demografie und sozialen Schichtung in jenen Jahren präsentiert. Allerdings ist hier der Forschungsstand, wie die Autoren zu Recht anmerken (S. 84), weniger dicht, etwa hinsichtlich der Auf- und Abwärtsmobilität innerhalb der Arbeiterschaft oder der Funktionseliten, deren Spektrum von der „Intelligenz“ bis hin zu bildungsfernen Parteiapparatschiks noch kaum systematisch vermessen ist. (Umso drängender wird diese Frage für die Bände zur späteren DDR, wo sich die strategische Bedeutung dieser neuen Dienstklasse noch weniger ignorieren lässt.) Ein wenig kurios in diesen instruktiven Überblicken ist allein die Neigung von Schwartz, den Leser auf nahezu jeder Seite an seinem schier grenzenlosen Wissen über die Umsiedler und Vertriebenen in der DDR teilhaben zu lassen.

Den größten Raum des Bandes nehmen die Einzelbeiträge zu 17 verschiedenen Politikfeldern vom Arbeitsschutz bis zur internationalen Sozialpolitik ein, die hier nicht alle im Einzelnen diskutiert werden können. Im Zentrum stehen naturgemäß die klassischen Themen wie Renten-, Gesundheits- oder Sozialfürsorgepolitik, bei denen die grundlegenden Systemwechsel nachgezeichnet werden. Aber auch Politikfelder, die in der sozialistischen Gesellschaft zu Dauerlieferanten für Konfliktstoff avancieren sollten, wie die Preis- und Versorgungspolitik mit ihren parallelen Währungen und Rationierungssystemen, sowie der Zugang zu Bildung und Wohnraum werden in eigenen Beiträgen gewürdigt. Für übergreifende Fragen besonders aufschlussreich ist die (leider als Kapitel 14 recht versteckte) Abhandlung von Thomas Olk zu den Konflikten um die Verdrängung traditioneller, d.h. insbesondere konfessioneller Träger sozialer Dienste durch die eher holprig ins Geschäft kommende Volkssolidarität. Die Beiträge sind durchweg auf quellengesättigter Grundlage geschrieben und werden ergänzt durch die beigefügte CD-ROM, auf der insgesamt 224 korrespondierende Dokumente greifbar sind. (Außerdem werden dort die 277 Dokumente zum Band 2, 1945-49, in elektronischer Form nachgereicht.) Damit steht dem Leser ein dichter, nachgerade handbuchartiger Korpus an Informationen zur Verfügung, der über das Thema Sozialpolitik im engeren Sinne weit hinausgreift. Besonders hilfreich ist der ruhige und zugleich meist klare Ton, mit dem aus der historischen Distanz die wahrlich unruhige Zeit in ihren Facetten beleuchtet wird.

Ein wenig aus der Art schlagen lediglich die Artikel zum Arbeitsrecht, zum Arbeitschutz sowie zur Gesundheitspolitik. Wera Thiels Analyse der Arbeitsgesetzgebung behandelt die Abschaffung des Streikrechts und seine Konsequenzen für die Position der Beschäftigten nur im Vorbeigehen und geht auf die massive Kriminalisierung von Arbeitern durch das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums von 1952 gleich gar nicht ein. Lutz Wienhold lobt ausführlich die „durchaus ernsthaft[en]“ Bemühungen in Sachen Arbeitsschutz, muss dann aber doch eingestehen, dass „der Druck auf Planerfüllung, auf Produktivität und Leistung“ ihn „sehr schwer durchsetzbar“ gemacht habe (S. 249). Zu einem Sinken der Unfallzahlen führten sie jedenfalls nicht (siehe seine Tabelle, S. 230). Ein sehr knapper Abschnitt zu den brutalen Arbeitsbedingungen im Uranabbau der SDAG Wismut legt die Vermutung nahe, er sei nachträglich hineinredigiert worden (S. 246), um das „edle Streben“ wenigstens punktuell mit der krankmachenden Realität zu kontrastieren. Hinweise auf den fehlenden Arbeitsschutz bei Häftlingsarbeit sucht man vergeblich.

Um Abgrenzung (nicht zuletzt von vielen anderen Autoren des Bandes) bemüht sind schließlich Udo Schagen und Sabine Schleiermacher in ihrem Beitrag zur Gesundheitspolitik. Streng gehen die beiden mit den Medizinern der frühen DDR ins Gericht: „Die in Übereinstimmung mit der UdSSR agierenden Staats- und Parteiorgane hatten niemals Illusionen über die politische Grundhaltung der nicht zuletzt hochgradig NS-belasteten Ärzteschaft“ (S. 432), die allerdings „’durch den täglichen Umgang mit Menschen aus den breiten Schichten des Volkes’ selbst zu Demokraten erzogen“ werden sollte (S. 403). Westdeutsche Analysen zum DDR-Gesundheitswesen verweisen sie beinahe durchweg in den Orkus der Kalten-Kriegs-Propaganda und belehren den Leser unter Bezug auf eine DKP-Schrift aus dem Jahre 1971 über die in der DDR vollzogene „Demokratisierung des Gesundheitswesens“: „Die Prophylaxe von Erkrankungen, der Gesundheitsschutz, wurde zur Aufgabe der gesamten Gesellschaft, aller staatlichen und gesellschaftlichen Organe, nicht nur der Einrichtungen des Gesundheitswesens“, heißt es dort im vertrauten Klang der DDR-Selbstdarstellungen (S. 403). Die Autoren bedanken sich paradoxerweise bei Anna-Sabine Ernst für das Material ihrer Dissertation. Gelesen haben sie deren Standardwerk zum Thema offenbar nicht. Sonst wäre ihre Abhandlung gewiss weniger einseitig ausgefallen.2

In der Gesamtschau wiegen diese fragwürdigen Sichten nicht allzu schwer. Besondere Aufmerksamkeit für die weitere Forschung verdient die abschließende Gesamtbetrachtung der beiden Herausgeber, die nicht der Versuchung erlegen sind, eine nacherzählende Zusammenfassung der Einzelbeiträge zu liefern, sondern sich intensiv um den Rückbezug auf einige Generalfragen der frühen DDR-Geschichte bemühen. Die Praxis der frühen Sozialpolitik, so argumentieren sie, lässt sich keineswegs auf eine schlichte Sowjetisierungsthese verengen. Es seien vielmehr in der Regel „Synthesen aus sowjetischen Vorbildern, älteren deutschen Pfadabhängigkeiten und der Wiederaufnahme bislang unverwirklichter deutsch-sozialistischer Alternativmodelle in der Sozialpolitik“ gewesen, die die Sozialpolitik der frühen DDR geprägt hätten (S. 825). In diesem Prozess spielten nicht zuletzt ehemalige Sozialdemokraten wie der Vorsitzende des Zentralvorstands der Sozialversicherung, Helmut Lehmann, eine maßgebliche Rolle. Am Trend zur Zentralisierung (Sozialversicherung) bzw. zur direkten Verstaatlichung (Gesundheitswesen) und zur Verdrängung traditioneller Träger änderte dies freilich nichts. Die beiden Herausgeber unterstreichen ferner die starke Ausrichtung der Sozialpolitik auf die Erhöhung der Arbeitskräftezahlen, etwa mit den ersten Maßnahmen zur Erwerbsintegration von Frauen und Schwerbehinderten. Bedürftige DDR-Bürger, die für diesen Zweck keine Rolle spielen konnten, wie Rentner, hatten hingegen „keine Teilhabe an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung“ jenseits der Grundversorgung zu erwarten – was angesichts der Dynamisierung der Renten in der Bundesrepublik ab 1957 kräftig zu Buche schlug (S. 813). Als langfristig bedeutsam sollten sich auch die Spannungen zwischen nivellierenden und redifferenzierenden Tendenzen erweisen. Die Beseitigung alter Privilegien, so Hoffmann und Schwartz, wurde schon in dieser frühen Phase der DDR-Geschichte erneut überlagert durch Sonderregelungen. Manche davon, wie Einzelverträge mit umfangreichen Zusicherungen für Angehörige der „bürgerlichen Intelligenz“, waren aus der Not geboren, sie im Lande zu halten. Andere wiesen bereits den Weg zu den kleinen Annehmlichkeiten für die neue sozialistische Dienstklasse wie den ersten Sonderversorgungssystemen und dem einsetzenden bevorzugten Zugang zu höherer Bildung für loyale SED-Genossen und deren Kinder.

Alles in allem handelt es sich um ein verlässliches Handbuch für Detailfragen und zugleich um eine vorzüglich aufbereitete Syntheseleistung zu zahlreichen Problemen einer Sozialgeschichte der frühen DDR. Mit diesem Fazit verbindet sich die begründete Vorfreude auf die noch ausstehenden Bände zur Phase nach dem Mauerbau, die viele hier angesprochene Entwicklungen aufnehmen und dabei in gleicher Weise Maßstäbe setzen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. zu den ersten beiden erschienenen Bänden die Rezension von Uwe Kaminsky: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-032>.
2 Ernst, Anna-Sabine, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961, Münster 1997.

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