D. Bingen u.a. (Hgg.): Vertreibungen europäisch erinnern?

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Titel
Vertreibungen europäisch erinnern?. Historische Erfahrungen - Vergangenheitspolitik - Zukunftskonzeptionen


Herausgeber
Bingen, Dieter; Borodziej, Wlodzimierz; Troebst, Stefan
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 18
Erschienen
Wiesbaden 2003: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Die Vertreibungen auf dem Balkan haben die aktuelle Brisanz, aber auch die tiefe historische Dimension dieses Gewaltphänomens in den 1990er-Jahren neu bewusstgemacht. Zugleich haben das Ende des Kalten Krieges und die Osterweiterung der Europäischen Union nationale Spannungen nicht nur beigelegt, sondern diese erneut offen gelegt, wenn nicht verschärft. Daraus resultiert die öffentliche Debatte darüber, wie „man“ mit dem Faktum gewaltsamer ethnischer „Säuberungen“ und dem Kollektivschicksal von Millionen Vertriebenen umgehen soll. Der Sammelband „Vertreibungen europäisch erinnern?“, der ein Darmstädter Kolloquium vom Dezember 2002 dokumentiert, will in diese Debatte eingreifen. Die Teilnehmer der Tagung gaben der Überzeugung Ausdruck, dass Vertreibungen inhaltlich wie institutionell in europäischer Perspektive erinnert werden sollten.

Dieses Postulat bricht mit nationalen Einzelperspektiven, doch ist auch eine europäische Sicht keineswegs unproblematisch. Anwälte der „Europäizität“ (S. 19) wie Karl Schlögel betonen zu Recht unterbelichtete Zusammenhänge, stellen sich aber kaum die Frage, inwiefern eine europäische Perspektive Phänomenen gerecht werden kann, die längst globale Dimensionen besaßen. Auch die zweite Prämisse der Tagung, das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Vertreibungen“ zu deuten (Hans Lemberg, S. 44) und damit als Untersuchungsrahmen vorzugeben, ist fragwürdig.

Schon das erste Podium zu Vertreibungen „im und nach dem Ersten Weltkrieg“ sprengt die europäische Perspektive, indem es sich eingangs den Armeniern im Osmanischen Reich widmet – Vorgängen also, die nicht in Europa, sondern in Kleinasien und im Nahen Osten stattfanden. Auch die Beschränkung auf das 20. Jahrhundert wird hinfällig, denn sowohl die Armenierverfolgungen als auch die „Geschichte der Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen im Balkanraum“ (S. 71) lassen sich nicht auf das frühe 20. Jahrhundert beschränken. Dennoch wählt Holm Sundhaussen für das Balkanthema diese Eingrenzung, während sie der serbische Historiker Zoran Janjetovic an anderer Stelle des Bandes durchbricht (S. 153). In der Armenier-Frage schlägt Fikret Adanir zumindest den Bogen zur „erfolgreiche[n] Integrationspolitik auf islamischer Grundlage“ nach 1876, die den konfliktverschärfenden Kontext für die Armeniermassaker der 1890er-Jahre bildete (S. 60f.). Zugleich zeigt er, dass die Armenier- und Balkan-Vertreibungen interdependent waren (S. 62). Sundhaussen wiederum trifft die grundlegende Feststellung: „Die Nationen im Balkanraum stellten zu unterschiedlichen Zeitpunkten im 20. Jahrhundert sowohl Opfer wie Täter der Vertreibungen.“ Erinnerungspolitisch sei aber nur „die jeweilige Opferrolle“ thematisiert worden, und auch dabei seien die persönlichen „traumatischen Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Massenmord [...] grundsätzlich unberücksichtigt“ geblieben (S. 75f.).

Podium 2 behandelt zunächst die Vertreibung von Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg durch Polen, Tschechoslowaken und Rumänen. Piotr Madajczyk macht in seinem Beitrag über „Formen der Zwangsmigration in Polen 1939-1950“ deutlich, „wie viele Formen der Zwangsmigration es gibt und wie schwer sie zu ordnen sind“ (S. 110). Das Podium arbeitet dann weitere Deportationen und Vertreibungen streng nach Staaten geordnet ab, wobei das wichtige Thema der innersowjetischen Deportationen erneut dazu zwingt, die unzureichende Europa-Perspektive aufzugeben, denn solche Deportationen – die zwischen 1930 und 1950 „über 4,6 Mio. Personen“ erfasst haben sollen – reichten „auch in den Ural, nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien“ (Aleksandr Gurjanov, S. 140ff.). Gurjanov meint, nicht die klassenkampfbedingten Deportationen nach 1930, sondern erst die Aussiedlungen unzuverlässig scheinender Nationen 1941-1944 hätten „einen totalen Charakter“ angenommen, da sie ausnahmslos ganze Völker betrafen (S. 141). Erstaunlicherweise fehlt ein Beitrag zu Deportation und Genozid an großen Teilen der europäischen Juden, die erst in einer späteren Sektion Erwähnung finden (S. 220).

Das dritte Podium zu Zwangsmigrationen nach dem Kalten Krieg, das das zerfallende Jugoslawien der 1990er-Jahre behandelt, ist kurz und bietet wenig Neues, verweist aber auf die zeitliche Tiefendimension südosteuropäischer Konfliktkonstellationen. Ehrgeiziger ist Podium 4, wo die eurozentrische Tagungsperspektive mit der Widerspenstigkeit des „globalen Phänomens“ Vertreibung und Umsiedlung (S. 203) konfrontiert wird. John S. Micgiel begründet sein Plädoyer für eine europäische Perspektive damit, dass es bisher noch keine Vergleiche europäischer Vertreibungsfälle mit außereuropäischen gebe (S. 205) – was so nicht stimmt.1 Philipp Ther unterscheidet drei Phasen europäischer Vertreibungen (nach 1912, nach 1938, nach 1990) und nennt diverse Vertreibungsursachen (moderner Nationalstaat, internationales Staatensystem, Kriege etc.), um am Ende zu behaupten: „Sämtliche [...] Faktoren waren in Europa besonders umfassend und relativ früh wirksam oder können sogar als spezifisch europäische Phänomene angesehen werden.“ (S. 218) Das ist jedoch zu bestreiten: Für jede europäische Vertreibungsphase lässt sich ein gravierender außereuropäischer Parallelfall aufweisen – seien es Armenier und Griechen nach 1915, Indien/Pakistan 1946/47 oder Ostafrika (verkürzt: „Ruanda“) nach 1990. Ther weiß um diese Parallelen und behilft sich am Ende mit der schlingernden Argumentation, ein europäisches „Zentrum gegen Vertreibungen“ müsse ja „nicht eurozentrisch sein, sondern könne auf globaler Ebene Ursachenforschung betreiben“ (S. 218).

Wenn Ther zugleich dem „spezifisch deutschen Anteil an der Verursachung von Zwangsmigrationen“ nachspürt (S. 219), geht es ihm um weit mehr als um die Rolle des Nationalsozialismus. Er verortet Deutschlands angebliche „Schrittmacherrolle“ für die „Verbreitung eines ethnischen Nationsverständnisses in Europa“, namentlich für Osteuropa, schon tief im 19. Jahrhundert (S. 218f.). Herder lässt grüßen, doch hier überzieht der Autor erheblich: Eines deutschen Antisemitismus als Schrittmacher bedurfte es in Osteuropa wahrlich nicht. Auch sollte man – neben dem deutschen – das französisch-bonapartistische Vorbild für Befreiungsbewegungen auf dem Balkan nicht unterschätzen. Und längst bevor die antipolnische Siedlungspolitik in Preußen richtig griff, war das „befreite“ Serbien „fast völlig von Muslimen ‚gesäubert’“ (Janjetovic, S. 153), und deren Landbesitz war umverteilt. Dieser religiös aufgeladene Verdrängungsnationalismus bezog seine brutale Sprengkraft – wie zeitgenössische Marxisten sehr gut erkannten – nicht zuletzt aus seiner Klassenkampf-Eigenschaft zwischen christlichen Bauern und muslimischen Großgrundbesitzern.

Podium 5 wendet sich „Gedächtniskultur“ und „Erinnerungspolitik“ zu – mit erhoffter Nutzanwendung für eine „europäische Zukunft“ (S. 233). Thomas Lutz gruppiert seinen nicht übermäßig differenzierten Beitrag zur deutschen Erinnerungspolitik um die Zäsur von 1968 (S. 253). Krzysztof Ruchniewicz deutet auf aktuelle Verunsicherungen und Fragmentierungen polnischer Identitätspolitik. In der Diskussion verweist Ther auf transnationale Wechselwirkungen nationaler Erinnerungen (S. 270), während Sundhaussen eben dieses Konzept einheitlicher nationaler Erinnerung grundsätzlich in Frage stellt (S. 303). Mathias Beer streicht die diskursive Wechselwirkung zwischen den deutschen Erinnerungsdiskursen über NS-Verbrechen und Vertreibung heraus (S. 273).

Überhaupt ist die Dokumentation der Tagungsdiskussionen zu begrüßen, denn immer wieder stößt der Leser auf Interessantes: Adam Krzeminski billigt „irgendwie schon“ die Vertreibung der Deutschen nach 1945 als langfristige Friedenslösung (S. 279). Helga Hirsch berührt die biografische Nachwirkung von Tabuisierungen in der deutschen Vertriebenenintegration (S. 224, 268f.). Adanir datiert die „Idee eines geregelten Bevölkerungsaustausches“, die man gemeinhin erst mit der Konferenz von Lausanne 1923 in Verbindung bringt, auf San Stefano 1878 vor und zeigt, dass Deportationen nicht nur ethnischer Homogenisierung dienen konnten, sondern auch dem gegenteiligen Ziel ethnischer Durchmischung (S. 78). Der hier aufscheinende kategoriale Unterschied zwischen nationalistisch motivierter Vertreibung und imperial motivierter Deportation (der leider nicht weiter diskutiert wurde) lässt es fraglich erscheinen, ob man – wie Ther behauptet – „Deportationen gewissermaßen als Geschwisterkind von Vertreibungen ansehen kann“, mit dem einzigen Unterschied, „daß es eben nicht über staatliche Grenzen hinweggeht, sondern innerhalb eines Staates stattfindet“ (S. 168).

Abschließend bleibt festzuhalten: Der Tagungsband zur Frage, ob und wie man „Vertreibungen europäisch erinnern“ solle, bringt nicht nur etliche Einzelfall-Informationen für eine europäische Vertreibungsgeschichte im 20. Jahrhundert, sondern führt auch Chancen und Grenzen einer auf Europa und das „kurze“ 20. Jahrhundert beschränkten Deutungsperspektive klar vor Augen – je nach Standpunkt überzeugend oder enttäuschend. Grundsätzlich muss kritisiert werden, dass die für Erfahrungsbildung und Vergangenheitspolitik zentrale formative Phase im Tagungskonzept fast völlig unberücksichtigt geblieben ist – die des Vertriebenen-Lebens nach der Vertreibung. Insofern gilt auch für diesen Tagungsband: Die Ergebnisse bleiben Stückwerk, bieten aber etliche Anstöße zum Weiterdenken.

Ob die Darmstädter Tagung bei alledem ihrem erklärten – im abschließenden Podium 6 dominierenden – Ziel näher gekommen ist, dem schemenhaften Projekt eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen (mit Stoßrichtung gegen die vom Bund der Vertriebenen favorisierte Variante) etwas Leben einzuhauchen, darf angesichts der resümierten Vielfalt bezweifelt werden. Das schadet aber nichts, denn letztlich ging es um das, was der eigenwillige Historiker Karl Schlögel mitten im Diskutieren einmal bekennt: „Ich mußte das irgendwie sagen.“ (S. 167) So schön kann Wissenschaft sein.

Anmerkung:
1 Vgl. Bell-Fialkoff, Andrew, Ethnic Cleansing, New York 1996; neuerdings: Mann, Michael, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2004.

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