Titel
Die Kunst, die Welt zu sehen. Ausgewählte Schriften 1911-1936


Autor(en)
Woronski, A K.
Erschienen
Essen 2003: Arbeiterpresse
Anzahl Seiten
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rosalinde Sartorti, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Der mit der sowjetischen Literaturpolitik der 1920er-Jahre vertraute Leser kennt den Literaturkritiker Alexander Woronski (1884-1937) vor allem als Redakteur und Gründer von „Krasnaja Nov’“ („Rotes Neuland“), einer der bedeutendsten und einflussreichsten literarischen Zeitschriften, die von 1921-41 in Moskau herausgegeben wurde. Woronskis engagierter redaktioneller Arbeit bis 1927, als er unter dem Vorwurf des Trotzkismus aus der Redaktion entlassen und nach Sibirien verbannt wurde, war es in großem Maße zu verdanken, dass diese Periode sowjetischer Literaturgeschichte noch heute rückblickend als eine Blütezeit literarischer Produktion angesehen werden kann. Vor dem Hintergrund einer großen Vielfalt unterschiedlichster Stilrichtungen war diese Phase aber auch geprägt durch eine sich zunehmend verschärfende Debatte um die einer sozialistischen Gesellschaftsordnung adäquate Literatur. An dieser mit aller Härte geführten literaturpolitischen und literaturtheoretischen Auseinandersetzung war Alexander Woronski als überzeugter Marxist maßgeblich beteiligt.

Die im vorliegenden Band von dem amerikanischen Slawisten Frederick S. Choate (University of California, Davis) ausgewählten und zusammengestellten Texte, die hier erstmals in deutscher Sprache erscheinen, geben einen umfassenden Überblick über die Vielfalt der literaturkritischen, -theoretischen und literarisch-essayistischen Arbeiten Alexander Woronskis in seiner zweiten Lebenshälfte. Sie reichen von literarischen Porträts und Werkanalysen (Leo Tolstoi, Boris Pilnjak, Sigmund Freud), äußerst einfühlsamen Aufzeichnungen über die persönliche Begegnung mit einzelnen Schriftstellern, wie etwa mit Maxim Gorki, Nekrologe zu Dichtern (Jessenin) und Schrifstellern (Larissa Reissner), marxistischen Theoretikern (G.W. Plechanow) aber auch Politikern, wie z.B. zu Michail Frunse, dem ersten sowjetischen Kriegskommissar, über zahlreiche theoretische Aufsätze, von denen der wohl bekannteste, „Die Kunst, die Welt zu sehen“ (1928), der Ausgabe ihren Titel gab, bis hin zu Reden und bislang unveröffentlichten Briefen – so u.a. ein Bittschreiben Woronskis an das Politbüromitglied Ordzhonikidze aus dem Jahr 1930 – , die einen Einblick in die damals für viele lebens- und existenzbedrohende politische Situation und die innerparteilichen Kämpfe vermitteln, die auch vor der Literatur nicht Halt machten.

Woronski war ein Verteidiger des Realismus. Sein unermüdlicher Einsatz für eine realistische Literatur spricht denn auch – sprachgewaltig und sensibel – aus allen in diesem Band versammelten Texten. Woronski propagiert einen ästhetischen Realismus, der sich an einer „objektiven Schönheit der Dinge“ festmacht, die es für den Künstler auf der „Suche nach der künstlerischen Wahrheit“ zu entdecken gilt. Dabei misst sich „künstlerische Wahrheit“ für ihn allein an ästhetischen Kriterien. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen hat er mit dieser Position eine undogmatische Haltung eingenommen, einen Pluralismus in der Literatur favorisiert und den so genannten „Mitläufern“ oder „Weggenossen“ (poputciki) unter den Schriftstellern, d.h. all denjenigen, die nicht proletarischer Herkunft und keine Parteimitglieder waren, die er aber für „künstlerisch begabt“ hielt, eine Veröffentlichungsmöglichkeit geboten, weil er in ihren Werken „große Meisterschaft, Kunstverständnis, Können und Qualität“ sah (S. 149). Eben diese Merkmale waren es, die er bei den Vertretern der so genannten „proletarischen Literatur“, die sich ebenfalls als ‚Realisten’ verstanden, vermisste, so dass er sich mit dieser kritischen Einschätzung zwangsläufig zu deren Gegner machte und als solcher öffentlich angegriffen und bekämpft wurde. In der Auseinandersetzung um ein marxistisches Literaturkonzept hat er sich in seinen kritischen und theoretischen Schriften auch dezidiert gegen avantgardistisch-experimentelle Formen ausgesprochen, war aber gleichzeitig immer bemüht, zwischen den verschiedenen Lagern zu vermitteln. Er setzte dabei auf Überzeugungsarbeit durch die Kraft des Arguments, nicht auf politischen Druck oder erzwungene Anpassung an ein als allein gültig vorgegebenes Konzept.

Einer der bewegendsten und eindrücklichsten Beiträge ist in diesem Kontext zweifellos die 1926 in einem Sammelband der marxistischen Schriftstellervereinigung Pereval veröffentlichte Beschreibung der neuen „Kriecher und Speichellecker“ (so der Titel), in der Woronski eine vernichtende Kritik an den neuen ‚staatstreuen’ Pseudo-Schriftstellern übt, die zunehmend die literarische Produktion bestimmten (S. 275-279). Der Blick des Zeitgenossen macht hier besonders deutlich, dass die Situation der Künstler und Schriftsteller auch schon in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik einem Überlebenskampf glich und nicht erst, wie in der literaturhistorischen Periodisierung noch häufig angenommen, erst mit Beginn des 1. Fünfjahrplans ab 1928 einsetzte.

Seine Begeisterung, ja, sein leidenschaftliches Pathos für die Sache des Sozialismus, gepaart mit großer Offenheit und intellektueller Neugier, macht Woronski in den 1920er-Jahren unter den marxistischen Publizisten und Kritikern zu einer Ausnahmeerscheinung. Allerdings gingen seine Liberalität und aufgeklärte Haltung nicht weit genug, um so brisante zeitgenössische Themen, wie etwa die Frage der Sexualität, in ihrer politisch-sozialen Tragweite voll zu erfassen. Sowohl in seiner Analyse von Boris Pilnjaks Romanen wie auch der psychoanalytischen Schriften Sigmund Freuds (beide in diesem Band) zeigt Woronski eine klar ablehnende Haltung gegenüber der seines Erachtens „übermäßige[n] Betonung des Sexuellen“. Und in seinem über 30 Seiten umfassenden Beitrag zu Sigmund Freud kommt er letztlich zu dem Schluss, dass „Marxismus und die Lehre Freuds unvereinbar“ seien (S. 224). So zeigt sich der Marxist Woronski in seiner Ästhetik als ein am klassischen Erbe orientierter Konservativer, in seiner literaturpolitischen Haltung jedoch als ein Liberaler, was ihm spätestens 1937, als er verhaftet, verurteilt und hingerichtet wurde, zum Verhängnis werden sollte.

Die vorliegende Auswahl seiner Texte wird ergänzt durch einen mit großer Sorgfalt erstellten Anhang , der neben ausführlichen biografischen Anmerkungen zu insgesamt 138 Personen (von denen viele auch dem Spezialisten kaum bekannt sein dürften) ein Personen- und ein Sachregister enthält, ein Glossar der russischen Titel und Abkürzungen und sogar ein Verzeichnis der in den Texten erwähnten literarischen Werke und Gestalten. Darüber hinaus enthält der Anhang mehrere zeithistorische Dokumente (Parteitagserlasse zu Fragen der Literatur, Briefe, Reden führender Politiker), die dem Leser das Verständnis der historischen Situation der1920er Jahre erleichtern sollen. Die kurzen Einleitungen, die den chronologisch geordneten Texten vorangestellt sind, verfolgen mit ihren Angaben zum (literatur-) historischen und politischen Kontext des jeweiligen Erscheinungsjahres denselben Zweck, und sie sind –auch wenn man sich manches Mal mit einer trotzkistisch-kämpferischen Diktion auseinandersetzen muss – äußerst hilfreich. Dasselbe gilt für die zahlreichen Fotos (Porträtaufnahmen, Plakate, Titelblätter von Zeitschriften etc.), mit denen der Band illustriert ist.

Es handelt sich zweifellos um eine recht aufwendig gestaltete, man könnte sagen, geradezu liebevoll gemachte Edition, die selbst einem Leser, der sich bislang nicht mit dieser Epoche befasst hat, ein Verständnis für die historischen Bedingungen, die Tragweite der damaligen Debatten und damit auch einen Zugang zu den Texten Woronskis ermöglicht. Tatsächlich ist das Buch von Robert Maguire aus dem Jahr 1968, auf das auch Choate in seinem Vorwort verweist, bislang die einzige Arbeit, die sich ausführlich Woronski und der Geschichte seiner Zeitschrift gewidmet hat.

Gleichwohl fragt man sich natürlich, wer die Leser sein sollen, an die sich diese Ausgabe richtet, und was einen Verlag Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer so aufwendig edierten Textsammlung bewegt. Eine Antwort auf diese Frage findet sich in dem von Frederick Choate verfassten Vorwort, der dort seiner Hoffnung Ausdruck gibt, mit der Anthologie „die historischen Tatsachen zurechtzurücken“ (S. 23). Woronskis Texte werden hier u.a. ediert, weil seine literaturkritischen Konzeptionen „mit denen Trotzkis in allen wesentlichen Punkten übereinstimmen“(S. 14). So erklärt sich auch, dass im Anhang der Beitrag „Kultur und Sozialismus“ von Leo Trotzki abgedruckt ist, um eben diese Übereinstimmung zu dokumentieren.

Die Lektüre des Bandes kann den heutigen Leser durchaus wehmütig stimmen angesichts des Idealismus und des Glaubens an eine bessere und gerechtere Zukunft, des Vertrauens in die Bedeutung des Schriftstellers und die Kraft der Literatur bei der Schaffung dieser künftigen neuen Welt, von denen die Texte Woronskis getragen werden. Sie lassen eine Zeit wiedererstehen, in der die „großen Erzählungen“ noch intakt waren, d.h. auch der Marxismus mit all seinen Versprechen und Hoffnungen.

Zweifellos ist der Wert einer deutschen Ausgabe der Schriften Woronskis zuallererst ein historischer, da er Einblicke in eine Epoche des Umbruchs und des Suchens gewährt, die zuvor in dieser Konzentration ungekürzt und so ausführlich kommentiert selbst auf Russisch nicht vorgelegen haben. Die Debatte um den Realismus in der Literatur ist zwar schon Geschichte, ist aber für den westlichen Leser in erster Linie mit den Namen Georg Lukacs und Bertolt Brecht verknüpft. Tatsächlich aber nimmt Woronski in seinem Bekenntnis zum Realismus, seiner Verteidigung des literarischen Kunstwerks als erkenntnisförderndes Medium und seiner anti-avantgardistischen Haltung literaturtheoretische Positionen vorweg, wie sie später auch von Lukacs vertreten wurden.

Man mag nicht in jedem Fall die Erberezeption des Arbeiterpresse-Verlags in Essen teilen und auch nicht dessen Hoffnung, man könne mit der Publikation der literaturtheoretischen und literaturkritischen Schriften Woronskis einen Ausweg aufzeigen, der uns aus der gegenwärtigen „Krise künstlerischer Perspektiven“ herausführt (so zu lesen im Klappentext). Gleichwohl versammelt der Band eine so große Fülle an bisher unzugänglichem und hier mit größter Sorgfalt ediertem Quellenmaterial, das auch dem nicht russischsprachigen Leser die Geschichte dieses Zeitraums näher bringt, so dass die mit diesem Band geleistete Arbeit als höchst verdienstvoll bezeichnet werden muss.

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