K. Holl (Hg.): Lilo Linke: Tage der Unrast

Cover
Titel
Tage der Unrast. Von Berlin ins Exil: Ein deutsches Mädchenleben 1914-1933


Autor(en)
Linke, Lilo
Herausgeber
Holl, Karl
Reihe
Exil. Forschungen und Texte 1
Erschienen
Bremen 2005: Edition Lumière
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 22,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Lütgemeier-Davin, Arbeitskreises Historische Friedensforschung

Lilo Linke (1906-1963) wurde nach ihrem Exil aus dem nationalsozialistischen Deutschland im englischen Sprachraum vor allem durch ihren autobiografischen Schlüsselroman „Restless Flags“ und die Übersetzung von Wolfgang Langloffs Buch „Die Moorsoldaten“ eine geachtete Schriftstellerin. Über ihre spätere Wahlheimat Ecuador hinaus galt sie in Lateinamerika als sozial und kulturell engagierte Journalistin, die sich für Alphabetisierungskampagnen einsetzte. In Deutschland, dem Land ihrer Geburt, blieb sie jedoch lange Zeit unbekannt und unbeachtet. Zwar schrieb sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur für nordamerikanische und britische, sondern auch für niederländische und westdeutsche Zeitungen Reportagen; wirklich prominent und geschätzt als aufrichtige demokratische-antifaschistische Schriftstellerin wurde sie dadurch nicht. Alle ihre Bücher erschienen zu Lebzeiten in englischer Sprache; deutsche Übersetzungen existierten nicht. Insofern wurde sie 1933 doppelt vertrieben: aus politischen Gründen floh sie aus Deutschland; als deutsche Schriftstellerin im Ausland wurde sie von ihrem Heimatland nicht mehr wahrgenommen.

Der emeritierte Bremer Hochschullehrer Karl Holl war bereits vor nahezu zwanzig Jahren auf Lilo Linke gestoßen. Seine Forschungsinteressen (Pazifismus, Liberalismus, Demokraten im Exil) sowie sein politisches Engagement in der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP) führten ihn auch zu dieser ungewöhnlichen Frau. Einem kleinen Bremer Verlag, 1998 gegründet, ist es mit Unterstützung der Stiftung Presse-Haus Neue Ruhr-/Neue Rhein Zeitung (Essen) nun gelungen, eine frühe Autobiografie der Autorin, 1934 in London, 1935 in New York in englischer Sprache erschienen, erstmals in deutscher Übersetzung dem deutschen Lesepublikum bekannt zu machen und mit einem erhellenden Nachwort zu versehen, das sowohl das Werk als auch den Lebenslauf Lilo Linkes akribisch entschlüsselt.

Die Herausgabe des Buches kann als literarisch-journalistische Wiedergutmachung für eine Autorin gelten, die in Deutschland erst – verspätet – wieder entdeckt werden muss.

Das Buch, ursprünglich unter dem Titel „Restless Flags. A German Girl’s Story“ erschienen, ist in vielfacher Hinsicht ungewöhnlich. Geschrieben von einer achtundzwanzigjährigen Frau im Londoner Exil in der ihr vor kurzem noch ungewohnten englischen Sprache, ein Buch auf der Schwelle von Roman und Erlebnisbericht, von Erzählung und Autobiografie, eine Mischung aus persönlichen Erlebnissen, Einsichten, Bekenntnissen und einem politischen Bericht über die Zeit des Umbruchs vom Deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik, über eine Angestellte aus dem Mittelstand, die bürgerliche Wandervogelbewegung, das Engagement in der Deutschen Demokratischen Partei und in deren Jugendorganisation, die Gründung der Radikaldemokratischen Partei und den Übertritt zur Sozialdemokratie kurz vor der Reichskanzlerschaft Hitlers; über die soziale und die mentale Lage in der Zwischenkriegszeit, über Wahlkämpfe, Rivalitäten innerhalb der Jungdemokraten, über Antisemitismus, von dem auch der demokratische Liberalismus nicht verschont blieb, und den aufkeimenden, schließlich sieghaften Nationalsozialismus.

Das Buch sei, so Karl Holl, „ein einziger Akt der Selbsterklärung und Selbstbefreiung“ (S. 334), die ungewöhnliche Darstellung des Reifungsprozesses einer jungen Frau aus bürgerlich-nationalistischem Milieu, eine „éducation sentimentale“ (S. 325). Der Bericht kann als eine generalisierbare Erfahrung einer Generation junger Mädchen und Frauen gelesen werden, die sich von obrigkeitsstaatlichem Denken emanzipierten und sich zu den liberal-demokratischen Grundlagen einer ungefestigten Republik bekannten, sich von unklaren politischen Einstellungen in der Zeit der Novemberrevolution ausgehend - „Ich war immer noch zu jung, um zu verstehen.“ (S. 63) - nach politischer Orientierung suchten, dabei aber immer von demokratischen Prinzipien aus handelten und sich in die Parteiarbeit früh und idealistisch einbinden ließen, die Einvernahme des ehemals liberalen Bürgertums durch den Nationalsozialismus bitter beklagten und denen schließlich die berufliche Existenz in einem faschistischen Staat früh genommen wurde.

Ermuntert zu dieser frühen Rückschau auf ein unfertiges Leben, aber auch auf die Zerstörung eines Traums von einem demokratischen Gemeinwesen, wurde sie von ihrer Freundin Storm Jameson, damals Präsidentin des britischen P.E.N.-Clubs. Der Blick zurück war zugleich Rechtfertigung und Neuorientierung in den ersten schweren Monaten des Exils.

Gewiss, der politische Ich-Roman, in dem die Autorin an keiner Stelle mit ihrem eigenen Namen auftaucht, ist nicht bruchlos und ungeprüft als Primärquelle für die Zeit zwischen 1914 und 1933 zu lesen, wenngleich das Werk in zeithistorischen Seminaren im englischen Sprachraum mitunter so rezipiert wird. Die äußeren Ereignisse sind überdies bekannt. Worauf es ankommt, ist die Darstellung einer Mentalitätsentwicklung, die Bewusstwerdung eines Mädchens und einer jungen Frau, die sich früh von antidemokratischen-monarchisch-reaktionären Ressentiments gegen die Republik befreit und sich mit ihren begrenzten Mitteln für die Festigung der demokratischen Ordnung einsetzt. Das Buch gewährt subjektive Einblicke in die Welt der bürgerlichen Wandervogelbewegung, die Vorstellungswelt und die internen Machtkämpfe innerhalb der Jungdemokraten, in die Wahlkämpfe der unruhigen Weimarer Jahre, z.B. die persönlichen und politischen Rivalitäten zwischen den Liberalen Ernst Lemmer und Hans Kallmann. Es trifft das Stimmungskolorit des linksliberalen Weimarer Milieus besonders gut.

Das unverzichtbare, knapp zwanzigseitige Nachwort von Karl Holl sollte als Lesehilfe genutzt werden, bevor man das Werk selbst zur Hand nimmt.

Die Publikationsreihe „Exil – Forschungen und Texte“, in der siebzig Jahren nach dem Erstdruck das Buch Linkes in deutscher Übersetzung von Dorothea Hasbargen-Wilke als Band 1 erscheint, erhebt einen hohen Anspruch: Es ist ihr Ziel, „Leistungen und Erfahrungen der Exilantinnen und Exilanten als Teil der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts – nicht nur Deutschlands und Österreichs, sondern auch der Gastländer – dem heutigen Lesepublikum bewusst zu machen und in die Langzeitgeschichte wieder einzufügen“ (S. 2) – so die Herausgeberin Hélène Roussel, eine bedeutende Exilforscherin und Germanistin an der Pariser Sorbonne. Ob die Reihe diesen Anspruch erfüllt, wird wesentlich auch davon abhängen, welche weiteren Veröffentlichungen geplant sind. (Originaltexte und wissenschaftliche Untersuchungen sollen sich wohl abwechseln.) Ein guter Anfang jedenfalls ist gemacht.

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