Cover
Titel
Politics of Nature. How to bring the Sciences into Democracy


Autor(en)
Latour, Bruno
Erschienen
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
$24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nadine Jänicke, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Das Kolloquium, in dem ich das Buch Politics of Nature von Professor Latour kennen lernen durfte, brachte einmal mehr durch seinen interdisziplinären Ansatz eine bunte Mischung von Studenten zusammen. Mediziner, Soziologen und Literaturwissenschafter trafen sich zum Thema „Literatur und (Natur-)Wissenschaft“, um theoretische und methodische Schnittpunkte in ihren Forschungsarbeiten zu diskutieren. Unser erstes Ziel sahen wir darin, eine gemeinsame Sprache 1 zu etablieren, die diese Seminarreihe fruchtbar machen sollte. Den Einstieg in unseren interdisziplinären Diskussionsversuch fanden wir mit Latours Buch, das uns sogleich zeigte, mit welcher Virtuosität verschiedenes Spezialwissen zusammengefügt werden kann, und wie ungleich schwerer zugänglich ein interdisziplinärer Text durch seine fachwissenschaftliche Vielfalt wird. Nicht nur die Synthese von Termini, Konzepten und empirischen Daten aus Bereichen wie der Philosophie, Politologie und Biologie machen das Buch zu einer herausfordernden Leseerfahrung, sondern auch die Absicht des Autors, daraus einen neuen theoretischen Denkrahmen zu entwickeln, dessen ambitiöser Charakter Latour einen Platz in der Ahnenreihe französischer Intellektueller wie Foucault, Bourdieu und Derrida sichern dürfte. Manch anwendungsorientierter Wissenschaftler mag das Buch als theorielastig und die Argumentation durch die rhetorischen Kunstgriffe des Autors vertrackt empfinden. Deshalb ist auch das oftmalige Abschieben von Fallbeispielen, die Latours Ideen erst greifbar machen und seine Programmatik klarer werden lassen, in den Fußnotentext zu bedauern. Aber wenn Dolezel über Interdisziplinarität schreibt, sie sei „primarily the positing and testing of higher-order theoretical and conceptual systems that illuminate problems cutting across traditional disciplines” 2, dann erscheint Latours primäre Theoriearbeit als trendrichtig.

Sein utopischer Entwurf einer politischen Ökologie, in der sich Schildkröten, Viren und Regenwäldern ihr Existenzrecht verfassungsmäßig einklagen können, setzt sich aus Ideen des Parlamentarismus, des Kulturrelativismus und des Sozialkonstruktivismus zusammen. Weil Latour aber mit keiner Theorie so recht zufrieden ist, modifiziert er sie stark nach den Bedürfnissen seiner Utopie. So definiert er bekannte Binaritäten wie ‚subject/ object’, ‚fact/ value’, ‚essence/ habit’ um und erweitert Denkkategorien wie ‚nature’ oder ‚collective’ um die Dimension der eigenen Pluralität. Damit schweißt er schließlich seine politische Ökologie aus Begriffen und Prämissen der oben genannten Theorien zusammen und verhilft somit auch der Umweltpolitik zu einem spannenden Übergang von der Moderne zur Postmoderne. Natürlich ist sich der Autor einiger Widersprüche in dieser Theorievielfalt bewusst. Wie sich bspw. Pragmatismus, Realismus und Rationalismus mit konstruktivistischen und relativistischen Annahmen vereinbaren lassen, greift er geradeheraus auf und erklärt kritische Momente ausführlich, so dass man immerhin auch eine Antwort auf berechtigte Einwände zu diesem Theoriekonstrukt im Buch selbst finden kann.

Latour betrachtet seine politische Ökologie vor allem als Reaktion auf eine theoretisch undurchdachte und deshalb oftmals erfolglose Umweltpolitik grüner Bewegungen. Es ist zunächst die zentrale Rolle der Wissenschaft als Konstrukteur dessen, was wir unter Natur in der Umweltpolitik verstehen, die bisher unbeachtet blieb. Seine politische Ökologie hat zweitens daher nicht wirklich mit Natur zu tun und setzt drittens die Ausweitung des politischen Spielfeldes auf Naturobjekte voraus. Diese drei Hypothesen bilden den Ausgangspunkt für Latours Diskussion um ein neues Verhältnis von Wissenschaft, Natur und Politik, das grüne Bewegungen zum Erfolg führen soll, wenngleich er kaum darüber schreibt, wie ihre Umweltpolitik nach seiner Utopie konkret funktionierte. Die Arbeit sieht der Autor eben mehr darin‚ die Konzepte ‚Wissenschaft’, ‚Natur’ und ‚Politik’ mit philosophischem, soziologischem und anthropologischem Rüstzeug neu zu fassen. So kritisiert er die kategorische Trennung von Natur und Gesellschaft und hält es für sinnvoll, die soziale Welt als eine Assoziation von Mensch und Umwelt zu denken, die mit der Erforschung der Natur zunächst einmal Angebote erhält, was Teil ihrer Wirklichkeit werden kann. Deshalb haben wir es in der Politik auch nicht mit der Natur selbst zu tun, betont der Wissenschaftssoziologe. In den Labors der Forschungs- und Entwicklungszentren werden die Naturobjekte, sofern sie das Zusammenleben von Mensch und Umwelt problematisieren und zu umweltpolitischen Belangen werden, erst geschaffen bzw. wird dort ihre Relevanz für die soziale Welt konstituiert. Unter dem Einfluss soziologischer, psychologischer, ökonomischer und historischer Faktoren, die unsere Wissenschaften bestimmen, haben wir es letztlich mit einer Mehrzahl von Naturen zu tun, aus denen sich unsere Umwelt zusammensetzt.

Nun ist für Latour die Einigung auf eine gemeinsame Umwelt sowohl ein experimenteller als auch ein politischer Prozess. Zum einen lernen wir durch wiederholte Experimente, was ein umweltpolitisch kontroverses Phänomen ist und deshalb in unserer sozialen Welt gehandhabt werden muss, so dass Latour auch nicht länger vom Gesellschaftsvertrag reden möchte, sondern unsere ‚grüne Verantwortung’ auf einen ‚learning compact’ fußt. Zum anderen entwirft er die Parlamentarisierung unserer Natur, deren Bedeutung für die soziale Welt in einem Prozess von Debatten und Gesetzeserlassen entsteht. In Schritten der Problematisierung, Beratung, Bewertung und Festlegung werden von allen Aktanten, wie der Autor Menschen und Naturobjekte gleichermaßen als soziale Wesen definiert, sowohl deskriptive und normative Überlegungen artikuliert, die jedes kontroverse Phänomen auf sein Potential hin überprüfen, das Zusammenleben von Mensch und Umwelt zu verändern. Wenn sie dies zu einem relevanten Grad tun, erhalten sie ein Existenzrecht in der sozialen Welt und werden als umweltpolitische Belange angesehen. Dabei fällt auf, dass Ethik – nach Latour die Qualitätssicherung unseres Urteils darüber, was umweltpolitisch relevant ist für die soziale Welt – viel früher eingreift, als es momentan der Fall ist mit Ethikkommissionen, die erst tagen, wenn für Latour wissenschaftliche Kontroversen entschieden sind. Dagegen bringt seine Idee von parlamentarischen Diskussionen Menschen und Naturobjekte ins Gespräch, wenn sich Kontroversen zu entwickeln beginnen. An ihrer Konstituierung als umweltpolitische Belange und ihrer Handhabung in der sozialen Welt wirken alle Aktanten gleichberechtigt in Gremien, bestehend aus Wissenschaftlern, Politikern, Ökonomen und Ethikern, mit. Sofern die Wissenschaften dabei Fürsprecher von Naturobjekten sind, übernehmen sie neben ihrer konstruktivistischen Rolle in der Forschung auch eine repräsentative Funktion in der Umweltpolitik. Wissenschaftspolitik dagegen heißt für Latour, dass der Staat die Ergebnisse des Konstituierungsprozesses dokumentiert, verwaltet und bewertet sowie neue Diskussionen motiviert.

Wenn dies auch nur die Quintessenz dessen ist, was Latour meisterhaft und umfassend in seinem Theoriegebäude zum Ausdruck bringt, mag man seine politische Ökologie aus der eigenen Fachperspektive gelegentlich ungenau und widersprüchlich finden. Bei der Theorievielfalt muss man sich aber wohl am ehesten fragen, ob eine richtige Auswahl an Kategorien und Prämissen getroffen wurde, um den empirischen Belegen gerecht zu werden. Letztlich entscheidet über die Lebensfähigkeit dieser Theorie vor allem ihre Anwendbarkeit in der Umweltpolitik. Ob Latours Utopie Umweltpolitik grundlegend ändert und auf neue Wahrheiten aufmerksam macht, wird sich noch zeigen müssen. Jedenfalls führt Latours Buch auf beeindruckende Weise vor, wie sich geistes- und sozialwissenschaftliche Ideen mit naturwissenschaftlichen Daten zu einer Theorie verbinden lassen, die zu reichlich Diskussion anregt. Zwar erscheint das interdisziplinäre Gespräch dabei nicht leicht, jedoch wird deutlich, dass sich gemeinsam relevante Fragen, Probleme und Lösungen formulieren lassen. Es bleibt noch zu sagen, dass Latours Buch, in dem mit theoretischer Aufwendigkeit eine extravagante Idee verarbeitet wurde, dem Leser mit wenig Zeit nicht unerschlossen bleiben muss. Am Ende liefert uns der Autor eine Zusammenfassung der Kernargumente aller Kapitel.

Anmerkungen:
1 Damit meinte man einen „common ground“ zu finden, auf dem sich unterschiedliche Denkweisen und Herangehensweisen synchronisieren lassen und auf dem für alle Beteiligten Fragen, Probleme und Lösungen gleichermaßen formulierbar sind.
2 Dolezel, Lubomír, Possible Worlds of Fiction and History, in: New Literary History 29 (1998) 4, S. 785-809.

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