H. Kipp: "Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes"

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Titel
"Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes". Landstädtische Reformation und Rats-Konfessionalisierung in Wesel (1520-1600)


Autor(en)
Kipp, Herbert
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Rohmann, Abteilung für Geschichtswissenschaften, Universität Bielefeld

Reformation und Konfessionalisierung in einer großen Landstadt – kaum ein Thema verweist auf einen differenzierteren Forschungskontext: Wie verlief der Bekenntniswechsel vor Ort? Unter welchen politischen und gesellschaftlichen Gruppen und Instanzen wurde er ausgehandelt, und wie geschah dieser Aushandlungsprozess? Welche Wechselwirkungen hatte die Auseinandersetzung um Kirche und Konfession als „Leitkonflikt“ (Heinz Schilling) mit sozial-, verfassungs- und mentalitätsgeschichtlichen Bewegungen? Welche Folgen und Wirkungen hatte der Prozess der Konfessionalisierung? Kann man überhaupt von einem solchen sprechen?

Die im Wintersemester 2002/2003 von Herbert Kipp in Bonn eingereichte Dissertation knüpft vor allem an Diskussionen über eine Typologie der Reformation nach Sozialstruktur und Trägerinstanzen an. Dass städtische Reformationen in aller Regel durch ein Wechselspiel von Volk und Rat geprägt waren, ist dabei allerdings nicht neu. Ebensowenig neu ist die Beobachtung, dass nicht nur Reichsstädte eine eigenständige konfessionelle Entwicklung einschlagen konnten. Der vielbeklagte „Etatismus“ der Konfessionalisierungsforschung aber wird durch Kipps sehr schematische Terminologie auf die Spitze getrieben, wenn es etwa heißt: „Der Rat führt [...] einen Konfessionalisierungsprozess durch.“ (S. 15)

Dieser Prozess wird im Hauptteil aus den verschiedensten Perspektiven nachgezeichnet: von Herzog und Hof, von Rat, Schulwesen, Buchhandel, Klerus bzw. Predigern und Bruderschaften, Seelsorge und Kultus, geistlichen Gemeinschaften und schließlich konfessionellen Gruppen allgemein. Reiche Erträge hat die Archivarbeit gebracht! Doch leider: Kapitel für Kapitel werden sie streng chronologisch nacherzählt, ohne den Anspruch einer weiter reichenden Analyse. Die Teilergebnisse werden eher kumuliert als synthetisiert. So systematisch diese Gliederung zunächst erscheint, so schwierig macht sie dem Leser die Lektüre. Entscheidende Informationen werden vielfach einfach vorausgesetzt und dann an ganz anderer Stelle oder gar nicht bereitgestellt.

Im Anschluss an eine „landstädtische Reformation“, so die Hauptthese, habe es in Wesel eine „Rats-Konfessionalisierung“ gegeben (S. 422, 427): Während der sukzessive Übergang zum Luthertum bis 1561 im Wechselspiel zwischen einem stetig wachsenden Teil der Gemeinde, dem Rat und dem Klerus bzw. den Predigern erfolgt sei, habe der Rat anschließend – allenfalls in Abstimmung mit den Predigern – den (Krypto-)Calvinismus administrativ selbständig durchgesetzt. Die theologischen Differenzen hätten sich, so Kipp, den Laien weitgehend nicht erschlossen, so dass ihnen die zweite Reformation gar nicht recht bewusst geworden sei.

Nun zeigten sich die Bürger in der ersten Jahrhunderthälfte aber durchaus aufmerksam für derartige Fragen, die ja immerhin ihr Seelenheil betrafen. Auch hatte sich etwa altgläubiger Widerstand in den Vorstädten in dieser Phase auffällig mit dem Kampf um das Wahlrecht für deren Bewohner verschränkt – eine Verbindung von katholischem Bekenntnis und gemeindlichem Partizipationsanspruch also. Was ist, auf der anderen Seite, überhaupt „der Rat“? Das Weseler Wahlrecht, wie Kipp es beschreibt, bot zumindest den Einwohnern der Altstadt über die „Gemeinsfreunde“ ein vergleichsweise hohes Maß an Einflussnahme auf die Besetzung und die Politik des Rates. Ein Gremium, das andernorts längst als Obrigkeit auftrat, funktionierte demnach hier noch wesentlich stärker als Repräsentation der Gemeinde zumindest eines Stadtteils – unbeschadet der Existenz ratsnaher Eliten, die die Repräsentationsfunktion für sich beanspruchten. Der Rat war daher sozial, politisch und konfessionell alles andere als homogen, sondern vielmehr ein sehr bewegliches Abbild der Konflikte in der Stadt. Kipps Material legt die Vermutung nahe, dass gerade deshalb (und vor dem Hintergrund der landesherrlichen Hinhaltepolitik) die konfessionelle Entwicklung Wesels bis 1612 ein dauernder Prozess der Aushandlung, des Taktierens, des Positionskampfes war. So konnte sich im Schutz der reichsrechtlich vorgegebenen „Confessio Augustana“ nur langsam ein reformiertes Mehrheitsbekenntnis durchsetzen, während konfessionelle Dissidenten aus Rat und Stadtgesellschaft ausgegrenzt wurden. Dies dürfte den (wahlberechtigten!) Einwohnern angesichts der erbitterten Diskussionen kaum entgangen sein. Freilich setzten Interessengruppen in der Gemeinde ihre Vorstellungen nun nicht mehr im Ausnahmezustand der Reformationszeit durch, sondern auf dem Instanzenweg der Ratsverfassung.

Die Konfessionalisierung in Wesel wird freilich nicht allein aus der von Kipp präzise erläuterten Verfassungs- und Sozialgeschichte der Stadt verständlich. Sie müsste eingebettet werden in die konfessionelle und territoriale Entwicklung in Nordwestdeutschland. Dies versäumt der Autor. LeserInnen, die sich nicht über Jahre mit dem Niederrhein im 17. Jahrhundert befasst haben, müssen sich nicht nur über die Konflikte in den spanischen Niederlanden oder über die Ausbreitung des reformierten Bekenntnisses im Reich anderwärts informieren, sondern auch über die Geschichte der Reformation im Erzbistum Köln, dem man in Wesel durch die Person Hermanns von Wiedt einen entscheidenden Stichwortgeber verdankte. Über alles, was über den Mikrokosmos der Stadt hinausgeht – selbst über die in Wesel tagende „Klever Classis“, die Vereinigung der reformierten Gemeinden des Herzogtums – erfährt man nur aus verstreuten Fußnoten. So kann man aber die theologische Entwicklung unter den Predigern Wesels, die Aneignung der Kirchenhoheit durch den Rat oder den kaum zu überschätzenden Einfluss der wallonischen, englischen und niederländischen Immigranten auf die konfessionelle Entwicklung nicht adäquat verstehen.

Das vorliegende Buch ist dem Vorwort zufolge das Produkt eines „Doktorandendezenniums“ (S. 9), mit allen Stärken und allen Schwächen, die solche Langzeitarbeiten auszeichnen können. Einer nur durch langjährige Archivarbeit möglichen umfassenden Quellenkenntnis steht eine oberflächliche Einbettung in den weiteren historischen wie wissenschaftlichen Kontext, vor allem aber eine unzulängliche argumentative Durchdringung der Ergebnisse gegenüber. Zur Kirchengeschichte Wesels im 17. Jahrhundert liegt eine mutmaßlich erschöpfende Materialsammlung vor. Einer echten Geschichte der Konfessionalisierung der Stadt aber kommt man vielleicht schon näher, wenn man die Abschnitte des dritten Hauptkapitels des Buches in einer umgekehrten Reihenfolge liest. Dadurch erführe man zunächst von der Entwicklung der konfessionellen Gruppen und erst dann von den politischen und institutionellen Details. Dann jedoch zeichnet sich ein Fallbeispiel ab, dass die Forschung nachhaltig beeinflussen könnte: Das einer stark bürgerschaftlich-genossenschaftlich geprägten Hanse- und Fernhandelsstadt im Spannungsfeld äußerer Einflüsse, in der „erste“ und „zweite Reformation“ in einem beinahe neunzigjährigen sukzessiven Prozess der Konfessionalisierung aufgehen.

Ein tabellarisches Verzeichnis aller in Wesel nachweisbaren Täufer und Täufersympathisanten beschließt das Werk; eine Prosopografie der Einwanderung aus England und den spanischen Niederlanden soll an anderer Stelle veröffentlicht werden.

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