R. Makarska u.a. (Hgg.): Die Ukraine, Polen und Europa

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Titel
Die Ukraine, Polen und Europa. Europäische Identität an der neuen EU-Ostgrenze


Herausgeber
Makarska, Renata; Kerski, Basil
Reihe
Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft 3
Erschienen
Osnabrück 2004: fibre Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 19,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Franke, Leipzig

Die Ukraine ist seit der Osterweiterung der Europäischen Union, spätestens jedoch nach den Präsidentschaftswahlen des Landes Ende 2004 und der von dort ausgehenden so genannten Orangenen Revolution ein Thema öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten westeuropäischer Gesellschaften. Die Westgrenze des zweitgrößten Flächenstaates des geografischen Europas wurde zu einem wichtigen Abschnitt der neuen Ostgrenze der Europäischen Union. Ukrainische Geschichte, Politik und Kultur gehörten bis dato zu den Themen einiger Osteuropaspezialisten in den Sozial- und Geisteswissenschaften, zunehmend aber gewinnt die Problematik der neuen EU-Ostgrenze und der neuen Nachbarstaaten an Konjunktur. 1 Die offizielle EU-Politik reagierte relativ spät mit ihrem „Concept for a Wider Europe“ auf die Problematik der neuen Nachbarschaft. 2 Die terra incognita der Ukraine für eine breitere akademische Öffentlichkeit auszuleuchten, ist Anliegen des von Renata Makarska und Basil Kerski herausgegebenen Bandes „Die Ukraine, Polen und Europa“.

Die deutsch-polnische Herausgeberschaft des Bandes spiegelt neuralgische Punkte europäischer Betroffenheiten wider. Die polnisch-ukrainische Geschichte ist seit Jahrhunderten miteinander verwoben, das 20. Jahrhundert hat vor allem mit Ereignissen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges schwere Hypotheken für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern hinterlassen. Die politische Wende 1989/90/91 und die Erweiterung der Europäischen Union haben dieses Verhältnis unter neue Vorzeichen gestellt: die im sowjetischen Machtbereich geschlossene Grenze wurde durchlässiger, eine offizielle Versöhnungspolitik in Gang gesetzt, die polnische Regierung agiert als tatkräftiger Anwalt ukrainischer Belange innerhalb der EU. In der Bundesrepublik wiederum lebt die größte Gruppe der ukrainischen Diaspora, das politische Schwergewicht Deutschlands in der Europäischen Union und gegenüber Russland stellt die deutsche Politik und Gesellschaft vor ganz besondere Verantwortlichkeiten gegenüber der Ukraine.

Die Herausgeber ergreifen, in ihrem Vorwort und den Texten des Anhangs, aber auch in der Auswahl der Beiträge und Autoren, Partei für eine „europäische“ Ukraine. Die Frage nach dem Verhältnis der Ukraine zu Europa im Titel verweist bereits auf die Wahrnehmung der Ukraine als europäisches Land mit der impliziten Erwartung, dass sie sich diesem Modell annähern wird. Der Band zeigt Schwierigkeiten auf diesem Weg auf, wobei es vor allem als eine Frage der Zeit und der anzuwendenden Strategien dargestellt wird, wann und wie die Ukraine wieder zu „Europa“ gehören wird (S. 7, 87). Der thematische Schwerpunkt liegt auf Problemen der Transformationen, der strategischen Position der Ukraine zwischen Russland und der Europäischen Union, den ukrainischen Identitäts- und geschichtspolitischen Debatten sowie ausgewählten literarischen und regionalen Diskursen.

Der Band versammelt Beiträge polnischer, ukrainischer sowie deutscher Wissenschaftler und Publizisten, die ungefähr paritätisch vertreten sind, und sehr unterschiedlichen Charakter tragen: wissenschaftliche Analysen finden sich neben Essays eher publizistischen Charakters, nüchterne Untersuchungen neben subjektiven Stellungnahmen. Einige Beiträge sind Nachdrucke, der Essay von Bogusaw Bakua ist im selben Jahr noch einmal im Heft Nr. 7 der Zeitschrift Osteuropa abgedruckt worden. Unter den Autoren finden sich Literatur- und Sprachwissenschaftler, Politikwissenschaftler und Historiker. Die ukrainischen Autoren entstammen in ihrer Gesamtheit einer eher prowestlichen intellektuellen Elite, die nur zum Teil als repräsentativ für innerukrainische gesellschaftliche Diskurse gelten kann. Stimmen aus der prorussischen, der so genannten zweiten Ukraine, die die Frage nach der europäischen Identität der Ukraine aus einer anderen Richtung her betrachten würden, fehlen gänzlich. Dies schmälert den Gewinn dieses Bandes, ist aber möglicherweise auch der mangelnden Dialogfreudigkeit jener ostukrainischer Intellektueller geschuldet.

Der Wert dieses Bandes resultiert nicht nur aus der Qualität der einzelnen Beiträge, sondern vor allem aus der Art ihrer Zusammenstellung und wechselseitigen Bezüglichkeit. Einige Beiträge sind implizit miteinander verknüpft und verweisen aufeinander (z.B. die Beiträge von Hinatuk, Riabtschuk, Hrycak und Wosnjak oder jene von Woldan, Andruchowytsch, Przybylski und Ziwkatsch), einige Autoren des Bandes, wie Andruchowytsch und Riabtschuk, sind selbst Thema in anderen Beiträgen. Ein solches Herangehen kann nur fruchtbar genannt werden, da es dem Leser kein vorgefertigtes Bild präsentiert, sondern ihn dazu herausfordert, die Zusammenführung und Interpretation selbst zu leisten.

Das Ukraine-Bild, das im Band entfaltet wird, ist von zwei Mustern gekennzeichnet: erstens von dem Bild der ukrainische Geschichte als einer der Fremdherrschaft und Unterdrückung, und zweitens von der Darstellung eines heterogenen und unkonsolidierten Staates, der seit 1991 als unabhängige Entität besteht. Ein Konsens über die ukrainische Identität scheint nicht zu existieren, jedoch wird die Vorstellung der in einen Osten und einen Westen gespaltenen Ukraine ausdifferenziert in einem Szenario vielfach gebrochener Identitäten, in der sich osteuropäische und westeuropäische, polnische, russische und ukrainische Traditionen überlagern, sich soziale und politische Schichtungen mit politisch-kulturellen und mentalitätsspezifischen Unterschieden verschränken. Dies hebt den Band wohltuend von der Rhetorik der gespaltenen Ukraine ab, die aktuell für den Westen die Chiffre Juschtschenko vs. Janukowitsch gefunden hat.

Der Charakter des Buches als Einführung in die Problematik verdeutlicht sich in einem nützlichen Anhang. Dort findet der Leser eine Zeittafel zur ukrainischen Geschichte, die 1917 beginnt, ein Lexikon zur ukrainischen Geschichte, das Ereignisse und Personen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert enthält, sowie einen kurzen historischen Abriss, der mit der Antike einsetzt. Materialien wie diese erleichtern das Verständnis einiger Beiträge, die eine gewisse Vertrautheit mit der ukrainischen Problematik voraussetzen (u.a. jene über die über Wolhynien-Debatte von Hrycak und Berdychowska). Dabei fällt jedoch auf, dass die Geschichte der sowjetischen Ukraine zwischen den 1950er bis 1960er-Jahren stark reduziert ist: sowohl beim historischen Abriss als auch bei der sonst jahresweise fortschreitenden Zeittafel klafft in dieser Zeit ein Lücke.

Betrachtet man die einzelnen Beiträge genauer, werden eine Vielzahl von Aspekten der ukrainischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte deutlich. In den Beiträgen von Rainer Lindner, Kai-Olaf Lang und Basil Kerski, die den ersten Teil des Buches eröffnen, nehmen Beobachter von außen die politische Situation der Ukraine zwischen Ost und West in den Blick. Lindner beschreibt die Ukraine in einem Schwebezustand und hebt vor allem auf die wirtschaftliche und energiepolitische Transformation des Landes ab. Die These von der „Energetisierung“ der internationalen Beziehungen (S. 24) am Beispiel der Ukraine, in der europäische, russische und amerikanische Interessen miteinander konkurrieren, eröffnet eine wichtige Perspektive für die politische Analyse der Situation. Lang analysiert eine Reihe von Problemfeldern des polnisch-ukrainischen Verhältnisses: Wirtschaft und Handel, Energie, Sicherheits- und Außenpolitik, kulturelle und historische Paradigmen und politische Kultur, insbesondere vor dem Kontext der EU-Osterweiterung, ohne in die Warnungen vor einem neuen Eisernen Vorhang einzustimmen. Dabei stützt er sich allerdings vor allem auf polnische Quellen, und räumt damit implizit dieser Perspektive einen Vorrang ein. Kerski zielt in seinem Essay vor allem auf die zivilgesellschaftliche Dimension des polnisch-ukrainischen Verhältnisses und entfaltet ein Erfolgsnarrativ für die Entwicklung dieser Beziehungen seit 1991, wobei er einige noch immer bestehende Schwierigkeiten einräumt – wie z.B. das Wohlstandsgefälle zwischen beiden Staaten, die auseinander laufende politische Entwicklung und Überreste nationalistischer Stereotype. Er stellt die Entwicklung der polnisch-ukrainischen Beziehungen in den Kontext einer größeren europäischen Entwicklung und weist auf den Modellcharakter der deutsch-polnischen Beziehungen hin.

Die folgenden Beiträge von Taras Wosnjak, Ola Hniatuk und Mykola Riabtschuk präsentieren drei unterschiedliche Herangehensweisen an ukrainische Identitätsdebatten, die auf die Frage „Ost oder West?“ konzentriert werden. Die polnische Ukrainistin Hniatuk rekonstruiert zwei dominierende Muster dieser Identitätsdebatten in ihren Variationen: Den Topos der Ost-West-Verortung bzw. den des „Dazwischen-Seins“ (S. 92) und den Topos von der innerlich gespaltenen, verdoppelten Ukraine. Sie stellt Protagonisten und Foren dieser Auseinandersetzung vor, u.a. Mykola Riabtschuk, Taras Wosnjak und Jaroslaw Hrycak, die selbst als Autoren in diesem Band vertreten sind. Hniatuk vermag auch im Vergleich mit der Entwicklung des regional ausdifferenzierten Mitteleuropa-Diskurses und dessen Entwicklung zu zeigen, welche Wirkungsweisen und Kontexte die rekonstruierten Argumentationen jeweils besitzen. So stellt ihr Beitrag indirekt eine Folie für andere Beiträge des Bandes dar. Wosnjak plädiert in seinem Essay, das bereits in der Zeitschrift Ji erschien, für eine zivilgesellschaftliche Stärkung der Ukraine. Er identifiziert den Mangel einer integralen nationalen Identität in der Ukraine als wesentliches Hindernis für die Entwicklung einer starken Demokratie im Land. Riabtschuk schließt sich der Interdependenz von Demokratie und nationaler Identität an und identifiziert die Rede von der gespaltenen Ukraine als ideologisches Instrumentarium der Nomenklatura zur Herrschaftssicherung.

Nach einem Beitrag von Alexander Kratochvil und Walerij Mokienko über die Geschichte der Sprachpolitik in der Ukraine, widmen sich die polnische Ukraine-Expertin Bogumia Berdychowska und der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrycak der so genannten Wolhynien-Debatte. Dieser ukrainische Historikerstreit hat den Terror der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in den 1940er-Jahre gegen die polnische Zivilbevölkerung in Wolhynien und Galizien und den historischen Kontext dieser Aktionen zum Gegenstand. Hrycak stellt jene Auseinandersetzung in den Kontext der postsowjetischen ukrainischen Historiografie und beklagt den exklusiven Charakter des Diskurses, der bei weitem noch nicht zu einer öffentlichen Auseinandersetzung in der ukrainischen Gesellschaft geworden sei. Dabei positioniert er sich einerseits gegen einen gewissen Paternalismus seitens der polnischen Historikerschaft und andererseits gegen eine nationale, für eine kritische Deutung der Ereignisse in Wolhynien. Die polnische Perspektive ist durch Berdychowska vertreten, die den politischen Kontext der Debatte sowie einige Schlüsselbegriffe betrachtet. Sie zieht Parallelen zur polnischen Diskussion um die „Aktion Weichsel“, bei der 1947 die ukrainische Bevölkerung aus dem neuen Südostpolen aus- und zersiedelt wurde. Auffällig ist hier die Gegeneinanderstellung von aufgearbeiteter polnischer Geschichte und unaufgearbeiteter ukrainischer Geschichte. Die dabei mitschwingende latente Hierarchisierung ist jene, gegen die sich Hrycak verwahrt. Hier zeigt sich einmal mehr die Stärke des Bandes, verschiedene Perspektiven gleichberechtigt zusammen zu stellen und so dem Leser ein differenziertes Bild der Diskussion zu eröffnen.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Kultur und Literatur der Ukraine in ihren Beziehungen zu Polen im Zentrum. Die Beiträge von Bohdan Osadczuk und Andrzej Stanisaw Kowalczyk betrachten die polnisch-ukrainischen Beziehungen anhand zweier Protagonisten dieses Feldes, dem Kultura-Herausgeber Jerzy Giedroyc und dem Schriftsteller und Publizisten, Jerzy Stempowski, einem Weggefährten Giedroyc’. Die literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträge in diesem Teil widmen sich ebenfalls dem polnisch-ukrainischen Austausch, wobei der Aufsatz des deutschen Literaturwissenschaftlers Wolfgang Schlott die literarische Entwicklung in der Ukraine zwischen 1920 und 1970 in den Blick nimmt. Eine Schwierigkeit der Untersuchung von Schlott ist seine Parallelisierung poetologischer und politischer Maßstäbe. Literarisch wertvoll und wichtig sind für seine Bewertung jene Texte, die als oppositionell und westorientiert profiliert erscheinen. Dieses Muster kennt die deutsche Literaturdebatte aus dem deutsch-deutschen Literaturstreit um Christa Wolfs „Was bleibt?“, in der sich das Problematische an der Vermischung poetologischer und politischer Maßstäbe gezeigt hatte. 3

Differenzierter und von großer Werkkenntnis gekennzeichnet untersucht der Beitrag des deutschen Literaturwissenschaftler Alois Woldan die literarische Konstruktion regionaler Identität bei Andrzej Stasiuk und Jury Andruchowytsch. Anhand zentraler Texte erhellt Woldan die dominanten Verfahren der beiden Schriftsteller, ihre „persönliche Geografie“ (S. 246) als Kritik und Verunsicherung herrschender Raumdiskurse und -mytholgisierungen zu entfalten. Damit ist eine zentrale Region für die Konstruktion des polnisch-ukrainischen Verhältnisses angesprochen: Galizien und Wolhynien. Die an die literaturwissenschaftliche Analyse anschließenden Essays zu Lemberg, Stanislau und der Grenzproblematik von Jurij Andruchowytsch, Ryszard K. Prszybylski und Olha Ziwkatsch eröffnen weitere Perspektiven auf die Frage nach der regionalen Identität. So erfüllt der Aufsatz von Woldan im zweiten Teil des Bandes eine ähnliche Funktion wie der Aufsatz von Hniatuk im ersten Teil, ohne dass eine Hierarchisierung der Beiträge erkennbar wird.

Besonders bei der Thematisierung Galiziens als Raum und kultureller Topos sticht allerdings die Marginalität der jüdischen Bevölkerung als prägende Gruppe auch für das polnisch-ukrainische Wechselverhältnis in diesem Band ins Auge. Lediglich Olha Ziwkatsch nimmt in ihrem Beitrag die Verflechtung zwischen polnischen, ukrainischen und jüdischen Bewohnern am Beispiel von Stanislau mit in den Blick.

Das Collage-Verfahren des Bandes, sein grundsätzlich einführender Charakter und der Versuch eines differenzierten Blickes auf die ukrainische Geschichte, Gesellschaft und Kultur sowie deren europäische Dimensionen machen das Unternehmen trotz der beschriebenen Schwierigkeiten zu einem wertvollen Buch. Die ausgeworfenen Fäden können nun aufgenommen und weitergesponnen werden.

Anmerkungen:
1 Darunter u.a.: Kempe, Iris, Direkte Nachbarschaft, Gütersloh 1998; Haase, Annegret; Wust, Andreas; Knappe, Elke; Grimm, Frank-Dieter, Wandel in ostmitteleuropäischen Grenzregionen, Leipzig 2004; Jordan, Peter; Klemencic, Mladen (Hgg.), Transcarpathia – Bridgehead or Periphery, Frankfurt am Main 2004; Tereshchenko, Volodymyr, Evolution der politischen Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU 1991-2004, Frankfurt am Main 2005; Piehl, Ernst; Schulze, Peter W.; Timmermann, Heinz, Die offene Flanke der Europäischen Union. Russische Föderation, Belarus, Ukraine und Moldau, Berlin 2005; Bock, Manfred; Schünemann, Siegfried (Hgg.), Die Ukraine in der europäischen Sicherheitsarchitektur, Baden-Baden 1997; sowie das Heft 1/2005 der Zeitschrift Osteuropa.
2 Informationen zur neuen Nachbarschaftspolitik der EU finden sich unter: http://europa.eu.int/comm/world/enp/index_en.htm;
3 vgl. Anz, Thomas (Hg.), „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991.

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