D. Kalifa: Crime et culture au XIXe siècle

Cover
Titel
Crime et culture au XIXe siècle.


Autor(en)
Kalifa, Dominique
Erschienen
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Siemens, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dominique Kalifa, Geschichtsprofessor an der Pariser Sorbonne, ist seit über einem Jahrzehnt einer der profiliertesten Kriminalitäts-Historiker Frankreichs. Seit seiner Dissertation beschäftigt sich Kalifa dabei insbesondere mit dem 19. Jahrhundert.1 Auch sein neues Buch ist in diesem zeitlichen Rahmen angesiedelt und bietet eine Art „Best of“ von Kalifas Aufsätzen der letzten Jahre.

In der knappen Einleitung macht Kalifa deutlich, dass er Kriminalitätsgeschichte als Teil einer umfassenden Kulturgeschichte versteht. Ihm geht es vor allem um die „kulturelle Konstruktion von Kriminalität“ (S. 13), die er in ihren verschiedenen Repräsentationen in Büchern, Tageszeitungen, Fotografien oder Polizeiakten untersucht. Erst in diesen Repräsentationen werde das Phänomen Kriminalität in seiner Bedeutung für das 19. Jahrhundert fassbar, einem Jahrhundert, das – so der Autor – „von Kriminalität geradezu besessen war“ (S. 9).

Die folgenden Kapitel sind drei Oberthemen zugeordnet. Die Kapitel des ersten Abschnitts beschäftigen sich nach einem einführenden Aufsatz zur Topografie der Kriminalität in Paris mit einzelnen Erscheinungsformen und Trägern von Kriminalität. Dazu zählten nicht nur die Straftäter selbst, wie Kalifa am Beispiel der jugendlichen „Outlaws“ an der Pariser Peripherie detailliert zeigt, sondern auch die Kriminalbeamten, die durch die Publikation von Erinnerungen und Erlebnisberichten maßgeblich an der Sichtbarmachung bzw. auch Erfindung bestimmter Kriminellentypen mitwirkten. Kalifas Thema sind dabei immer wieder die vermittelten Kriminalitätsbilder und die daran beteiligten Akteure, ein Abgleich mit der tatsächlich messbaren kriminellen „Realität“ hingegen wird nur in Ausnahmefällen vorgenommen und auf theoretischer Ebene komplett verworfen (S. 155).

Der zweite Abschnitt geht in methodischer Hinsicht noch einen Schritt weiter, wenn der Autor anhand der Kriminalitätsmuster, wie sie im zeitgenössischen Kriminalroman oder den „Faits divers“ inszeniert wurden, nach der Relevanz solcher Muster für die sich etablierende Massenkultur fragt. Der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt eindeutig auf der für die französische Presse charakteristischen Gattung der Faits divers (entspricht in etwa der „human interest story“), deren Potential als kulturgeschichtliche Quelle in den letzten Jahren auch von anderen Autoren herausgearbeitet wurde.2 Gleich zwei Kapitel beschäftigen sich mit solchen "bunten Meldungen" im Krieg, wobei der Bezug zum Oberthema des Buches nicht unmittelbar erkennbar ist. Kalifa zeigt hier, dass solche Themen im Kriegsfall problemlos umfunktioniert wurden. In erstaunlicher Homogenität verschrieben sich die Zeitungen der „nationalen Sache“ und schränkten den Abdruck von Faits divers radikal ein (so insbesondere 1870/71) oder benutzten sie gezielt als Propagandamittel (während des 1. Weltkriegs). Der alltägliche Kriminalitätsdiskurs konnte also im Ausnahmefall ausgesetzt bzw. modifiziert werden, wobei leider nicht deutlich wird, ob – und wenn ja in welchem Maße – Stereotype des „Kriminellen“ in diesem Fall auf den Feind in der militärischen und politischen Auseinandersetzung übertragen wurden.

Im dritten Abschnitt geht es Kalifa um die Konsequenzen, die aus der konstatierten vermeintlichen Omnipräsenz der Kriminalitätsbilder resultierten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konkretisierte sich das subjektive Bedrohungspotential im Gedanken der „defense social“, die sich gegen einen neuen Typus des Kriminellen richtete, wie ihn die aus Italien kommende Kriminalanthropologie auch im Frankreich der Jahrhundertwende auszumachen glaubte. Dieser neue Kriminelle war per se gefährlich, wobei das Kriterium der „dangerosité“ recht schnell auch auf die Alltagskriminalität übertragen wurde (S. 268). Als Folge forderte insbesondere das Bürgertum repressive staatliche Maßnahmen und begründete dies mit der zunehmenden Gefährlichkeit des alltäglichen Lebens, insbesondere in den Großstädten. Wie Kalifa am Beispiel der „nächtlichen Attacken aus dem Hinterhalt“ zeigt, musste dieses Bedrohungsgefühl keineswegs mit der statistisch messbaren Kriminalität übereinstimmen. Während in den Tageszeitungen beinahe täglich von solchen Angriffen zu lesen war, zeigt ein Blick in die Polizeiunterklagen, dass solche Übergriffe in der Realität kaum vorkamen, zumindest nur selten angezeigt wurden (S. 245-255). Obwohl diese Deliktsform also eher eine Ausnahme darstellte, wurde sie im Spiegel der medialen Vermittlung „gewöhnlich“ und konnte über diesen Normalisierungsdiskurs für den Einzelnen erklärbar und einschätzbar werden.

Insgesamt ist „Crime et culture au XIXe siècle” ein unterhaltsames und stellenweise humorvoll-pointiert formuliertes Buch, das sich auch als Nachschlagewerk eignet, um die wichtigsten Themen und Thesen der französischen Kriminalitätsforschung zum 19. und frühen 20. Jahrhundert auf einen Blick nachvollziehen zu können. Kalifa überzeugt dabei immer dann, wenn er den engen Rahmen der Einzelstudien verlässt und die gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalität als diskursives Ereignis herausarbeitet. Indem er fiktionale und journalistische Texte vorrangig vor den “traditionellen” Quellen wie Polizeibericht und Justizakten berücksichtigt, gelingt es ihm überzeugend, die sich wandelnden Kriminalitätsvorstellungen mit der Kulturgeschichte Frankreichs zu verweben.

Wirklich neue (Groß-)Thesen enthält das Buch aber nicht. Die Einzelergebnisse bewegen sich allesamt in dem Rahmen und auf den Forschungsfeldern, die in der historischen Kriminalitätsforschung in den letzten Jahren nicht nur für Frankreich bevorzugt untersucht wurden. Deshalb ist der weitgehende Verzicht auf eine europäische Perspektive, oder zumindest auf punktuelle Hinweise vergleichbarer Prozesse in England, Italien oder Deutschland umso bedauerlicher. So bleibt z.B. unklar, inwieweit die in den ersten Kapiteln detailliert ausgebreitete Pariser Topografie der Kriminalität eine genuin französische Entwicklung war, oder ob bestimmte Muster der Segregation und der “Bewältigung” von Kriminalität in der französischen Hauptstadt auch typisch für andere europäische oder nordamerikanische Metropolen waren. Auch ein stärkeres Einbeziehen der zeitgenössischen “wissenschaftlichen” Debatten zu Ursachen und Erscheinungsformen von Kriminalität fehlt leider weitestgehend – sieht man einmal vom 12. Kapitel ab.3

Resümierend macht Kalifa drei Hauptstränge aus, mit der die Zeitgenossen auf das Phänomen Kriminalität reagierten. Neben einem Vorgehen, das eine Balance zwischen staatlicher Repression und Prävention in den Mittelpunkt stellte, führte die intensive Beschäftigung mit der “Kriminalität” auch zu einer neuartigen Stadtpolitik, die sich die Lokalisierung und Personifizierung von Kriminalität bzw. dem neuen Typus des “Kriminellen” zum Ziel gesetzt hatte. Als dritten Strang sieht Kalifa insbesondere den sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildenden wachsenden Markt privater Sicherheitsvorsorge (S. 327ff.).

Es zeigt sich, dass die intensive Beschäftigung mit Kriminalität im langen 19. Jahrhundert ein genuin modernes Phänomen war, das grundlegende Fragen der Soziabilität, der Rolle des Individuums in einer sich anonymisierenden und technisierenden Umgebung, aber auch Fragen des Vertrauens der Menschen zueinander und der Verteilungsgerechtigkeit berührte.

Anmerkungen:
1 Kalifa, Dominique, L’Encre et le Sang. Récits de crimes et société à la Belle Epoque, Fayard, Paris 1995; siehe auch Ders., Naissance de la police privée. Détectives et agences de recherches en France, Plon, Paris 2000; Ders., La Culture de masse en France. 1860-1930, La Découverte, Paris 2001.
2 Vgl. insbesondere Ambroise-Rendu, Anne-Claude, Petits récits des désordres ordinaires. Les faits divers dans la presse française des débuts de la IIIe République à la Grande Guerre, Paris 2004.
3 Vgl. hierzu jetzt Kaluszynski, Martine, La République à l’épreuve du crime. La construction du crime comme objet politique, 1880-1920, Maison de Sciences de l’Homme, Paris 2002.

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