Cover
Titel
In Places of Gods and Kings. Authorship and Identity in the Relacion de Michoacan


Autor(en)
Stone, Cynthia L.
Erschienen
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
$ 54.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Gorissen, Hamburg

Cynthia Stones lang erwartetes Buch basiert auf einer Doktorarbeit (University of Michigan) aus dem Jahre 1992. Es bietet die umfassende Analyse eines kolonialen Forschungsprojektes aus dem 16. Jahrhundert. 1 Als solches liegt es im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Interessenfelder, die von der Altamerikanistik, über die Ethnologie und Romanistik bis hin zur Historiografie- und der Wissenschaftsgeschichte (und ihrem Verhältnis zur Kolonialgeschichte) reichen. Antonio de Mendoza, 1535 bis 1549 erster Vizekönig von Neu-Spanien (México) und später von Peru hatte jenes Vorhaben angestoßen, das schließlich in einem der Meisterwerke der spanischen Ethnografie des 16. Jahrhunderts mündete: In einem Manuskript mit dem Titel „Relación de las ceremonias y ritos y población y gobierno de los indios de la provincia de Michoacán“, kurz auch „Relación de Michoacán“ genannt (im Folgenden: RM). Als Quelle zur Geschichte einzelner Regionen Mesoamerikas steht die RM den besser bekannten Arbeiten von Diego de Landa, Diego Durán oder Bernardino de Sahagún kaum nach. Zugleich ist sie die bedeutendste Überlieferung für die vorspanische Geschichte Michoacáns. Dabei wurde gerade diese Region im Westen Mexikos von der archäologischen und historischen Forschung bisher besonders stark vernachlässigt. Um 1520 bestand hier ein multi-ethnisches Imperium mit etwa einer Million Einwohnern, das von den Tarasken dominiert wurde. 2 Politisch und militärisch gesehen war der taraskische Staat der einzige ernsthafte Rivale des Aztekischen Dreibundes in Zentral-Mexiko. Aus reinem Mangel an Information galten die Tarasken jedoch der Forschung lange Zeit als rätselhaft, peripher, kulturell und sprachlich isoliert, und irgendwie un-mesoamerikanisch.

Ab 1522 wurde das Reich der Tarasken von den Spaniern weniger erobert, als vielmehr annektiert. Die Situation zwischen 1522 und 1530 wurde treffend als Zeit charakterisiert, in der die Spanier der Meinung waren, sie hätten Michoacán erobert, während man in der taraskischen Hauptstadt Tzintzuntzan immer noch glaubte, ein Königreich zu kontrollieren. 3 Ein politischer Schauprozess und die brutale Exekution des taraskischen Herrschers schufen letztlich Klarheit. Michoacán mit seinen nebligen Pinienwäldern, den glasklaren Bergseen und den rätselhaften Tarasken wurde zum Freilicht-Labor für kolonialpolitische Experimente wie den Hospitales de la Santa Fé – Lebensgemeinschaften, die sich stark an Thomas Mores „Utopia“ orientierten.

Material für die RM wurde in den späten 30er-Jahren des 16. Jahrhunderts unter der Aufsicht eines Franziskaners an den Ufern des Pátzcuaro-Sees gesammelt, im unmittelbaren Kernland des taraskischen Staates. Ursprünglich bestand das Manuskript aus drei Teilen, von denen der erste die vorspanische Religion der Tarasken, der zweite die Staatsentstehung um 1400, und der dritte schließlich die politischen Institutionen des vorspanischen Staates sowie die Ereignisse der Eroberungszeit beschrieb. Bis auf ein einziges Folio gilt der erste Teil heute als verschollen, während sich Frontispiz und Vorrede erhalten haben. Die verbleibenden Teile der RM umfassen immer noch 277 Manuskriptseiten, einschließlich 44 farbiger Zeichnungen. Stones Buch reproduziert alle Abbildungen der RM, acht davon in einem gesonderten Farbtafelteil.

Das Frontispiz zeigt die Übergabe des Manuskripts an Vizekönig Mendoza im Jahre 1541, und damit fast alle Hauptcharaktere in Stones Erzählung: Ganz links drei taraskische Priester mit traditionellen Insignien, davor Don Pedro Cuiníarángari (der damalige „gobernador indígena“ von Michoacán), in der Mitte der Franziskaner, der den Text an Mendoza überreicht. Stone bemerkt, dass ursprünglich noch eine weitere Person hinter Mendoza stand – vermutlich einer der Söhne des letzten Herrschers. Später wurde diese Person jedoch übermalt, und Mendoza erscheint nun allein auf der rechten Seite, sitzend vor einem nachträglich eingefügten Wandbehang. So spiegelt sich bereits auf der ersten Seite des Manuskripts die tiefe Ironie kolonialer Machtpolitik – Mendoza sollte als einzige Quelle der Macht erscheinen, dem niemand den Rücken stärken muss. Und doch stand da noch jemand hinter ihm – jemand, der noch zu mächtig war, als dass man ihn hätte zeigen dürfen.

Stone arbeitet solche Details überzeugend heraus. Ihr Forschungsansatz ist allerdings entschieden der einer Literaturwissenschaftlerin, nicht der einer Historikerin. Sie interessiert sich mehr für die Kunst der Darstellung als für die Rekonstruktion einer dargestellten Wirklichkeit. Indem sie multiple Urheberschaften in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt, kann sie mehrere Stimmen und zahlreiche Bedeutungsebenen klar herausarbeiten. Ältere Arbeiten hoben dagegen entweder den Einfluss des spanischen Missionars einseitig hervor, oder versuchten, eben diesen zugunsten vermeintlich authentischerer indianischer Stimmen zu unterdrücken.

Im ersten Kapitel rekonstruiert Stone den Entstehungsprozess der RM. Ursprünglich wurden wohl die meisten Erzählungen auf taraskisch aufgenommen und erst nachträglich ins Spanische übersetzt. Andere Texte gehen auf Befragungen zurück, bei denen Entwürfe für die beigefügten Abbildungen bereits vorlagen. Vier verschiedene Schreiber fertigten die Endfassung des Manuskripts, die dann von dem Franziskaner nochmals korrigiert wurde. Schließlich wurden die Zeichnungen eingefügt – die Freiräume für fehlende Abbildungen am Ende des Manuskripts deuten an, dass die Präsentationskopie nie wirklich fertig gestellt wurde. Stone merkt an, dass auch viele andere Charakteristika – das Fehlen einer geschlossenen Perspektive, zahllose Brüche, Kommentare und Einschübe – die RM nach den literarischen Maßstäben ihrer Zeit als ungeschliffenes Werk erscheinen lassen müsse. Gleichzeitig kann sie jedoch die offene Natur des Textes aus der Agenda des Franziskaners und den Objektivitätsidealen seines Auftraggebers heraus erklären. Als kollaboratives Projekt, das sich bemühte, möglichst viele Stimmen einzufangen und in weitgehend unbearbeiteter Form gegeneinander zu schalten, erscheint die RM selbst im theoretischen Kontext der jüngsten Debatten um die Möglichkeiten und Grenzen ethnografischer Repräsentation als verblüffend modernes Werk.

In vier weiteren Kapiteln analysiert Stone dann die Einzelbeiträge der Hauptakteure. Den Franziskaner, Projektleiter und Schlussredakteur der RM, identifiziert sie nach Warren 4 als Fray Jerónimo de Alcalá. Obwohl er sich im Vorwort lediglich als Übersetzer der Ältesten von Michoacán bezeichnet, weist Stone nach, dass seine nachträglichen Eingriffe in den Text einer klaren politischen Zielsetzung folgen: Um den Missionserfolg seines Ordens nicht zu schmälern, wird die Fortdauer vorspanischer Sitten und Gebräuche in der frühen Kolonialzeit konsequent verleugnet. Offenbar noch unzufrieden mit dem bisherigen Erfolg bei seinem Wunsch, die Indianer „gleichsam einzuschmelzen, wenn es möglich wäre, und aus ihnen Menschen des Verstandes zu formen“, hat er genau diesem Wunsch auf literarischer Ebene bereits vorgegriffen.

Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Beitrag der anonymen indianischen Zeichner. Stone zeigt, dass die Abbildungen der RM weit mehr als bloß illustratives Beiwerk sind. Da sich keine Bilddokumente aus dem vorspanischen Michoacán erhalten haben, leitet sie hier die indigenen Repräsentationskonventionen aus den frühkolonialen Tafeln der RM selbst heraus ab. Dabei wurde die Suche nach möglichen europäischen Vorlagen nicht konsequent vorangetrieben. In einem zweiten Schritt versucht Stone zu zeigen, dass die räumliche Anordnung der Bildelemente Grundprinzipien der taraskischen Kosmologie folgt. Die Darstellungen historisch spezifischer Szenen könnten demnach gleichzeitig als Blaupausen für ein allgemeines Modell der Weltordnung gedeutet werden. Leider entsprechen nur relativ wenige der Abbildungen den von Stone rekonstruierten Grundprinzipien einer solchen Ordnung, die in einigen Fällen sogar völlig auf den Kopf gestellt werden. Mit einer kaum angebrachten Analogie zu den Gesellschaften des Andenraums erklärt sie die Grundstruktur der Tafeln als System binärer Gegensätze wie Mann/Frau, Tag/Nacht, Himmel/Erde – und vermerkt gleichzeitig, dass andere Autoren dieses duale Prinzip in der taraskischen Kosmologie nicht erkennen konnten (S. 91). Stone treibt ihre Analyse sehr weit, wenn sie etwa Tafel 38 als Darstellung der perfekten Ehe in der üblicherweise negativ konnotierten linken oberen Ecke, und des nächtlichen Ehebruchs in der meist positiv besetzten rechten unteren Bildhälfte interpretiert. Sie erklärt die Inversion der von ihr postulierten Grundprinzipien mit der Tatsache, dass die perfekte Ehefrau nach vorspanischer Sitte mit nacktem Oberkörper dargestellt wurde, während die vermeintliche Ehebrecherin einen europäisch anmutenden Umhang trägt. Dies sei eine versteckte Kritik der indianischen Zeichner an den Missionaren, deren Moralvorstellungen einerseits die Kleidungsgewohnheiten veränderten, aber andererseits unmoralischem Verhalten Vorschub boten, da so die Ehebrecherin ihre Identität verschleiern konnte (S. 107). Vielleicht trägt die zweite Frau aber auch nur einen Umhang, weil es nachts in Michoacán so lausig kalt wird. Und die „Ehebrecherin“ kann auch als Bittstellerin gedeutet werden, die für einen Verwandten um die Hand einer Frau anhält (wie im Folgekapitel der RM – ohne eigene Abbildung – beschrieben).

Im vierten Kapitel untersucht Stone die Rolle des petámuti (Hohepriester), dessen lange Erzählung im zweiten Teil der RM die offizielle Version der Staatsgeschichte wieder gibt, wie sie alljährlich an einem bestimmten Festtag von speziell ausgebildeten Priestern im ganzen Reich erzählt wurde. Diese Version vom Aufstieg des taraskischen Staates legitimiert die Vorherrschaft der königlichen Familie durch deren besondere religiöse Tugend und politisch-militärische Kompetenz, die ihrerseits auf die besondere Nähe der Herrscherfamilie zum Hochgott Curícaueri zurückgeführt werden kann. So wie der taraskische Herrscher als Stellvertreter Curícaueris galt, erzählten die Priester diese Geschichte an Stelle des Herrschers – und standen damit wahrlich „In Place of Gods and Kings“. Statt einen möglichst „reinen“, vorspanischen Text zu rekonstruieren, zeigt Stone, welche neuen Bedeutungen der überlieferte Text im radikal veränderten politischen Umfeld der frühen Kolonialzeit annehmen konnte.

Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich der Erzählung Don Pedro Cuiníarángaris über die spanische Eroberung Michoacáns, in die dieser selbst tief verstrickt gewesen war. Cuiníarángari war ein kultureller Mittler par excellence, der mal als Verräter und mal als besonnenes Verhandlungsgenie, mal als hilfloses Opfer und mal als hinterhältiger Strippenzieher erscheint. Stone fällt kein Urteil, sondern bemüht sich, alle der scheinbar widersprüchlichen Facetten seiner Persönlichkeit einzufangen. Sie zeigt, wie Cuiníarángaris Rückblick auf Ereignisse, die fast zwei Jahrzehnte zurücklagen, unterschiedliche Erwartungshaltungen bedient, den politischen Zielen des Erzählers nützt, und sieht dessen „Janus-Gesicht“ als perfekte Metapher für den kulturell hybriden Charakter der frühen Kolonialzeit.

Stone hat zahlreiche Spezialstudien zu Einzelaspekten der RM aus den letzten Jahren bereits rezipiert - und grenzt sich von diesen ab, indem sie eine vielschichtige und dennoch in sich geschlossene Interpretation des Werkes vorlegt. Ihre Rekonstruktion indianischer Stimmen greift durchgängig stark auf Analogien zu den religiösen Vorstellungen anderer kultureller Gruppen in besser dokumentierten Regionen zurück. Stone ist sich der Problematik dieser Vorgehensweise bewusst, und spricht selbst von „imaginativer Spekulation“ und einem „experimentellen“ Verfahren (S. 10). Ihre Versuche, Motive aus dem Popol Vuh der Quiché (S. 126f.) oder anderen zentralen Werken im Text der RM wieder zu erkennen, sind allerdings wenig überzeugend. Da hier die kulturelle Vielfalt Mesoamerikas auf einen kleinen Satz von Leitmotiven reduziert wird, und zusätzlich die Konformität von Interpretationen zu eben diesem Satz noch als Zeichen der Authentizität gedeutet wird, wandelt auch Cynthia Stone gelegentlich hart an der Grenze zur Tautologie. Nichtsdestotrotz hat sie einen herausragenden Beitrag zur Geschichte West-Mexikos vorgelegt, der über den regionalen Rahmen hinaus für alle von Interesse dürfte, die sich mit Ethnografie und Geschichtsschreibung am Beginn der Frühen Neuzeit beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Stone nennt Rolena Adorno und Walter Mignolo als ihre wichtigsten Lehrer in Michigan. Das explizite Modell für ihre Analyse ist Adorno, Rolena, Guaman Poma. Writing and Resistance in Colonial Peru, Austin 1986.
2 Die von den Spaniern eingeführte und in der ethnologischen Literatur etablierte Bezeichnung „Tarasken“ wurde stets als Eigenbezeichnung abgelehnt. Das heute verwendete Wort „Purépecha“ stand im 16. Jahrhundert jedoch lediglich für die Klasse der tributpflichtigen Bauern. Eine ethnische Eigenbezeichnung aus vorspanischer Zeit ist nicht bekannt.
3 Gorenstein, Shirley, Introduction; in: Pollard, Helen Perlstein, Taríacuri's Legacy. The Prehispanic Tarascan State, Norman 1993, S. xiii-xx, hier S. xiv.
4 Warren, J. Benedict, Fray Jerónimo de Alcalá. Author of the „ Relación de Michoacán“?, in: The Americas 27 (1971), S. 307-326. Abweichend davon wird das Manuskript leider immer noch Fray Martin de Valencia zugeschrieben: Baudot, George, Utopia and History in Mexico. The First Chroniclers of Mexican Civilization (1520-1569), Niwot 1995, S. 399-442. Stone (S. 42, 73) vermerkt deutlich und zu recht, dass die dort vertretene Einordnung der RM in die Gruppe millenaristisch geprägter Chroniken der Franziskaner nicht aufrecht erhalten werden kann.

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