: Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. . München 2004 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-49105-9 304 S. € 24,80

: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. . Stuttgart 2004 : Kohlhammer Verlag, ISBN 3-17-013512-0 448 S. € 32,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Pieper, Hamburg

Eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert sollte einen Überblick über eine lange Zeit und einen ganzen Kontinent liefern – und damit die Möglichkeit bieten, einzelstaatliche Entwicklungen in einen weiteren Kontext einzuordnen. Kaum zu leisten ist im Rahmen einer Arbeit wie der hier zu besprechenden die detaillierte Darstellung aller Ereignisse, die nur irgendeine Relevanz haben. Auch der aktuelle Forschungsstand wird nur in den wenigsten Fällen, bei besonders bedeutenden historischen Entwicklungen und Ereignissen oder bei herausgehobenen wissenschaftlichen Kontroversen, rezipiert werden können.

Bei dem Buch von Helmut Altrichter und Walther L. Bernecker – dies vorweg – handelt es sich weniger um eine „Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“, wie der Titel verspricht, sondern eher um deutsche Geschichte in europäischer Perspektive – was legitim, aber dennoch zu bedauern ist, da die Autoren Professoren für Osteuropäische Geschichte bzw. für Auslandswissenschaften sind.

Altrichter und Bernecker orientieren sich an den prägenden Epocheneinschnitten, die mit den Daten 1918, 1945 und 1989 umschrieben sind. Zunächst aber wird als Ausgangspunkt das Europa des Jahrhundertbeginns gezeichnet: Bevölkerungsvermehrung und Industrialisierung, Kolonialismus und Nationalismus. Das deutsche Begehren nach dem zum geflügelten Wort gewordenen „Platz an der Sonne“ und das Gefühl der deutschen Eliten, auf Grund des als zu klein empfundenen Kolonialreichs national diskriminiert zu werden, zeichneten den Weg in den Ersten Weltkrieg vor. Ein Denken in der Dichotomie „’Weltmacht oder Untergang’“ war allerdings eine „bei allen Großmächten grassierende Zwangsvorstellung“ (S. 27).

Altrichter und Bernecker sehen die Zwischenkriegszeit unter dem Blickwinkel einer Systemauseinandersetzung zwischen Demokratien und autoritär geführten Staaten. Dementsprechend wird bei der Diskussion über die Einordnung des NS-Staates der Totalitarismustheorie eine höhere Aufmerksamkeit gewidmet als anderen Deutungsansätzen, insbesondere der Faschismustheorie. Die Autoren folgen hier der in den letzten Jahren Usus gewordenen Methode, Historiker aus den ehemaligen RGW-Staaten als „Verlierer der Geschichte“ nicht zur Kenntnis zu nehmen. Da passt es ins Bild, dass in dem Abschnitt über deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“ der kommunistische Widerstand nicht einmal erwähnt wird.

Zur Jahrhundertmitte hatte sich Europa grundlegend verändert: Nicht mehr die alten europäischen Staaten waren die führenden Weltmächte, sondern die USA und – auch als ideologischer Gegenpol – die Sowjetunion. Etwas seltsam mutet es in der Darstellung an, dass die Sowjetunion als angeblich außereuropäische Macht aus Europa eskamotiert wird (S. 188).

Einer differenzierten Schilderung der Entwicklung im Westen des Kontinents steht leider ein überwiegend schwarz-weiß gemalter sozialistischer Osten gegenüber, der ganz im Einklang mit der Sicht der Sieger des „Kalten Kriegs“ delegitimiert wird. Dem „Deutschen Volksrat“ wird vorgeworfen, „für Deutschland als Ganzes“ gesprochen zu haben (S. 217) – was die Autoren als Anmaßung empfinden. Dass das Bonner Grundgesetz keinen geringeren Anspruch hatte und in seiner Präambel hervorgehoben wurde, man habe „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“, wird hingegen nicht erwähnt. Der europäische Süden kommt nur randständig, Skandinavien gar nicht vor. Auch die Bewegung der Blockfreien wird nur einmal en passant erwähnt. Der Zusammenbruch der RGW-Staatenwelt wird ausführlich geschildert; an einer stringenten Erklärung, warum „der Ostblock“ kollabiert ist, versuchen Altrichter und Bernecker sich indes nicht.

Zentral für den zweiten Teil des Jahrhunderts (und des Buchs) ist der Weg zur EU. Am Zusammenwachsen Westeuropas hatte insbesondere die Bundesrepublik ein Interesse, „da sie die volle Souveränität nur über die weiter voranschreitende Integration erreichen konnte“ (S. 227). So kam es zunächst zur deutsch-französischen Zusammenarbeit. Der Elysée-Vertrag diente Charles de Gaulle dazu, die „politische Vormachtstellung Frankreichs in Westeuropa sicher[zu]stellen“ (S. 233); mit „Kerneuropa“ zusammen hoffte man „auch künftig eine Rolle in der Welt zu spielen“ (S. 247). Von der entstehenden EWG waren auch die nicht an ihr beteiligten Staaten betroffen. So entstand die „European Free Trade Association“ (EFTA) als „Abwehrreaktion gegenüber der EWG“ (S. 252). Mit dem Wachsen der EG gerieten die EFTA-Länder in eine zunehmende „Markt- und Politikabhängigkeit von der EG“, denn „ohne eine vollständige EG-Mitgliedschaft [gab es] keine gleichrangige Teilnahme am Binnenmarkt und noch weniger eine hinreichende Berücksichtigung politischer Partizipationswünsche“ (S. 256f.). Die EFTA zerfiel schließlich. Diese Darstellung bietet einige Anhaltspunkte dafür, dass die übliche EU-Geschichtsschreibung von der „europäischen Einigung“ als dem Zusammenwachsen von Zusammengehörigem eine so nicht vorhandene Selbstverständlichkeit und Freiwilligkeit suggeriert. Altrichter und Bernecker verfolgen diese Argumentationslinie aber nicht weiter.

Den künftigen europäischen Integrationsprozess sehen die Autoren mit Besorgnis, weil „die Mitgliedstaaten viel weniger als früher bereit sind, weitere Souveränitätsrechte an Brüssel abzutreten“ (S. 380) – was allerdings nicht verwundern sollte, steht die EU doch vor der Entscheidung zwischen einem „eher losen Staatenbund und einem machtvollen Bundesstaat“ (S. 388). Dass hier nationalstaatliche Interessen sich geltend machen, ist zu erwarten, zumal wenn Politiker der inzwischen zur europäischen Großmacht aufgestiegenen Bundesrepublik Deutschland ziemlich unverblümt einen Führungsanspruch – in Kooperation mit Frankreich – formulieren.1 Dies aber kommt in der „Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ nicht vor. Die Sorgen so manches EU-Bürgers vor der Osterweiterung werden hingegen durchaus nachvollzogen: Die geringeren Unternehmenssteuern in den Beitrittsländern würden von „viele[n] Unternehmen der Alt-EU [...] als Chance für eine Attacke auf das Steuersystem ihres Landes begriffen. [...] Mittelfristig dürfte die Ost-Erweiterung den Druck auf die bestehenden Sozialstandards erhöhen“ (S. 385). Wie unter diesen Umständen allerdings die „europäische Verfassung [...] die vorhandene Identität stärken“ soll (S. 388), bleibt genauso offen wie die Frage, wie die in der Verfassung festgeschriebene Verpflichtung zur Aufrüstung2 mit der „EU als ‚Friedensgemeinschaft’“ in Einklang gebracht werden soll.

Fazit: Das Buch bietet einen kursorischen Überblick über das vergangene Jahrhundert unter deutschem Blickwinkel. Inhaltlich bewegt sich die Darstellung im common sense westdeutscher Geschichtspolitik.

Jost Dülffers Buch über „Europa im Ost-West-Konflikt“ hat einen enger eingegrenzten Gegenstand. Der Ost-West-Konflikt – Dülffer vermeidet den Begriff des „Kalten Krieges“ für den gesamten Zeitraum und spricht von mehreren aufgeflammten und wieder abgeebbten „Kalten Kriegen“ – wirkte sich vor allem auf Europa aus. Aber auch andere Regionen der Welt waren betroffen; die Auseinandersetzungen, die mit Korea, Kuba und Vietnam verbunden werden, stehen aber nicht im Fokus der Darstellung.

Die Reihe „Oldenbourg Grundriss der Geschichte“ ist bekannt für zuverlässige Überblicksdarstellungen, eine intensive Einführung in den Forschungsstand und ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis. Dies gilt auch für den 18. Band. In seiner Darstellung geht Dülffer überwiegend chronologisch vor, beginnend mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der aufkommenden Systemkonfrontation der beiden sich gegenüberstehenden politischen Blöcke.

Ein gewichtiger Beitrag zum westlichen Block wurde durch die westeuropäische Integration geleistet, die frühzeitig gedacht und bald angegegangen wurde. Dass sich ein westeuopäisches Staatenbündnis schon relativ kurz nach dem Krieg bilden konnte, war nicht nur den gemeinsamen Interessen im Ost-West-Konflikt geschuldet, sondern auch dem Wunsch nach „Behauptung gegenüber anderen Weltregionen“ (S. 38) – sowohl was die Wirtschaftskraft als auch den politischen Einfluss anbelangt. Ganz ähnlich lautete das Credo Konrad Adenauers, der „durch die Westbindung und supranationale Strukturen zugleich einen Ausbau von Souveränität der Bundesrepublik zu erlangen“ hoffte (S. 174).

Im Laufe der Zeit stabilisierten sich die beiden Blöcke, und die Bereitschaft wuchs, sich mit ihrer Existenz abzufinden und zu einem gangbaren Auskommen miteinander zu gelangen. In erster Linie sind hier die verschiedenen Sicherheitsstrukturen zu nennen, die Bemühungen um Abrüstung und als ihre Voraussetzung „vertrauensbildende Maßnahmen“. Dennoch folgte ein (in Dülffers Diktion) letzter Kalter Krieg: die Aufrüstungsschritte, die auf Ostseite mit dem SS 20-Raketensystem und auf Westseite mit dem NATO-Doppelbeschluss und den Pershing 2-Raketen verbunden werden.

Das letzte Kapitel des Buches befasst sich mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatenarchipels und dessen Umwandlung in eine Vielzahl alter und neuer Staaten, die sich am westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftmodell orientieren. Dülffer sieht die Ursachen für das Scheitern des osteuropäischen Realsozialismus bereits in seiner Gründungsphase angelegt: „Während der Westen, zumal die USA, mit politischer Partizipation und Aussicht auf Prosperität aufwarten konnte, blieben dem Osten – und das hieß: der Sowjetunion – vor allem direkte und indirekte Herrschaft, ideologisch zusammengehalten von Antifaschismus und dem Eintreten für eine angeblich überlegene sozialistische Gesellschaftsordnung.“ (S. 18) Politische und ökonomische Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte destabilisierten das östliche Staatengefüge zunehmend. Als politischer Faktor wird der KSZE-Prozess genannt, dessen „menschenrechtliche Vereinbarungen eine subversive Wirkung“ als „Berufungsmöglichkeit auf neues, auch in den einzelnen Staaten einklagbares Recht“ entfaltet hätten (S. 86). Ob Dülffer diesen Prozess überbewertet, muss eine spätere Forschung erweisen. Tatsache ist jedenfalls, dass sich im Gefolge der KSZE-Schlussakte von 1975 in den osteuropäischen Staaten zahlreiche Bürgerrechtsgruppen bildeten. Wirtschaftlich gerieten die RGW-Staaten vor allem durch die enormen Rüstungskosten in zunehmende Bedrängnis. Der Handel mit dem Westen, der einen Ausweg eröffnen sollte, führte zu Verschuldung und damit in neue Abhängigkeiten. Die von Gorbatschow auf Grund dieser Schwierigkeiten eingeleiteten Reformen entfalteten eine „Sprengkraft“ (S. 96), die nicht absehbar war.

Die hier nur angerissenen Arbeitsgebiete werden in Teil 2 und 3 des Buches wieder aufgenommen, wo zunächst der Forschungsstand dargestellt und diskutiert wird und sodann eine umfangreiche Bibliografie folgt. Auffällig ist, dass ganze Themenfelder Desiderate der Forschung bleiben. So fehlen, um nur die wichtigsten Lücken zu nennen, ein Gesamtüberblick zur europäischen Integration, wissenschaftlich abgesicherte Analysen der sozialliberalen Ostpolitik sowie Studien zu Entscheidungsfindungen in der Sowjetunion, insbesondere zum Kurswechsel hin zur Zusammenarbeit mit den NATO-Staaten, wobei insbesondere die „Notwendigkeit wirtschaftlicher Kooperation mit dem Westen“ zu prüfen wäre (S. 188). Zur Integration des Warschauer Pakts fehlt es insbesondere an wissenschaftlichen Kriterien standhaltenden Arbeiten von Historikern aus diesen Staaten. Je näher wir an die Gegenwart rücken, desto mehr blinde Flecken gibt es. Begonnen bei den Abrüstungsverhandlungen bis zu den Gründen der erneuten Aufrüstung in den späten 1970er und 1980er-Jahren. Und schlussendlich: „Die Einbettung des deutschen Vereinigungsprozesses in die westeuropäische Integration [... ], der Weg zum Vertrag von Maastricht 1992, aber auch die Auflösung der Einheit des Ostblocks, zunehmende Selbständigkeit der Staaten der Sowjetunion und schließlich ihre stillschweigende Auflösung [...] bedürfen über die Aussagen der Zeitzeugen und Lehrbücher hinaus der späteren gründlichen historischen Einordnung.“ (S. 197) Genug zu tun also für kommende Historikergenerationen!

Jost Dülffer hat ein ausgesprochen nützliches Handbuch zum „Ost-West-Konflikt“ verfasst, an dem in den nächsten Jahren kein Weg vorbeiführen wird. Manuskript und Bibliografie wurden Ende 2003 abgeschlossen, weitere Publikationen zum Thema sind im Internet abrufbar unter <http://www.internationale-geschichte.historicum.net/material/bibliographie.html>.

Anmerkungen:
1 So Fischer, Joschka, Vom Staatenbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Rede an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.5.2000. Der Text findet sich u.a. unter <http://www.uni-tuebingen.de/ezff/doku_euro-foederation.html> und ist auch als Sonderdruck in Buchform erschienen: Vom Staatenbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000, Frankfurt am Main 2000. Zur Kritik dieser Rede vgl. Fischers Großraumpolitik weckt im Ausland böse Erinnerungen, in: Antifaschistische Nachrichten 16,13 (2000), S. 13f. Jacques Chirac sprach im Zusammenhang mit der Rede von einem „eitle[n] Unterfangen“ (siehe Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2000); der französische Außenminister Védrine warnte gar vor „Flötenspielern“, unter deren „falschen Versprechen“ die Völker in der Vergangenheit genug gelitten hätten (Neue Zürcher Zeitung, 27.11.2000).
2 Art. I-41(3): „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ Der Verfassungstext findet sich u.a. unter <http://www.europarl.de/index.php?>.

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