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Titel
1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen


Autor(en)
Frei, Norbert
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad H. Jarausch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wenn einer der führenden Zeithistoriker, der sich lange mit der „Vergangenheitspolitik“ beschäftigt hat1, einen neuen Band von Essays vorlegt, ist diese Publikation selbst ein geschichtspolitisches Ereignis. Der Autor Norbert Frei ist in allen wichtigen Debatten um die NS-Vergangenheit präsent, jüngst etwa in der Diskussion um eine Bundesstiftung für die Berliner NS-Gedenkstätten. Auch wenn nur zwei der abgedruckten Essays für den Sammelband neu geschrieben sind („1945 und wir“ sowie „Auschwitz und die Deutschen“), lohnt es sich, die anderen acht Texte wieder zu lesen, da sie einige Schlüsselthemen der Diskussionen des letzten Jahrzehnts rekapitulieren. Die Spannbreite der angesprochenen Fragen ist eindrucksvoll; sie reicht von „A“ wie Auschwitz bis „Z“ wie Zeitgenossenschaft. Dazwischen liegen Kommentare über die Justiz, das Jahr 1933, den Mythos Stalingrad, den Begriff der „Volksgemeinschaft“, den 20. Juli 1944 und die Frage der Kollektivschuld. Welche neuen Einsichten vermitteln diese wissenschaftlichen Wortmeldungen zu den gegenwärtigen Tendenzen der Erinnerungskultur?

Besonders positiv anzumerken ist die Thematisierung des Generationszusammenhangs in der öffentlichen Debatte wie der Auseinandersetzung der Forschung. Frei konstatiert einen Epochenwechsel mit dem kommenden Ende der Zeitzeugenschaft, der die lebendige Verbindung zur Vergangenheit beende und die dritte bzw. vierte Generation der Nachkommen vor neue Herausforderungen in der Bewahrung einer selbstkritischen Holocaust-Erinnerung stelle. Gleichzeitig betont er zu Recht die Rolle der Zeitgenossenschaft bei der frühen öffentlichen Kommentierung der NS-Verbrechen – die zeitliche und biografische Nähe verhinderte bei der Mehrheit der Bevölkerung eine kritische Diskussion. Auch bei der sonst so gelobten, nach 1945 neu konstituierten Disziplin der Zeitgeschichtsforschung sieht Frei anfangs eher Abwehrhaltungen und Defizite, besonders wegen der Fokussierung auf Hitlers „Machtergreifung“ und der Beschreibung der Herrschaftsmechanismen des „Dritten Reichs“, die eine Hinwendung zu den Opfern der NS-Diktatur wie den Juden, nichtjüdischen Polen usw. erheblich verzögerte. Wie mittlerweile auch andere Autoren, weist Frei darauf hin, dass ein strukturgeschichtlicher Zugriff zudem auf eine Vermeidung der Frage nach konkreten Taten und Tätern hinauslief. Einige der Einzelthemen wie der neu geschriebene Auschwitz-Aufsatz sind brillante Abhandlungen zu spezifischen Themen des Umgangs mit der Vergangenheit. Zusammen genommen sind diese Kommentare ein sensibler Seismograf der widersprüchlichen Entwicklungen des deutschen Geschichtsbildes.

Trotzdem irritieren diese Essays nicht nur in produktiver Weise. Gemeinsam ist ihnen ein nervöser Unterton, der die Veränderungen nicht so sehr als Chancen, sondern als Bedrohung empfindet, auf die der Autor als Wächter eines richtigen Gedenkens reagiert. Die oft dezidierten Urteile der Reflexionen über einzelne Fragen – wie etwa die Stilisierung der Kriegskinder als Opfer – ergeben jedoch kein zusammenhängendes Bild der dabei angewandten Standards einer „angemessenen […] Vergegenwärtigung“ (S. 22). Die dahinter stehende, etwas diffuse Holocaust-Betroffenheit bleibt seltsamerweise außerhalb des Generationswechsels und wird nicht selbst als ursprünglich amerikanische Entwicklung hinterfragt, die aus einem spezifischen Kontext der 1970er-Jahre hervorgegangen ist und deren Privilegierung jüdischer Opfer nicht nur Stärken, sondern auch Probleme in einen deutschen Kontext transportiert.2 Eine weitere Schwierigkeit der starken Betonung der vielen Versäumnisse und Hindernisse auf dem Weg zu einem umfassenden selbstkritischen Gedenken ist das Fehlen einer systematischen Erklärung der Lernprozesse, die in den letzten fünf Jahrzehnten dennoch stattfanden. Diese in einem der Essays (S. 23ff.) angesprochene Problematik verfolgt Frei nicht mit derselben analytischen Energie wie die vielfältigen Defizite. Dadurch entsteht ein etwas schiefes Bild, das die Veränderungen des kollektiven Gedenkens nur unvollständig widerspiegelt.3 Auch auf die Verdoppelung der Erinnerungsproblematik durch das Ende der SED-Diktatur gehen die Reflexionen nur in einigen flüchtigen Anspielungen ein, und zudem wird nicht berücksichtigt, ob und wie sich das „Wir“ des deutschen Gedenkens durch die wachsende Zahl von Migranten in der deutschen Gesellschaft verändert hat.

Dessen ungeachtet bereitet die Lektüre von Freis glänzend geschriebenen Essays wegen ihrer virtuosen Verknüpfung der unterschiedlichen Dynamiken von Real- und Erinnerungsgeschichte ein intellektuelles Vergnügen. Einerseits bringen diese Texte eine Fülle von Anregungen zur Untersuchung von Aspekten des NS-Staats wie etwa der „Volksgemeinschaft“ (S. 107ff.). Andererseits zeigen sie, dass sich Zeithistoriker mit der individuellen und kollektiven Verarbeitung des Nationalsozialismus inzwischen auf hohem Reflexionsniveau beschäftigen. Es ist Freis großes Verdienst, durch seine unablässigen Hinweise auf das Nachwirken von nationalsozialistischen Vorstellungen und die Abwehrhaltung gegenüber Selbstkritik in der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur die Konzipierung einer das Gewissen beruhigenden Erfolgsgeschichte verhindert zu haben. Allerdings ist dieses aufklärerische Engagement nur selten bereit, sich selbst zu hinterfragen, d.h. den eigenen Standpunkt als bedingt und veränderbar anzuerkennen. Auch kann die Fokussierung auf die vielfältigen Widerstände die dennoch abgelaufenen Lernprozesse trotz einzelner Hinweise (S. 144) nur ungenügend erklären, so dass es am Ende überraschend erscheinen muss, dass sich doch etwas Fundamentales geändert hat. Schließlich ist ein aus rein westdeutscher Perspektive geschriebenes Buch zum „Dritten Reich“ im Bewusstsein der Deutschen, das die Problematik des ostdeutschen „verordneten Antifaschismus“ nicht näher thematisiert, anderthalb Jahrzehnte nach der Vereinigung ein Ärgernis. Vielleicht wird der nächste – bei einem so produktiven Historiker zu erwartende – Band von Essays zu diesen Punkten weitere Hinweise bieten.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Freis einflussreiches Buch Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, Tb-Ausg. München 1999.
2 So van Laak, Dirk, Der Platz des Holocaust im deutschen Geschichtsbild, in: Konrad H. Jarausch; Martin Sabrow (Hgg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 163-193.
3 Dazu Kielmansegg, Peter Graf, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, und Jarausch, Konrad H., Die Umkehr. Deutsche Wandlungen, München 2004.

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