K. Ruchniewicz u.a. (Hgg.): Geschichtskulturen in Polen und Spanien

Cover
Titel
Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung. Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich


Herausgeber
Ruchniewicz, Krzysztof; Troebst, Stefan
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 5,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Hesse, Hürth

Der Sammelband umfasst 26 Beiträge (darunter drei in englischer Sprache) von 25 Autoren – Historikern, Soziologen, Politologen, Filmwissenschaftlern und Journalisten. Er geht zurück auf ein am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) konzipiertes, von der VolkswagenStiftung gefördertes polnisch-spanisch-deutsches Forschungsprojekt mit dem Titel „Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung an der Semi-Peripherie Europas: Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich“. Allein an der Auflistung der beteiligten spanischen und polnischen Institute werden die europäischen Dimensionen dieses Sammelbandes deutlich.

Einem projektkonstituierenden Workshop im März 2002 in Santiago de Compostela folgte im Juni 2003 ein weiterer in Breslau und Kreisau mit dem Titel „Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik, Geschichtskultur – Polen und Spanien im Vergleich“. Der Sammelband dokumentiert die Workshopbeiträge, die für den Abdruck überarbeitet und im Falle der polnischen Referate übersetzt wurden. Die Bearbeitung fiel, dies sei sogleich angemerkt, sehr unterschiedlich aus. Manche Beiträge kommen gänzlich ohne Anmerkungen aus, anderen ist zumindest eine Bibliografie der verwendeten Literatur beigefügt, wieder andere vereinigen beides. Sicherlich wäre hier eine größere Einheitlichkeit wünschenswert gewesen, doch wer schon einmal einen Sammelband in diesen Dimensionen herausgegeben hat, wird Verständnis dafür aufbringen, dass ein gleichbleibendes Niveau vielfach Wunschtraum ist, zumal wenn Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen und Autoren mit unterschiedlichsten Ansätzen vereint werden sollen. Gleichwohl steckt in dieser Vielfalt auch die Gefahr, dass der Rahmen zu weit gesteckt wird. Die Herausgeber sprechen in diesem Zusammenhang selbst von einem „Wagnis“ (S. 9).

Auf den ersten Blick könnte man meinen, mit der Diktaturbewältigung in Polen und Spanien würden Äpfel mit Birnen verglichen. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht der einleitende Beitrag der beiden Herausgeber. Sie sehen „augenfällige Parallelen“ (S. 8) im Übergang von der Diktatur zur Demokratie in beiden Staaten. Sie begründen dies mit der erst wenige Jahre geführten Diskussion in Polen, die sich mit dem Ortsnamen Jedwabne verbindet, und der ebenfalls erst vor wenigen Jahren ins Leben gerufenen „Gesellschaft zur Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses“ (Asociación para la recuperación de la memoria histórica) in Spanien, die mit der Forderung nach Exhumierung und Identifizierung Ermordeter aus der Franco-Diktatur den spanischen „Schweigekonsens“ (S. 8) gebrochen habe. Es gäbe noch weitere Parallelen – etwa den Verlust einer zeitweiligen Großmachtrolle, die Abkoppelung von einer gesellschaftlichen und politischen Modernisierung, die herausragende Bedeutung des Katholizismus und eine wahrgenommene Rückständigkeit.

Der Sammelband fokussiert dann jedoch die „Diktaturbewältigung“. Er folgt den Sektionen des Workshops. Die vier großen Themenblöcke sind „Diktatur und Gedächtnis“, „Die Diktatur als Gegenstand historischer ‚Meistererzählungen’“, „Diktaturerinnerung und Öffentlichkeit“ sowie „Nation und Region nach der Diktatur“. Ein Exkurs nach dem ersten Block beschäftigt sich mit dem „Kreisauer Kreis in der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus“. Thematisch fällt dieser Beitrag aus dem Rahmen des Sammelbandes heraus und ist wohl Kreisau als einem der Tagungsorte geschuldet.

Der eigentliche Einführungsbeitrag „Spanien im polnischen Spiegel“ von Jan Kieniewcz benennt das bestimmende Thema des Sammelbandes: die „Kultur des Vergessens“. Kieniewicz betont, wie das spanische Beispiel eines Übergangs von der Diktatur zur Demokratie ohne kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in Polen ebenfalls benutzt wurde, sich in der Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit zu spiegeln (S. 23).

Der sich anschließende erste Block „Diktatur und Gedächtnis“ wird eingeleitet durch einen Aufsatz von Stefan Troebst, der sowohl in das Themenfeld Erinnerungspolitik, Vergangenheitspolitik, „Vergangenheitsbewältigung“ und „Geschichtsbesessenheit“ einführt als auch speziell auf den Vergleich Polen/Spanien eingeht. Etwas undifferenziert kommt er jedoch zu der Feststellung, dass der bundesdeutschen Variante der Vergangenheitsaufarbeitung/-bewältigung andernorts in Europa „weniger rigide Formen des Umgangs mit dem Diktaturerbe“ gegenüber stünden (S. 28), zum Beispiel in Polen und vor allem in Spanien. Zu fragen ist, wann der „Umgang mit dem Diktaturerbe“ in der Bundesrepublik „rigide“ gewesen sein soll. Claudia Kraft widmet sich in ihrem Beitrag „Diktaturbewältigung und Geschichtskultur in Polen und Spanien im Vergleich“ den beiden Ländern ausführlicher. Ihre These lautet, „dass die jüngste Hinwendung in Spanien zu der verdrängten Geschichte des Bürgerkriegs, die sich etwa in den Exhumierungen von Massengräbern ausdrückt, nicht Ausdruck eines Generationswechsels im Land ist, sondern stark beeinflusst wurde durch die Rede von der ‚Wiederherstellung des Gedächtnisses’ nach der Diktatur, die nach 1989 für Ostmitteleuropa charakteristisch wurde“ (S. 39). Die folgenden Beiträge dieses Teils beschreiben sodann die Art des heutigen „Gedächtnisses“ an die Diktaturen in den beiden Ländern. Untersucht werden die künstlerische Verarbeitung (im Beitrag von Mateusz Werner), das polnische Zentrum KARTA, das der „Dokumentierung und Popularisierung der neuesten polnischen und osteuropäischen Geschichte“ gewidmet ist (im Beitrag von Zbigniew Gluza), sowie der spanische Versuch, das Gedächtnis durch Exhumierung der Opfer wiederherzustellen (im Beitrag von Emilio Silva Barrera, dem Begründer der „Gesellschaft für die Wiederherstellung des Historischen Gedächtnisses“ in Spanien).

Der zweite Themenblock („Die Diktatur als Gegenstand historischer ‚Meistererzählungen’“) analysiert anhand von Fernsehserien (David Rey), Printmedien (Julia Macher) und Schulbüchern (Heike Mätzing, Krzysztof Ruchniewicz) das „Bild“ von der Diktatur. Hier ist ein deutliches Übergewicht der Beiträge zu verzeichnen, die sich mit der Lage in Spanien befassen. Ein Vergleich mit der polnischen Situation wird nur durch den Beitrag von Ruchniewicz über die polnischen Schulbücher möglich. Weitere Beiträge widmen sich anderen Themen: Kaja Kazmierska schreibt über das Bild des Zweiten Weltkriegs in den Erzählungen polnischer Zeitzeugen, Jan Stanislaw Ciechanowski über den geschichtspolitischen Umgang mit dem Spanischen Bürgerkrieg aus polnischer Perspektive.

Der dritte Hauptteil („Diktaturerinnerung und Öffentlichkeit“) versammelt Beiträge, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten der Erinnerung an die Diktatur beschäftigen. Es finden sich Darstellungen über den Etablierungsversuch eines nationalen Feiertags in Spanien (Carsten Humlebaek), über die Gedenkstätte Auschwitz in den Jahren 1945-1955 (Zofia Wóycicka), über die Historiografie zu den spanischen Konzentrationslagern (Javier Rodrigo) sowie zur Frage, ob im Baskenland die „Vergangenheitsbewältigung“ bereits in der Franco-Ära begonnen habe (Amaia Lamikiz Jauregiondo). Darüber hinaus beschäftigen sich Hanna Naimska mit den Veränderungen im Alltagsleben in Kastilien und Kulawien und Pawel Sowinski mit organisierten Urlaubsreisen in Polen in den Jahren 1945-1989. Insgesamt fällt es in diesem Block schwer, den vergleichenden Ansatz noch nachzuvollziehen. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Beiträge, so dass es letzten Endes bei der Beschreibung unterschiedlicher, wenn auch interessanter Aspekte bleibt.

Dieses Problem begegnet dem Leser ebenso im vierten Themenblock („Nation und Region nach der Diktatur“). Vergleiche können schon deshalb nur schwer gezogen werden, weil sich drei von vier Beiträgen allein mit Spanien beschäftigen (Xose-M. Núñez Seixas über die Frage, ob es einen spanischen Nationalismus nach 1975 gegeben habe; Ludger Mees über das Baskenland; Antonio Sáez-Arance über einen nationalkonservativen Geschichtsrevisionismus, der auf eine Wiederbelebung des Zentralismus abziele). Der polnische Beitrag (Teresa Kulak) beschäftigt sich mit dem Konzept eines polnischen Regionalismus.

Eine abschließende Bewertung fällt angesichts der Vielfalt der interessanten Beiträge schwer. In ihrer Gesamtheit beleuchten sie die verschiedensten Aspekte des Themas und stellen zugleich eine Art Bestandsaufnahme dar. Wünschenswert für den Leser wäre es sicherlich gewesen, wenn die Herausgeber nicht nur den vergleichenden Ansatz erklärt hätten (warum Spanien und Polen?), sondern stärker versucht hätten, die Ergebnisse zusammenzuführen und sie somit vergleichbar zu machen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension