K. F. Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise

Cover
Titel
Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973).


Autor(en)
Hünemörder, Kai F.
Reihe
Historische Mitteilungen Beiheft 53
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna-Katharina Wöbse, Burgwedel

Versucht man die Wendepunkte der Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu ermitteln, fällt die Zeit von 1970 bis 1972 besonders auf. In diesen Jahren schienen die Suffixe „Umwelt-„ und „Öko-„ in Kombination mit den unterschiedlichsten Begriffen ungebändigt aus der Vokabelkiste der gesellschaftlich virulent gewordenen Themen zu springen. Den schillernden Epochenbeginn eines veränderten Bewusstseins vom Mensch-Natur-Verhältnis markierte 1970 der erste „Earth Day“ in den USA, an dem 20 Millionen BürgerInnen ihrem Unmut über eine zunehmende Naturzerstörung Ausdruck gaben. Das Thema Umwelt wurde populär, entgrenzt und Gegenstand internationaler Diplomatie. 1972 war das Jahr der Stockholmer UNO-Konferenz „Der Mensch in seiner Umwelt“ und das Jahr der Veröffentlichung der Club-of-Rome-Studie mit dem beunruhigenden Titel „Die Grenzen des Wachstums“. Die Massenproteste, schockierenden Publikationen und explodierenden Zahlen entsprechender internationaler Gipfeltreffen legen nahe, hier die Geburtsstunde des unter dem Label „Ökologie“ firmierenden Interpretationsmodells anzusetzen, in dessen Folge sich auch die ‚Umweltgeschichte‘ erfand. Worauf aber gründet sich die bemerkenswerte „Anfälligkeit“ für so genannte „grüne“ Themen? Woher stammt die erstaunliche Bereitschaft nationaler Politik, sich dieser internationalen Auseinandersetzung zu stellen? Woher also, kurz gesprochen, kam der plötzliche Sinneswandel?

In seiner Dissertation hat sich der Umwelthistoriker Kai F. Hünemörder mit der (deutschen) Geschichte dieser „entscheidenden Jahre [auseinandergesetzt], in denen sich das regionale Unbehagen bahnbrach und das Bewusstsein von den Grenzen des Wachstums den ‚Fortschritt‘ als entscheidende Denkkategorie der Neuzeit ins Wanken brachte“ (S. 11). Dafür holt er weit aus. Zu Recht – denn die Tradition der Bekämpfung von Luft- und Wasserverschmutzung und Naturzerstörung reicht in Deutschland weit zurück. Hünemörder skizziert in groben Zügen die verschiedenen Entwicklungsstränge von urbanen bzw. industriellen Hygieneinitiativen einerseits und „klassischem“ Naturschutz andererseits und konzentriert sich dann auf die „Zeit der technischen Lösungsansätze“ nach 1945. In die schier unübersehbare Gemengelage paralleler Handlungsinitiativen setzt er Fokussierungspunkte, um die Entwicklungen in der Bundesrepublik an konkreten Beispielen zu überprüfen.

Hünemörder richtet sein Hauptaugenmerk zunächst auf die Entwicklung der politischen, administrativen und öffentlichen Wahrnehmung von Luft- und Gewässerverschmutzung in Nordrhein-Westfalen. Nun liegt es nahe, dieses hochindustrialisierte und bevölkerungsdichte Bundesland für die Untersuchung heranzuziehen; allerdings sind einzelne Medien und Regionen dort umwelthistorisch bereits gut erforscht. Hünemörder aber arbeitet synthetischer und stützt seine Untersuchung auf eine ungewöhnlich breite Quellengrundlage. Er arbeitet nicht nur mit dem einschlägigen Aktenmaterial, sondern greift auf die Kommentare der Tagespresse und eigene Interviews mit Protagonisten ebenso zurück wie auf Parteiprogramme, Meinungsumfragen und Manuskripte von Radiosendungen und Filmen.

Hünemörder zeigt, wie technische Lösungen gegen die Verschmutzung unter den Vorzeichen der Gesundheitsfürsorge zwischen Ministerialbürokratie, Ingenieuren und Wirtschaft ausgehandelt wurden – ohne unmittelbar eine kohärente Vorsorgepolitik oder ein umfassenderes Umweltverständnis zur Folge zu haben. Aber die Schranken dieser „segmentierten Wahrnehmung“ (S. 113) begannen zu bröckeln. Willy Brandts eingängige Forderung vom „blauen Himmel über der Ruhr“ korrespondierte mit neuen sozialpolitischen Schwerpunktsetzungen, die eben auch „Volksgesundheit und Stadterneuerung“ als zu propagierende Gemeinschaftsaufgaben verstanden. Gleichzeitig lieferten die Medien beunruhigende Bilder, die die Zerstörung der unmittelbaren Lebenswelt verdeutlichten. Die zunehmende Vergiftung des Rheins zum Beispiel war schon lange Gegenstand multilateraler Verhandlungen, aber erst als im Juni 1969 nach Chemieeinleitungen Millionen Fische bauchoben stromabwärts trieben, kam es zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit. Das Sichtbarmachen der Eingriffe in die Natur entpuppt sich als ein zentraler Faktor bei der Herausbildung eines breiteren Umweltbewusstseins. Tatsächlich könnte man diese Zeit in Anknüpfung an Luhmann als Latenzphase bezeichnen.

Mit der anschließenden Untersuchung internationaler Impulse bei der Formierung deutscher Umweltpolitik gewinnt das Buch an Dynamik. Hünemörder zeichnet nicht nur die Bedeutung der amerikanischen Umweltpolitik für die deutsche Entwicklung nach, sondern analysiert auch das Zusammenspiel von internationalen Organisationen und zeigt die Antriebskraft der „International Union for the Conservation of Nature“, deren Experten seit 1946 kontinuierlich die globale Dimension der Naturzerstörung postulierten. Äußerst spannend sind die Ausführungen über OECD und NATO. Dass diese Organisationen sich etwa mit Problemen des CO2-Ausstoßes und den resultierenden Klimaveränderungen auseinandersetzten, deutet zum einen die wachsende Furcht vor daraus entstehenden Sicherheitsrisiken an; zum anderen galt es, Regulierungsmaßnahmen zu entwickeln, die den eigenen Interessenlagen entsprachen. Aber in diesem Fall „war die NATO zu spät gekommen“ (S. 145) – längst hatte die UNO die führende Koordinierungsrolle in Sachen Umwelt übernommen.

In der Folge bindet Hünemörder diese Anstöße wieder in die bundesrepublikanische Geschichte ein und gleicht sie mit den innerdeutschen Entwicklungen ab. Die Skepsis gegenüber Großplanungen und rein technischen Lösungen schrieb sich langsam in den gesellschaftlichen Kanon ein. Im Exkurs zur wissenschaftlichen „Futurologie“ wird deutlich, wie sich die westdeutsche Wissenschaft aus ihrer Zukunftsvergessenheit löste, während die Politik versuchte, sich mittels einer Vorreiterrolle in Umweltfragen ein neues internationales Profil zu verschaffen. Erstaunlich früh ist in deutschen Ministerien die Frage der Umweltzerstörung in so genannten Drittweltländern aufgeworfen worden. Hünemörder öffnet nur schlaglichtartig eine vergleichende Aussicht auf die Position der DDR, kann aber doch zeigen, dass das junge Politikfeld im Kontext des Kalküls des Kalten Krieges auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs analysiert werden muss. Schließlich wird hier noch Partizipationsmodellen und Demokratisierungsprozessen nachgespürt, ohne die die Karriere internationaler Umweltpolitik kaum denkbar ist.

Hünemörder stellt sich der historischen Komplexität des Themas und nimmt viele Fäden auf, aus denen das dichte Netz des entstehenden Umweltdiskurses geknüpft ist. Es ist eine bemerkenswerte Leistung, die unterschiedlichen Stränge zusammenzuführen. Denn Hünemörder bescheidet sich nicht mit der bürokratischen oder politischen Ebene, sondern beleuchtet auch die gesellschaftlichen, medialen und individuellen Folien, vor denen die Umweltdebatte entstand. Die teilweise sehr trockene Empirie der Ministerialbürokratien wird kontinuierlich aufgebrochen mit Hinweisen auf Pop- und Protestkulturen; den anonymen internationalen Organisationen wird die Einflussnahme einzelner charismatischer Personen wie Bernhard Grzimek, Julian Huxley und Jacques Costeau beigestellt.

Bestimmte Themen werden quer durch die Kapitel verfolgt. Dazu gehören die Vermittlungsleistungen der Medien, die sprachlichen Selbstfindungsprozesse der Umweltbewegung, die steigenden Antagonismen zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressen, politische Polarisierungen oder das Verhältnis von nationalstaatlichen Interessen zu außenpolitischer Repräsentation. Aber die Stärke des Buches – sein Facettenreichtum – birgt auch ein Problem. Man wünscht sich streckenweise mehr Kommentierung und inhaltliche Stringenz. Wenn man jedoch zu eigenen inhaltlichen Transferleistungen bereit ist, ist die Lektüre sehr zu empfehlen. Der oft nebulös wirkende Prozess der Globalisierung erfährt hier eine konkrete umwelthistorische Lesart. Das Buch bietet nicht zuletzt eine Orientierungshilfe in der akuten Unübersichtlichkeit internationaler Umweltpolitik und zeigt bestimmte Muster ihrer Konjunkturen, die ungebrochen gültig sind.

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