J. Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie / Albigenserkreuzzug

: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Köln 2003 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-15902-6 747 S. in 2 Bd. € 84,00

: Der "Kreuzzug" gegen die Albigenser. Ketzerei und Machtpolitik im Mittelalter. Darmstadt 2003 : Primus Verlag, ISBN 3-89678-464-1 222 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael de Nève, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Non olet, soll Titus seinem Vater Vespasian geantwortet haben, als dieser ihm den ersten Erlös aus seiner neu erschlossenen Einnahmequelle unter die Nase hielt. Im Fiskaldenken der Flavier mochte ein solch unbedarfter Umgang des Gelderwerbs nichts Anrüchiges gehabt haben. Die Theologen des Mittelalters, denen das Gleichnis vom Reichtum, „dass ein Kamel eher durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Vermögender ins Himmelreich komme“, als ethische Richtschnur galt, bewerteten dies anders. Mit dem patristischen Verdikt über ausbeuterische Kapitalakkumulation durch Handel, Zins und Wucher, mit den Agitationen der radikalen Armutszeloten, die ihre Weltverachtung wanderpredigend seit dem 11. Jahrhundert in Westeuropa propagierten, vor allem jedoch mit dem Wirken eines Petrus Waldes oder Franz von Assisi war das Selbstverständnis der im Gefolge der „révolution commerciale“ emporgekommenen neureichen städtischen Schichten im Grunde unvereinbar.

Jörg Oberste versucht nun den Prozess dieser Concordia discordantium in seiner 2000/2001 an der Technischen Universität Dresden angenommenen Habilitationsschrift über Religiosität und sozialen Aufstieg der städtischen Eliten des 12. und 13. Jahrhunderts im Allgemeinen und in Toulouse im Besonderen nachzuzeichnen. Er spannt dabei den Bogen von der „pastoralen“ zur „kaufmännisch-bürgerlichen Wende“ im 13. Jahrhundert. In den Toynbeeschen Kategorien von „challenge“ und „response“ ließe sich die Thematik in zwei Bereiche trennen, deren erster sich mit der kirchlichen Antwort auf die gewandelten Herausforderungen der sozio-ökonomischen Transformationsprozesse, die das Abendland seit dem 11. Jahrhundert durchlief, befasst: der Untersuchung jener „nouvelle prédication“, die sich seit einem Jahrzehnt zu einem veritablen Forschungsfeld der Medieval Studies entwickelt hat.

Das, was Oberste hier vorlegt, kann durchaus als eine der solidesten Zusammenfassungen dieser dornigen Materie gelten und wird dem ersten Band schon allein deshalb bleibenden Wert sichern. Er ist in drei Großkapitel gegliedert. Bereits diese Disposition zeigt den Gang der Argumentation, die die Grundlegung, die Verfestigung und schließlich die Aufweichung des kirchlichen Handels-, Wucher- und Zinsverdikts ebenso minutiös wie quellengesättigt und forschungsnah nachzeichnet. Beginnend mit der Moral- und Poenitentialtheologie der Kirchenväter kommt Oberste über die karolingische Kapitular- und Synodalgesetzgebung zur Kanonistik eines Honorius Augustodunensis, eines Ivo von Chartres und Gratian, um schließlich bis zur scholastischen Kasuistik vorzudringen, wie sie im 13. Jahrhundert an den Schulen der Île-de-France ihre Triumphe feierte.

Die viel beschworene „pastorale Wende“ um 1200, der das umfangreiche zweite Großkapitel gewidmet ist, mit ihren Propagatoren um den ebenso resonanz- wie wirkmächtigen Kreis des Petrus Cantor, dem mit Alanus von Lille, Thomas von Chobham und Robert von Courçon, vor allem jedoch mit Jakob von Vitry weithin vernommene Stimmen gegeben wurden, brachte zwar kommunikationstheoretische und mediale Innovationen, wirkte moraltheologisch und wirtschaftsethisch jedoch eher konservativ. Nicht ohne Grund analysiert Oberste daher eines der theologischen Genera minora, nämlich die Homilien und Summen De usura, die groß angelegte Antiwucher-Predigtkampagnen vorbereiteten und flankierten. Als die eigentlichen Neuerer traten erst die mendikantischen Prediger und Theologen in Erscheinung, die Oberste mit Humbertus de Romanis, Guibert von Tournai, Berthold von Regensburg und Raimund von Peñaforte ausführlich zu Wort kommen lässt. Profitstreben und Christlichkeit wurden nun nicht mehr zwangsläufig als antithetische Größen dialektisch aufeinander bezogen, sondern konnten durchaus, wenn Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulation karitativen Zwecken dienten, in ein komplementäres Verhältnis zueinander gesetzt werden.

Der im Pontifikat Innocenz’ III. kanonisierte Cremoneser Fernhändler Homobonus hatte zwar schon früher den Weg zu dieser Umkehr vorgezeichnet. Mit der Regel des Dominikanerordens, die „den durch die Mendikanten des 13. Jahrhunderts allgemein zur Anerkennung gebrachten Kompromiss zwischen moralischem Rigorismus und wirtschaftlichem Pragmatismus, der bestimmte Formen der Zinsleihe und des kaufmännischen Gewinns für rechtmäßig und sogar förderlich ansah“ (Bd. I, S. 299), kodifizierte, wurde diese Wende aber erst auch institutionell vollzogen. Die Virulenz, ja Brisanz dieser Konversion lag darin, dass im 12. und 13. Jahrhundert nicht nur der ökonomische Aufbruch, sondern in vielleicht noch revolutionärerem Maße ein religiöser die bestehenden Normen und Werte modifizierte oder gänzlich obsolet werden ließ.

Den Herausforderungen, die die technischen Neuerungen, die Innovationen im Kreditwesen, die Optimierung in den arbeitsteilig organisierten Produktionsabläufen, das Rentabilitäts- und Profitdenken, also die Rationalisierung und Effizienzsteigerung in Handel und Gewerbe, aber auch die stratifikatorischen Prozesse, die die Ausbildung städtischer Eliten wie urbaner Unterschichten mit sich brachten, begegnete die Kirche offensiv: koordinierte Predigtfeldzüge, verschärfte Beichtpraxis und eine immer sublimere Buß- und Fegefeuertheologie waren Fermente dieser neuen Seelsorge, die treffend als „Kontrollverdichtung“ (Ertl) bezeichnet wurden. Die Antwort der Laien auf die Frakturen in dieser Epoche des Um- und Aufbruchs fand sich in den neuen Formen der Frömmigkeit und dem Aufkommen orthodoxer wie devianter religiöser Bewegungen, deren oft krasser Antimaterialismus ihr einendes Element gewesen zu sein scheint. Bis in die mittelalterliche Rechtsparömie ging dieser Gedanke, wenn es hieß, nummus nummum non parit, dass also Geld kein Geld erzeugen solle. Doch dabei blieb es nicht.

Oberste wertet in seiner Untersuchung über diesen epochalen Paradigmenwechsel daher zuerst die normativen Texte aus. Neben den moraltheologischen Werken, den Dekretalensammlungen und Synodalstatuten sind dies die scholastische Traktate, die artes praedicandi und die Beichtsummen. Die zentralen Corpora bilden jedoch die großen Predigsammlungen des 13. Jahrhunderts, wobei Oberste zurecht die Aporien von Abfassungsintention und Kommunikationssituation der Ad-status-Predigten thematisiert. Besonderes Gewicht kommt dabei den in Abundanz kursierenden Exempla-Sammlungen zu, die prima vista durch ihr hohes Maß an Realismus zu bestechen scheinen. Sie werden seit Jahren von der Mediävistik als oft getreues Abbild der Wirklichkeit gelesen und gedeutet. Man hätte sich vielleicht gewünscht, dass demgegenüber den Reflexen der beschriebenen tiefgreifenden demografischen, sozialen, ökonomischen und mentalen wie religiösen Brüche in den originären Zeugnissen der hochmittelalterlichen Historiografie in einem separaten Kapitel nachgegangen worden wäre. Denn oft waren es doch gerade die Chroniken, die mit seismografischem Gespür ein Sensorium für die Metamorphosen auch des städtischen Milieus entwickelten, um dessen Erschütterungen mit erstaunlicher Präzision zu registrieren.

Oberste hat für die Exemplifizierung der „pastoralen Wende“ in diesem Milieu mit Bedacht einen der prominentesten Fälle ausgewählt. Toulouse eignet sich als „case-study“ wie kaum eine zweite für die Frage nach „Heiligkeit und Häresie“. Hier im „Languedoc cathare“ konnte sich die dualistische Ketzerei erfolgreicher als irgendwo sonst festsetzen und ihren auf die „catholitas“ so zersetzend wirkenden Einfluss gewinnen. Hier fand die neue Erwerbsmentalität einen ebenso fruchtbaren Nährboden wie in Flandern, dem Rheinland oder der Lombardei. Hier kam es mit der Vertreibung des Diözesanbischofs, dem Albigenserkreuzzug, der Etablierung der Mendikanten und den Prozesswellen der Inquisition auf der eine Seite und dem situativ angepassten Handeln der städtischen Führungsschichten auf der anderen zu Entwicklungen, die Oberstes seit den Studien von Weber, Little und Le Goff nicht mehr ganz neue These vom Zusammenhang von Religiosität und sozialem Aufstieg ökonomischer Eliten stützen. Allerdings fanden hier im Midi die großen Prediger erst ihre eigentliche Aufgabe: War der Norden Frankreichs noch das Experimentier-, so wurde der Süden bald zum Exerzierfeld der „nouvelle prédication“. Zudem ist auch hier die Quellenlage äußerst günstig. Oberste kann sich auf Stiftungen, Testamente, Cartularien, Register, Bußsummen, Predigsammlungen, Gerichtsakten, Inquisitionsprotokolle, Chroniken und Fundationsberichte stützen, unter ihnen jener aus der Feder des berüchtigten Bernardo Gui über die Anfänge des Dominikanerkonvents von Toulouse.

So wird in drei Großkapiteln der Körper der Stadt und ihrer „grandes familles“ zwischen Emanzipationsbestrebungen und Konformitätszwängen seziert. Der untersuchte Zeitraum erstreckt sich von 1152 bis 1296, also grob von der kommunalen bis zur Kapetinger-Herrschaft. Das Fundament bildet die Sakraltopografie der Stadt, die Oberste in all ihren sozialen, politischen und historischen Bezügen detailliert freilegt. In Toulouse, der „Mutter der Häresie“, kam es nicht anders als in den übrigen urbanen Zentren des Südens mit der Infiltration der Ketzerei zu einem Nebeneinander von Katharertum und Katholizismus, das den inneren Konsens erst ernstlich zu gefährden begann, als der Kommune mit dem Albigenserkreuzzug das Ende drohte.

Diese traumatische Urkatastrophe der Geschichte Okzitaniens behandelt Oberste ausführlicher in dem dritten der hier anzuzeigenden Bücher. Es ist an ein breites Publikum adressiert und präsentiert eher ereignisgeschichtlich ausgerichtet in ansprechender Form all jene Fakten von den Troubadours über den „bûcher de Béziers“ bis zum Fall von Montségur, ohne die die südwestfranzösische Tourismusbranche und die moderne Esoterik wohl kaum ihr Auskommen finden könnten. Man erwehrt sich allerdings mitunter hier und da kaum des Eindrucks, dass es nicht immer und überall mit derselben Akkuratesse verfasst wurde, die Oberstes sonstige Arbeiten auszeichnen, etwa wenn „Jakob von Vitry“ am 17. Juli 1216 bereits als „Bischof“ (S. 135) in Perugia eintrifft (obwohl er erst vom wenige Tage danach gewählten Papst Honorius III. geweiht wurde) oder wenn er in einem „Brief an das Domkapitel von Vitry“ (S. 165) zitiert wird, wo es gar kein Kathedral-, sondern lediglich ein – allerdings bedeutendes Augustinerchorherrenstift gab. Trotz allem illustriert dieses Buch den zeitgenössischen Hintergrund anschaulich und liefert das nötige Lokalkolorit, um die „épopée cathare“ des Kreuzzuges gegen die Albigenser in seinen historischen Kontexten zum Leben zu erwecken.

Diesem Drama ist aus mikrohistorischer Perspektive auch das zweite Großkapitel des zweiten Bandes von Oberstes Habilitationsschrift gewidmet. Es beleuchtet die Machtverhältnisse am Vorabend des Krieges, referiert die zentralen Ereignisse, ohne die religiösen und politischen Konflikte, die Zerreißproben innerhalb der „Familien“ im Besonderen, aus den Augen zu verlieren, und mündet dann in den Strudel der Prozesslawine von 1236 bis 1247. Nicht ohne Anklänge an das Bahn brechende Opus von Emmanuel Le Roy Ladurie überschrieb Oberste diesen Abschnitt „Eine Stadt vor dem Inquisitor“. Die Passagen gehören zu den lesenswertesten von Oberstes okzitanischem Triptychon, zeigen sie doch, wie die Inquisition mittels dieses neuen Verfahrens nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Familien, ja eine gesamte Stadt unter ihr Joch zu zwingen vermochte.

Es handelte sich jedoch um eine Art do ut des, dessen Determinanten Oberste im letzten Großkapitel der Habilitationsschrift offenbart: „Der Einzelne vor Gott und in der Gemeinschaft“. Hier nun wird deutlich, wie das Individuum in die beschriebene Sakraltopografie der Stadt eingebunden war, worin die Attraktivität der neuen wie der alten Religion lag und wie es den Mendikanten dennoch gelang, die theologisch bald desavouierten Kaufleute, bald inkriminierten Ketzer in den Schoß der Kirche zurückzuholen. Oberste kann deutlich herausarbeiten, dass die Partizipationsmöglichkeiten der Toulousaner Eliten durch eine laikale, semireligiose, religiose und häretische Frömmigkeits-Infrastruktur, die sich teilweise in Konkurrenz zum Pfarrsprengel etabliert hatte, bereits sehr breit gefächert war, als Bettelordenskonvente in Toulouse implementiert wurden. Eine eigene Dynamik gewann der Prozess der kirchlichen Integration dann zusätzlich noch, als durch das sich intensivierende Bruderschaftswesen, die lokale Heiligenverehrung und bürgerliche Hospitalstiftungen die Antinomie von „Heilshoffnung und Geschäft“ in der „Religiosität der letzten Stunde“ aufgehoben wurde. Das, was man als Wandel von der Konfrontation zur Kooperation und (Re-)Integration bezeichnen könnte, hat Oberste schließlich plausibel anhand der Testierpraxis untersucht.

Deren wichtigste Zeugnisse stellt der Autor im Anhang als Edition bzw. Regest zur Verfügung. Quellen- und Literaturverzeichnisse, die für jeden Band separat erstellt wurden, runden das Opus magnum ab. Die ebenfalls separaten Register wurden leider nicht überall einer Schlusskorrektur vor dem letzten Umbruch unterzogen: die Seitenzahlen verweisen z.T. ins Leere. Das ist um so bedauerlicher, als ein Publikum, das die hier und da von gelegentlichen Redundanzen und eingestreuten Exkursen nicht immer ganz freien Bände zur Gänze lesen wird, außerhalb eines Kreises von versierten Mediävisten und Theologen wohl angesichts der speziellen Thematik rar gesät sein dürfte. Natürlich kann dadurch nicht der Wert dieser beiden Studien geschmälert werden, die eine Etappe jenes weiten Weges vom Herrenwort, dass man nicht „Gott und Mammon“ zugleich dienen könne, bis hin zur kapitalistischen Wirtschaftsethik Calvins und der „New Economy“ Bushschen Zuschnitts, in der Mühsal, Nüchternheit, Verzicht und christliche Sittenstrenge sehr wohl mit Profitdenken und Gewinnstreben konform gehen können, auf so anregende Weise nachzeichnen.

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