Cover
Titel
Penser la Grande Guerre. Un essai d'historiographie


Autor(en)
Antoine, Prost; Jay Winter
Reihe
Points histoire
Erschienen
Anzahl Seiten
346 Seiten
Preis
EUR 8.-
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Nicolas Beaupré Centre de recherches interdisciplinaires sur l'Allemagne (CRIA, EHESS) Paris

Nach über fünfzehn Jahren tiefgreifender Erneuerung des Forschungsfeldes Erster Weltkrieg scheint die Zeit für eine Bilanz gekommen zu sein. Ein gutes Beispiel dafür bilden die zwei ausgezeichneten, aber sehr verschiedenen Enzyklopädien des Ersten Weltkrieges, die 2004 in Deutschland und in Frankreich erschienen sind. Antoine Prost und Jay Winter – zwei renommierten Spezialisten für die Geschichte des Ersten Weltkrieges – haben eine andere Form gewählt, um ihre eigene, nämlich eine reflexive und historiographiegeschichtliche Bilanz zu ziehen. Mit diesem Buch bieten die beiden Nestoren der Weltkriegsforschung dem französischen Publikum – und bald auch in englischer Übersetzung – einen „historiographischen Essay“ über die verschiedenen Forschungsfelder, in die sich die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg seit 1918 ausdifferenziert hat.

Dieser Versuch ist umso mehr ambitioniert, als die Autoren erkennen, dass „der Erste Weltkrieg niemandem gehört, nicht einmal den Historikern“ (S. 9). Mit diesem Satz deuten sie zu Recht an, dass ein Überblick über die Deutungen des Krieges sich nicht auf die ‚wissenschaftlichen’ Werke der Historiker beschränken kann. Denn in der Tat haben Vertreter anderer Sozialwissenschaften, ehemalige Soldaten, Offiziere, Politiker etc. Darstellungen und Interpretationsmuster entwickelt, die in vielen Ländern lange Zeit gewirkt haben und diskutiert worden sind. Manche Historiker waren auch selbst ehemalige Frontkämpfer oder zumindest Zeitzeugen der Kriegsgeschehens. Die Wahrnehmung dieses breiteren intellektuellen Kontexts, die sich auf die imponierende Beherrschung einer enormen Bibliographie stützt, in welcher die Historikerzunft nur einen Teil darstellt, ist nicht der geringste Verdienst dieses Buches. Der internationale Blick (auch wenn die deutsche Forschung im Buch das ‚parent pauvre’ bildet), den die Autoren auf die Frage zu werfen versuchen, stellt ein weiteres Interesse des Werkes dar. Die Internationalisierung der Forschung zum Ersten Weltkrieg ist tatsächlich eine der bedeutendsten Tendenzen der in diesem Buch präsentierten Geschichtsschreibung.

Die Hauptthese des Buches ist, dass die Historiographie des Ersten Weltkrieges chronologisch geprägt worden ist. Die Autoren stellen dabei drei historiographischen „Konfigurationen“ heraus. Die erste Konfiguration entsteht kurz nach dem Krieg. Hier geht es um die militärischen Ereignisse und die politischen Verantwortlichkeiten für den Krieg im Allgemeinen, um einzelne Entscheidungen während des Krieges im Hinblick auf Sieg oder Niederlage. Die zweite Konfiguration entwickelt sich hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg – wenn auch einige Schriften der Carnegie Foundation in den zwanziger und dreißiger Jahren dafür wegweisend waren. Diese Konfiguration ist sozial, ökonomisch und kritisch ausgerichtet. Dabei spielten marxistischen Analysen eine wichtige Rolle. Die dritte und aktuelle Konfiguration ist weiterhin sozialgeschichtlich ausgerichtet, aber von einer starken kulturalistischen Wende beeinflusst worden. Diese drei Phasen lösten sich nicht nacheinander ab, sondern sind stark miteinander verflochten.

Nach diesem ersten Kapitel, das den Aufbau des Buches bestimmt, kommen sieben thematische Kapitel und ein Schlusskapitel. Die drei Konfigurationen werden dann bei jedem der Themenfelder überprüft (Diplomatische und internationale Geschichte, Fragen der Heeresleitung, Kriegsführung und Schützengraben, Industrieller Krieg, Krieg und Revolution, Heimatfront, Diskurse und Erinnerung), was manchmal zu Wiederholungen führt. Das zweite Kapitel zeigt etwa, wie zentral bereits seit 1914 die Frage nach den Ursachen des Krieges war. Zuerst haben die jeweiligen nationalen Diplomatiehistoriker über die Schuld am Krieg gestritten und diese polemisch und kontrovers gedeutet. Danach kam eine Phase der Suche nach den tieferliegenden Ursachen und eine kritische Wende, die sich mit der Fischerkontroverse zuspitzte. In der heutige Forschung ist diese Frage jedoch nicht mehr zentral und gilt oft als nebensächlich gegenüber der Frage nach der Einstellungen der Gesellschaften am Beginn des Krieges, die sozial, politisch, lokal und kulturell erforscht worden sind (u.a. in Arbeiten von Jean-Jacques Becker, Christian Geinitz, Hew Strachan, Jeffrey Verhey).

Das dritte Kapitel über die Heeresleitungen konzentriert sich hauptsächlich auf die britische Historiographie, wo die an Operationen interessierte Militärgeschichte – auch wenn sie sich erneuert hat – noch einen wichtigen Teil der Geschichtsschreibung darstellt. Das vierte Kapitel über die Soldaten, die Kriegsführung und den Schützengrabenkrieg zeigt, wie zunächst die Soldaten aus der klassischen Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden, weil deren Erfahrungen als zu ‚partiell’, wenn nicht partial und trivial für die Militär- und Politikhistoriker galt. Selbst Pierre Renouvin, der als Kriegsbeschädigter aus dem Krieg zurückkam, war 1937 der Meinung, dass der „Blickwinkel der Zeitzeugen zu gering war“ (S. 111). Für Prost und Winter waren die literarischen Zeitzeugenberichte und deren Verarbeitung in Anthologien oder kritischen Werken damals von marginaler Bedeutung, weil sie nicht das Interesse der Historiker erweckt haben. Doch selbst wenn diese zahlreichen Werke aus den historiographischen Diskussionen ausgeschlossen worden sind, erreichten die Kriegsschriftsteller trotzdem in fast allen ehemals kriegführenden Nationen große Publikumserfolge. Deshalb bedeutet ihre Ausschließung aus der Geschichtsschreibung nicht unbedingt, dass sie ein Randphänomen bildeten. Tatsächlich betonen auch Prost und Winter im achten Kapitel, dass in allen Ländern die literarische Verarbeitung des Krieges vom Anfang an eine zentrale Rolle in den verschiedenen Erinnerungskulturen gespielt hat, wenn auch die Historiker dies nicht immer wahrgenommen haben.

Die Kapitel fünf bis sieben sind im Kern wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragen gewidmet. Zunächst wird die Verbindung der Historiographie des Krieges mit der des Kommunismus und der Revolution aufgezeigt. Aus politischen Interpretationen der Rollen von Politikern, Gewerkschaften, Parteien und der Sozialistischen Internationalen entstand eine Konfiguration, die sich auf Transformationen innerhalb der Kriegsgesellschaften und der verschiedenen Schichten fokussierte. Dies führte zu der Frage: Warum und wie haben die Zivilgesellschaften im Krieg zusammen- und durchgehalten? Hier wird auch die Frage nach einer „culture de guerre“ aufgeworfen, welche Annette Becker und Stéphane Audoin-Rouzeau als zentral für die Kohäsion der Kriegsgesellschaften postuliert haben. Die beiden Autoren antworten darauf in einer nuancierten Weise. Sie plädieren für eine Pluralität der Kriegskulturen gegen eine übergreifende, gemeinsame „Kriegskultur“ und für eine Differenzierung dieser Kriegskulturen in Abhängigkeit von Kriterien wie Nationalität, Sozialschichten, Erfahrung, Geschlecht, Alter usw. (S. 222). Das achte Kapitel konzentriert sich auf die Erinnerungsmuster und –diskurse und auf die verschiedenen Instanzen, die in diesem Feld Meistererzählungen produzieren. Dabei werden auch die Kontingenzen und Brüche deutlich, welche diese Meistererzählungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts prägten.

Dieses sehr solide Werk lässt nichtsdestotrotz manche Fragen offen. Die verschiedenen Kontroversen (wie etwa die Fischer-Kontroverse, aber auch die aktuelle französische Debatte um die „Kriegskultur“ als Grund für die Unterstützung des Krieges durch die Soldaten) sind gut dargestellt, aber sie hätten an sich jeweils ein eigenes Kapitel verdient. Denn in der Tat waren und sind diese Debatten Symptome von viel breiteren Fragen und Problemen. Die gebündelte und komparative Erforschung dieser Kontroversen in einem Kapitel hätte es auch vielleicht erlaubt, die Beziehungen zu anderen Themenfeldern und anderen Historiographien näher darzustellen. Ein Beispiel: während die Berührungspunkte zwischen der Weltkriegsforschung und der Historiographie der Revolution von 1918/19 präsent sind, werden die drängenden Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen den beiden Weltkriegen und ihren Historiographien nur anhand der Fischer-Kontroverse erwähnt. Natürlich ist die Forschung über den Ersten Weltkrieg von der Zeit oder der Nationalität der Historiker abhängig sowie von ihrer eigenen Dynamik; sie ist aber auch von wissenschaftlichen Moden, von den Erneuerungen in anderen Themenfeldern und von großen überdisziplinären Paradigmen geprägt. Andererseits war die Forschung über den Ersten Weltkrieg zuweilen selbst wegweisend für andere Themenfelder. Dies ist aber ein Thema für sich, das noch nicht systematisch und komparativ erforscht worden ist. Die aktuellen Debatten in England und Frankreich sowie ältere Debatten in Deutschland über die Beziehungen zwischen Militärgeschichte und Friedenforschung – die leider nicht dargestellt sind – sollten die Historiker dazu anregen, diese zu erforschen und noch mehr reflexiv zu arbeiten. Dafür ist das Buch von Winter und Prost letztendlich ein gutes Werkzeug. Es ist so insbesondere auch für das deutsche Publikum nützlich, das den hiesigen Forschungskontext gut kennt, aber den französisch- und englischsprachigen gewöhnlich nur wenig. Das Buch ermuntert die Historiker des Ersten Weltkrieges auch dazu, ältere historische Werke neu zu lesen, und warnt uns so vor den Sirenenklängen der intellektuellen Moden und des ‚dernier cri’.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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