Cover
Titel
Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948


Herausgeber
N.N.
Erschienen
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Im Topos der Vertreibungen bündeln sich zentrale Erfahrungen eines Kontinents, der im 20. Jahrhundert zahlreiche, oft erzwungene Migrationsbewegungen erlebt hat. Zwischen den Balkankriegen des beginnenden wie des endenden Jahrhunderts mussten Millionen von Armeniern, Griechen, Türken, Juden, Polen, Deutschen, Russen, Ukrainern, Finnen usw. ihre Heimat verlassen. Traumatisiert und mit Alltagssorgen befasst – sofern sie überhaupt überlebten –, brachten die Vertriebenen ihre Erinnerungen nur unvollständig in die nationalen Gedächtniskulturen ein. Manchmal war die Erinnerung unerwünscht, manchmal gar verboten. Erst die Demokratisierung Ostmittel- und Osteuropas sowie die mediale Begleitung der jugoslawisch-serbischen Auflösungskriege frischten ein Gedächtnis auf, das sich nach wie vor aus millionenfach vorhandenen individuellen Erfahrungen zusammensetzt.

Die Literatur zum Thema „Vertreibungen“ hat in den letzten Jahren stark zugenommen, auch und vor allem im deutschen Sprachraum, selbst wenn eine aktuelle Gesamtdarstellung auf deutscher wie europäischer Ebene noch fehlt.1 Entzündet an Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ (2002), weiter entfacht durch die Forderungen des „Bundes der Vertriebenen“, vor allem zu Zwecken des deutschen Erinnerns ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu gründen, und zum Politikum geworden durch heftige Reaktionen darauf in Polen und Tschechien, hat das Thema nun auch mit voller Wucht die Medien erreicht. Neben Fernsehsendungen gibt es jetzt den hier vorzustellenden GEO-Bildband, reich illustriert und gut verpackt.

„Flucht und Vertreibung“ ist ein Sammelband, dessen Herausgeberschaft im Dunklen liegt. Trotz des Untertitels „Europa zwischen 1939 und 1948“ handelt es sich vor allem um eine Darstellung der Vertreibung von Deutschen. Einleitend greift Arno Surminski zur Feder, einer der profilierten deutschen „Heimweh“-Schriftsteller: Ausgewogen schildert er die Geschichte jahrzehntelangen vermeintlichen Schweigens über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.2 Er fordert eine kluge Begleitung der neuen Erinnerung an die Zwangsmigrationen, um zu verhindern, dass sich die Diskussion – in Deutschland – „in trüben, rechtsradikalen Seitenarmen verliert“ (S. 11). Surminskis Mahnung, aller Opfergruppen zu gedenken, greift Mathias Beer in seinem mit glänzender Sachkenntnis geschriebenen Überblick zur Vertreibung der Deutschen auf: Er setzt sie nicht nur in den Kontext anderer Vertreibungsereignisse, sondern korreliert sie, sehr zu Recht, auch mit den mehr oder weniger erzwungenen Umsiedlungen von Deutschen während der NS-Herrschaft (Stichwort: „Heim ins Reich“).

Die folgenden fünf Beiträge behandeln die Vertreibung ausschließlich der Deutschen aus den verschiedenen Himmelsrichtungen. Manfred Zeidler schildert Flucht und Vertreibung aus dem nördlichen Teil der einstigen deutschen Ostgebiete – leider ohne Kenntnis der mittlerweile wichtigen und umfangreichen polnischen Sekundärliteratur und weitgehend ereignisgeschichtlich. Ärgerlich ist Heinz Schöns Artikel zur Flucht über die Ostsee, der nicht nur keinerlei Fachliteratur benennt, sondern zudem kolportagehaft von „drahtigen und hünenhaft wirkenden“ Seeoffizieren schwadroniert (S. 106). Den glücklichen Landgang geflüchteter Mädchen kommentiert Schön mit der Bemerkung: „Sie fühlten weder Hunger noch Durst und sahen in die Sonne. Ein herrlicher Maitag empfing sie in der neuen Heimat.“ (S. 112)

Ebenfalls weitgehend auf die Deutschen beschränkt sich Arno Herzig in seiner Darstellung zu „Flucht und Vertreibung aus Schlesien“. Die langen Zitate aus dem Quellenwerk „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ (1952–1963) hätten durch die Ergebnisse neuerer, vor allem auch polnischer Forschungen ergänzt werden müssen. Sehr klar und ausgewogen ist dagegen Detlef Brandes‘ Schilderung von „Vertreibung und Zwangsaussiedlung“ aus der Tschechoslowakei. Die besonders brutale Behandlung der Sudetendeutschen erklärt Brandes gut nachvollziehbar aus den traumatisierenden Erfahrungen der Kriegsjahre. Auf demselben hohen Niveau bewegt sich Mathias Beers Beitrag über die Zwangsmigration der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa. Hier wird am Beispiel des Fluchtwegs einer Frau die individuelle Tragik der Vertreibungen deutlich: Frau P. floh vor der Roten Armee aus Jugoslawien, treckte über Ungarn nach Österreich, wurde dann in das noch sichere Oberschlesien gebracht, musste von dort erneut fliehen, und zwar nach Böhmen, wo sie das Kriegsende in Pilsen erlebte, aus dem sie in die Sowjetische Besatzungszone ausgewiesen wurde, die sie noch 1946 in Richtung Stuttgart verließ... (S. 178f.).

Die beiden Artikel zum polnischen Aspekt des Vertreibungsgeschehens wirken fast wie ein Feigenblatt für das weitgehend auf deutsche Erfahrungen beschränkte Buch, auch wenn Krzysztof Ruchniewicz kompetent die Westverschiebung Polens auf politischer Ebene nachzeichnet und Małgorzata Ruchniewicz ihre eigenen Forschungen zu den diversen Zwangsumsiedlungen in Ostpolen zusammenfasst.

„Die vergessenen Zwangsarbeiter“ betitelt Stefan Karner seinen Beitrag, schreibt aber keineswegs über die vom NS-Regime zur Zwangsarbeit verpflichteten Menschen, sondern ausschließlich über die in die Sowjetunion Verschleppten – und auch hier nur über die Deutschen, nicht über die zahlreichen Zwangsarbeiter anderer Völker. Die Zwangsarbeit in anderen Ländern (wie z.B. in Polen) kommt ebenfalls nicht zur Sprache. Nach einer kleinen, recht belanglosen Prosaskizze Surminskis folgt Bernd Faulenbachs gut informierter Überblick zu Flucht und Vertreibung in der Erinnerungspolitik – allerdings ebenfalls beschränkt auf das Erinnern der Deutschen. Zwei Skizzen von Helga Spranger und Astrid von Friesen geben einen kurzen Einblick in die psychologischen Folgen von Vertreibung am Beispiel der Deutschen – in eine oft bis in die Enkelgeneration reichende Traumatisierung.

„Flucht und Vertreibung“ ist ein zwiespältiges Buch. Trotz mancher Beteuerung, europäische Perspektiven einzubeziehen, steht das deutsche Leiden im Zentrum und wird – mit den genannten Ausnahmen – nicht in den Kontext der von den Deutschen selbst organisierten Vertreibungen und Vernichtungen gebracht. Das überaus reichhaltige Bildmaterial zeigt ebenfalls überwiegend fliehende und vertriebene Deutsche; selbst Surminskis einleitender, zur Europäisierung der Sichtweise aufrufender Essay wird fast ausschließlich mit Bildern deutscher Vertriebener illustriert. Somit wird Faulenbachs Feststellung, dass „hermetisch abgeschlossene Erinnerungskulturen nicht mehr zeitgemäß sind“ (S. 231), ad absurdum geführt. Das Hauptproblem des Bandes sind nicht die Autoren, sondern die ungenannten Herausgeber, die die Brisanz des Unterfangens entweder nicht erkannt haben oder tatsächlich die Reihe neuer deutscher Leidensgeschichten3 fortsetzen wollten. Oder sollte es vielleicht nur darum gegangen sein, ein aktuelles Thema appetitlich und marktkonform aufzubereiten? Immerhin wird das Buch durch ein hilfreiches Glossar ergänzt, während die beigegebenen Karten teils missverständlich, teils schlichtweg falsch sind (falsche Frontverläufe auf der Karte S. 72, unvollständige deutsche Siedlungsgebiete auf der Karte S. 173, total verkorkste Grenzlinien Polens auf der Karte S. 185 und die kuriose Feststellung der Karte auf S. 267, dass Österreich kein „geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet“ gewesen sei).

Anmerkungen:
1 Als Überblick vgl. Bingen, Dieter; Borodziej, Włodzimierz; Troebst, Stefan (Hgg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen, Wiesbaden 2003. Dort findet sich auch die grundlegende Literatur.
2 Auf die Vermeintlichkeit dieses Beschweigens ist neuerdings verstärkt hingewiesen worden. Auch in der so genannten „hohen Literatur“ wurde das Thema schon recht früh aufgegriffen, vgl. etwa die Schilderung der Vertreibung aus Schlesien in Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ (zuerst 1956).
3 Vgl. Friedrich, Jörg, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München 2002.

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