M. Harbi u.a. (Hgg.): La guerre d'Algérie. 1954-2004

Titel
La Guerre d'Algérie. 1954-2004, la fin de l'amnésie


Herausgeber
Harbi, Mohammed; Stora, Benjamin
Erschienen
Anzahl Seiten
728 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inès Tobis und Philipp Zessin, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

„Ce passé ne veut pas passer.“ Was der französische Historiker Henry Rousso für die Vichy-Vergangenheit Frankreichs feststellte, trifft nach Meinung der beiden Algerienspezialisten Benjamin Stora und Mohammed Harbi auch für die koloniale Vergangenheit der „Grande Nation“ zu. Erst nach einer Phase des Vergessens findet das Thema seitens der Öffentlichkeit sowie der Geschichtswissenschaft Beachtung. Es entstehen Denkmäler, die an die Opfer des Krieges erinnern, und seit den 1990er-Jahren ist die Zahl der Veröffentlichungen zu dem Thema sprunghaft gestiegen.1 Die Jahrzehnte währende Verdrängung der traumatischen Algerienerfahrung hat das Bedürfnis nach einer Aufarbeitung immer dringlicher werden lassen.

Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, die neu eröffneten Perspektiven auf den Algerienkrieg gebündelt zu präsentieren und dem Leser einen Überblick über die neu gewonnenen Forschungserkenntnisse zu verschaffen. Zudem lässt das Buch französische und algerische Historiker direkt nebeneinander zu Wort kommen. Tatsächlich gibt es bis jetzt nur sehr wenige Berührungspunkte zwischen der französischen Geschichtsschreibung zum Algerienkrieg einerseits und der algerischen andererseits. Bezeichnend für die rigorose Trennung der beiden geschichtswissenschaftlichen Perspektiven ist der von Charles-Robert Ageron herausgegebene Sammelband „La guerre d’Algérie et les Algériens“ (Paris 1997). Er ist als Pendant zu dem von Jean-Pierre Rioux 1991 herausgegebenen Buch „La guerre d’Algérie et les Français“ konzipiert. Stora und Harbi versuchen nun, die beiden unterschiedlichen Perspektiven zusammenzubringen.

Der erste thematische Block behandelt die politischen Institutionen in Frankreich und Algerien. In der französischen Forschung ist das Verhältnis von Militär und Politik nach wie vor ein grundlegendes Thema: So führt Jean-Pierre Rioux die Eskalation des Krieges primär auf die institutionelle Schwäche der IV. Republik und die vom Militär betriebene Praxis der Folter zurück, die den französischen Rechtsstaat zunehmend ausgehöhlt habe: „Elle [l’armée] fut et reste la première fautive dans cette généralisation de la torture.“ (S. 25) Erst die Übernahme der Regierungsgewalt durch de Gaulle und die Gründung der V. Republik habe die Lösung des Konflikts ermöglicht. Dagegen weist Sylvie Thénault auf die Verstrickung der Justiz in die antialgerische Repression hin und gelangt so zu einer anderen Periodisierung des Algerienkrieges, die die Bedeutung des Regimewechsels 1958/59 als Zäsur relativiert. Eine Zwischenposition in der Frage nach dem Verhältnis von Militär und Politik bezieht Jean-Pierre Peyroulou in seinem Beitrag zur Polizei in Algerien. Er vertritt die These, dass die Polizei ihre Aktivitäten frühzeitig auf die Städte beschränkt und Teile ihrer Aufgaben an das Militär abgetreten habe.

Die Forschung zur algerischen Geschichte hebt die interne Ausdifferenzierung der algerischen Gesellschaft hervor. Mohammed Harbi wendet sich vor allem gegen die ideologischen Verzerrungen und Indienstnahmen der algerischen Geschichte von französischer und algerischer Seite und weist auf die lange Tradition von Fremdherrschaft in Algerien hin. Eine weitere Perspektive entwickelt René Gallisot in einem vergleichenden Beitrag zur Dekolonisation von Algerien, Marokko und Tunesien; er fragt, wie erfolgreich die Dekolonisation in den Ländern jeweils war.

Der zweite Themenblock beschäftigt sich mit den Akteuren des Algerienkrieges. Doch ist weder von der französischen Armee oder der französischen Regierung die Rede noch vom FLN (Front de Libération National). Vielmehr stehen Randgruppen im Vordergrund, die sich den Vorgaben ihres Lagers widersetzten oder sie zumindest in Frage stellten. Dies zeigt, wie sehr sich die Perspektive auf den Algerienkrieg gewandelt hat. „Plus la guerre d’Algérie s’éloigne, plus elle nous apparaît dans sa totalité complexe.“ (S. 11) Diese Erkenntnis lässt sich auch anhand des zweiten Themenblocks verifizieren. Er überwindet die lange Zeit vorherrschende Schwarz-Weiß-Perspektive auf den Konflikt: hier die Franzosen, dort die Algerier. Der Abschnitt beleuchtet in erster Linie die Ungereimtheiten und Grabenkämpfe innerhalb der beiden Kriegsparteien: Es geht um die Befehlsverweigerer und Deserteure im französischen Lager (Jean-Charles Jauffret), um kriegskritische Intellektuelle, Studenten, Publizisten in Frankreich (Claude Liauzu) und um die „soldats perdus“, die de Gaulle und seiner Abwicklungspolitik in Bezug auf Algerien die Gefolgschaft verweigerten (Tramor Quemeneur). Nicht zuletzt wird das lange totgeschwiegene Schicksal der „harkis“ berücksichtigt, der muslimischen Hilfstruppen der französischen Armee (Mohand Hamoumou).

Auch algerische Historiker nehmen nun die Widersprüche und Konflikte im eigenen Lager in den Blick. Die von oben verordnete Geschichtsschreibung, nach der sich das algerische Volk geschlossen um den FLN gescharrt habe, ist an ihr Ende gelangt: Abdelmajid Merdaci untersucht am Beispiel von Constantine die Unstimmigkeiten innerhalb des FLN im Zusammenhang mit dem bewaffneten Aufstand gegen die französische Kolonialherrschaft am 1. November 1954. Khaoula Taleb Ibrahimi verweist auf die wichtige Rolle der algerischen Frauen im Unabhängigkeitskrieg und ihren vom FLN verordneten Ausschluss von den Früchten des Sieges: „L’indépendance a été confisquée par les prédateurs qui ont mené le pays au désastre.“ (S. 223)

Der dritte Hauptteil („Violences“) thematisiert die verschiedenen Facetten von Gewalt im Algerienkrieg. Einerseits geht es dabei um die Funktionsmechanismen des französischen Repressionsapparats, andererseits um die Rolle von Gewalt in der algerischen Geschichte. Raphaëlle Branche widmet ihren Beitrag der Folter. Linda Amiri untersucht die Repression der algerischen Bevölkerung in der französischen Hauptstadt unter dem Pariser Polizeipräfekten Maurice Papon und weist auf den systematischen Ausbau des polizeilichen Kontrollapparats seit 1958 hin. Rémi Kauffer behandelt die Geschichte der OAS (Organisation de l’armée secrète), zeichnet die Vor- und Nachgeschichte dieser rechtsextremistischen Organisation nach und arbeitet ihre Frontstellung zu de Gaulle und seiner Politik heraus. Guy Pervillé stellt die verzerrenden französischen und algerischen Einschätzungen der Opferzahlen des Krieges dar.

Die Bedeutung von Gewalt in der algerischen Geschichte betonen Omar Carlier und Gilbert Meynier. Carlier deckt die verschiedenen Formen von Gewalt auf, die durch die französische Fremdherrschaft – nicht erst seit dem Algerienkrieg – zu einem Teil der politischen Kultur Algeriens geworden waren. Eine interessante Fortführung dieser These entwickelt Gilbert Meynier in seinem vergleichenden Beitrag zum PPA-MTLD2 und dem FLN, indem er den FLN als gewaltbereite Bewegung des ländlichen Algerien und als Abspaltung von der städtischen PPA-MTLD deutet.

Im vierten Themenblock („Représentations“) informiert Herausgeber Benjamin Stora umfassend über die Auseinandersetzung Frankreichs mit dem Algerienkrieg. Stora beschreibt die Verdrängung des Konfliktes, der als Verlustgeschichte aufgefasst wurde, und erklärt auf diese Weise das über drei Jahrzehnte betriebene Vergessenmachen. Ebenso geht er auf die Wiederkehr der Erinnerung in den 1990er-Jahren ein: Einerseits sind nun Archive zugänglich, die bis dahin verschlossen geblieben waren. Andererseits brechen sich lange verdrängte Erinnerungen Bahn, was in den Jahren 1999 bis 2003 zur Einführung von offiziellen Gedenktagen, zur Eröffnung von Denkmälern und Erinnerungsorten sowie jüngst zur Einladung des algerischen Staatspräsidenten anlässlich des 60. Jahrestages der Landung alliierter (und französisch-algerischer) Truppen in der Provence führte.

Auch viele Nichthistoriker kommen in dem Sammelband zu Wort. So wird das Verhältnis von Kunst und Literatur bzw. Schriftstellern zum Algerienkrieg anhand von konkreten Beispielen (Kateb Yacine) erörtert. Die Artikel der Kunsthistorikerin Malika Dorbani und des Literaturwissenschaftlers Charles Bonn verharren allerdings auf einer deskriptiven Ebene. Die Historikerin Marie Chominot leistet einen wichtigen Beitrag zur bislang vernachlässigten Pressegeschichte des Konfliktes, indem sie die Wahrnehmung des Algerienkrieges durch das Boulevardblatt „Paris-Match“ beleuchtet.

Insgesamt handelt es sich um einen gelungenen Sammelband, der zeigt, wie sehr sich die geschichtswissenschaftliche Perspektive auf den Algerienkrieg in den letzten Jahren ausdifferenziert hat. Der zentrale Aspekt der Geschichte der Erinnerung wird von Benjamin Stora überzeugend dargestellt, kommt ansonsten jedoch kaum vor. Leider fehlt eine theoretische Fundierung des Sammelbandes; insbesondere bleiben die Herausgeber eine Erklärung der vier thematischen Blöcke „Institutions“, „Acteurs“, „Violences“ und „Représentations“ sowie der theoretischen Vorannahmen, die diese Begriffe transportieren, schuldig. Gelungen ist hingegen der Versuch, sowohl die französische als auch die algerische Sichtweise auf den Algerienkrieg in einem Band zusammenzuführen.

Anmerkungen:
1 Einen ausführlichen bibliografischen, jedoch auf französischsprachige Literatur beschränkten Überblick geben Stora und Harbi im vorliegenden Sammelband, S. 691-698.
2 Der von Messali Hadj geleitete PPA (Parti Populaire Algérien), 1939 verboten und nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen MTLD (Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques) neu formiert, war bis zum Ausbruch der bewaffneten Rebellion gegen die französische Kolonialherrschaft im November 1954 die wichtigste politische Formation Algeriens, die für die Unabhängigkeit von Frankreich eintrat.

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