H. Lehmann u.a. (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften

Cover
Titel
Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren


Herausgeber
Lehmann, Hartmut; Oexle, Otto Gerhard
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Institut für Geschichte
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
683 S.
Preis
€ 92,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

"Mit dem Schlagwort von der objektiven Wissenschaft", so Hitler (laut Hermann Rauschning), "hat sich die Professorenschaft nur von der sehr nötigen Beaufsichtigung durch die staatliche Macht befreien wollen". Deshalb sei die so genannte "Krisis der Wissenschaft" nichts anderes als die Einsicht, wie sehr man sich damit auf einem Irrweg befunden habe.1 Nicht die objektive Wissenschaft war das Leitbild des Nationalsozialismus, sondern die "kämpfende Wissenschaft". Was Walter Frank programmatisch zu formulieren versuchte, beschrieb den Anspruch, dass Wissenschaft politischem Zwecken zu dienen habe, ja nur darin eine Grundlage finden könne.

Dieser Anspruch war an sich nicht neuartig, Otto G. Oexle hat schon mehrmals darauf hingewiesen, dass Nietzsches Appell, Wissenschaft solle dem Leben dienen, am Beginn dieses Ressentiments gegen die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft steht. Max Webers Bestimmung von Objektivität ist denn auch ein in den 1920er-Jahren zwar zum Teil intensiv diskutierter, aber nicht common sense gewordener Gegenentwurf gegen die Verpflichtung der Wissenschaft auf das Leben und die Politik. Die Frage nach 'Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften' griffe damit zu kurz, wenn sie nur auf eine vordergründige Biologisierung und völkische Ausrichtung des Denkens oder eine karrierestrategisch motivierte Anpassung im Kampf um Forschungsressourcen zielte. Zugespitzt formuliert: ohne eine vorhergehende Veränderung des Selbstverständnisses als Wissenschaft hätte der Nationalsozialismus in den (Kultur-)Wissenschaften wohl kaum derart viel an Resonanz finden können.

Die langfristigen Veränderungen in den jeweiligen Wissenschaften sind bisher eher selten untersucht worden, auch die jüngste Welle an Beschäftigung mit Wissenschaft im Nationalsozialismus hat sich überwiegend auf das Dritte Reich konzentriert. In den Hintergrund rücken dadurch die langfristigen Prozesse der Nazifizierung, die nicht erst 1933 anfangen.2 Komplexere Problemdarstellungen bieten deshalb im vorliegenden Band vor allem jene Beiträge, die den zeitlichen Untersuchungsrahmen deutlich über 1933 hinaus spannen.

Die Debatte über Wissenschaft und Nationalsozialismus ist heute möglicherweise - optimistisch gesehen - an einem Wendepunkt angekommen. Einerseits ist die emotionale Aufregung abgeflaut und der Pulverdampf der heftigen Kontroversen (für die der Frankfurter Historikertag 1998 zum Symbol wurde) hat sich gelichtet. Das ist zu begrüßen, weil dadurch das Thema etabliert wurde, aber nun erst eine historisierende Analyse möglich zu werden scheint. Andrerseits überwiegen doch noch die eher positivistischen Fachbilanzen, die auf Personen oder Institutionen ausgerichtet sind. Was Michael Stolleis für die Rechtswissenschaft konstatiert, "eine zusammenfassende und umfassende Wissenschaftsgeschichte, die Mentalitäts-, Ideen- und Institutionengeschichte miteinander verknüpft, gibt es bis heute nicht" (S. 29), trifft im Prinzip auf alle Wissenschaften zu. Möglicherweise sind jetzt erst die Bedingungen für derartige Analysen gegeben. Das könnte langfristig gesehen der fruchtbarste Ertrag der gegenwärtigen Diskussionen über Nationalsozialismus in den Wissenschaften sein.

Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung des Max-Planck-Instituts für Geschichte aus dem März 2000 und bietet Überblicke über die Selbstthematisierung in Fächern (Rechtswissenschaft, Romanistik, Germanistik, Musikwissenschaft), über Milieus (Geschichte in Heidelberg, 'Volksgeschichte' in Königsberg, 'Kulturgeschichte' in Leipzig, Reichsuniversität in Posen), Einzelstudien zu Schulgeschichtsbüchern, zur Görres-Gesellschaft, zur Tätigkeit von Historikern in den Oberkommandos der Wehrmacht und zu Pesonen (Jankuhn, Aubin, Grundmann) und endet mit einem Blick auf die Kulturwissenschaften in Frankreich sowie drei Beiträgen zum Thema "erste und zweite Schuld".

Zum Teil enthalten die Beiträge Bekanntes, zum Teil widmet sich die Wissenschaftsgeschichte zunehmend kleinteiligeren Zusammenhängen. Darin liegt eine Chance und eine Gefahr. Letztere besteht darin, sich in Marginalien zu verlieren, die Chance besteht darin, nur in konkreten Analysen von Verflechtungen, Handlungen und Zusammenhängen die Transformation analysieren zu können, die der Einzug des Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften haben konnte. Erst auf der Grundlage umfangreicher empirischer Studien wird sowohl der Umfang und die Konsequenz des nationalsozialistischen Umgestaltungsanspruchs deutlich, als auch die praktischen Schwierigkeiten, die sich im Alltag bei der Durchsetzung ergaben. Die Geschichtslehrbücher etwa, die von Agnes Blänsdorf auf rund 100 Seiten untersucht werden, wurden bis 1938, zum Teil sogar noch bis in den Krieg hinein, weiter verwendet. Das lag nicht daran, dass die nationalsozialistischen Schulpolitiker die unstrittig konservativ und national gefärbten Lehrbücher als adäquat eingeschätzt hätten, sondern daran, dass der Prozess der Formierung der Änderungsinstanzen (welche Institutionen und Personen setzten sich im NS-Dschungel durch) mehrere Jahre dauerte. Als die neuen Bücher und Lehrpläne dann allmählich fertig waren, fand jedoch, durch den Krieg bedingt, regulärer Unterricht kaum noch statt und es wurden - durch Papierknappheit bedingt -, zum Teil wieder die alten Lehrbücher benutzt (S. 367).

Dass die - auch wissenschaftsgeschichtlich - spannenden Fragen nicht in der Aufdeckung nationalsozialistischer Gesinnung aufgehen, zeigen die biografischen Skizzen, insbesondere die Studie von Heiko Steuer über den Ur- und Frühgeschichtler Herbert Jankuhn. Dieser war, so Steuer, "überzeugter Nazi und zugleich ausgezeichneter Wissenschaftler" (S. 526). Er habe seine wissenschaftliche Kariere nicht der SS verdankt, doch nutzte er alle Möglichkeiten, die sich ihm und seinem Fach in der neuen politischen Ordnung boten - der er zudem mit offener Sympathie gegenüberstand. Und, noch provokanter von Steuer formuliert: Jankuhn gehöre zu jene Wissenschaftlern, die in der NS-Zeit "im Sinne ihrer gegenwärtigen Zeitstimmung" argumentierten - wie später ebenfalls viele Wissenschaftler "während der DDR" oder "gegenwärtig" (S. 527). Darüber lässt sich sicherlich streiten. Zu hoffen ist, dass die Debatte über derartige Verbindungen von Wissenschaft und Politik auf fruchtbare Weise geführt wird.

Deutlich wird aber zunehmend, dass für viele Wissenschaftler der Nationalsozialismus nicht als kategorialer Bruch zu ihrem eigenen Wert- und Ordnungssystem verstanden wurde. Für Jankuhn, Aubin und Grundmann, die alle drei mit biografischen Studien hier untersucht werden, ist viel eher eine Kontinuität prägend. Bei Jankuhn tritt das vor allem wissenschaftlich hervor, bei Aubin verbanden sich politische und wissenschaftliche "Konstanz" (S. 591), und auch bei Grundmann erscheint der Nationalsozialismus als weltanschauliche und politische Möglichkeit, die nur auf der Grundlage der tiefgreifenden Prägung als "Kriegsjugendgeneration" und eines sich hiermit verbindenden völkischen Weltbildes wirksam werden konnte (S. 617). Das war die Bedingung dafür, um im Nationalsozialismus einerseits in unterschiedlichem Ausmaß mit den Zielen des Nationalsozialismus übereinstimmen und sich auf die Chancen und Möglichkeiten einlassen zu können - und um auch die intellektuellen Opfer zu verrichten, die der Nationalsozialismus erforderte. Oft übersehene Bedingung hierfür war, dass die Distanz von Nationalsozialismus und eigenem völkisch-nationalem Weltbild nicht so groß war, wie es aus heutiger Perspektive oft erscheint - dass sie aber bestand. Das ist auch die Bedingung dafür, dass sich viele nach 1945 in eine Sicherheit des guten Gewissens, so Mühle über Aubin (S. 586), zurückziehen konnte, ohne dass man das gleich als Beschweigen oder Verdrängen klassifizieren könnte. Denn, erst der fundamentale Kategorienwechsel, der in Deutschland nach 1945 erst in Gang kommen musste und in erheblichem Maße einen Generationenwechsel voraussetzte, ermöglichte die radikale Distanz.3 Wissenschaftsgeschichtlich lohnend sind dabei zweifellos mehrere Fragen. Hervorheben möchte ich nur zwei.

Erstens: die Umwandlung des Wissenschaftssystems, die als Bedingung der Nazifizierung von Wissenschaftlern anzusehen ist, begann lange vor 1933 mit einer Verschiebung der wissenschaftlichen Denkmuster und Kategorien. Diese allmähliche Transformation intellektueller Koordinatensysteme ist bisher kaum untersucht, sie erscheint aber immer mehr als unverzichtbare Grundlage, um hinsichtlich der Frage des Eindringens des Nationalsozialismus in die Wissenschaften voranzukommen.

Zweitens waren es ja oft gerade die völkisch-national geprägten Wissenschaftler, die nach 1945 zwar keine Selbstkritik vollzogen, denen auch kein fundamentaler Paradigmenwechsel gelang, die aber in erheblichem Ausmaß den Kategorienwechsel durch die Schülergenerationen mit ermöglichten. Innerhalb der Historikerzunft sind Theodor Schieder und Werner Conze die viel diskutierten und bekanntesten Beispiele hierfür. Dass gerade ihre Schüler den wissenschaftlichen Bruch vollzogen, sollte nicht vergessen werden. Man kann das nicht als gewollte Absicht interpretieren, doch unternahmen sie auch keine massiven Interventionen, das zu verhindern. Das sollte als Indiz genommen werden, dass wissenschaftsgeschichtliche Wandlungen nicht in Intentionen und politischen Zurechnungen aufgehen.

Der Band schließt mit drei Beiträgen, die auf der Tagung abschließend in eine Podiumsdiskussion zum Thema "Die erste und die zweite Schuld" einleiteten. Gesine Schwan erblickte den Anteil von Wissenschaft an der Realisierung des Nationalsozialismus in der "Legitimierung eines departementalisierten, segmentierten Wahrheitsverständnisses" (S. 654). Und Irmline Veit-Brause doziert, das "Ethos der Geschichte verlangt gewissenhafte Hingabe an die Rekonstruktion vergangener Ereignisse", während es von der "Ethik der Historiker" abhänge, ihren moralischen und politischen Selbstverpflichtungen, "zu welchen Zwecken sie ihr Wissen zur Verfügung stellen" (S. 682). Als Sicherungsmechanismen, um Disziplinen 'gesund' zu halten, fordert sie die "Zivilcourage von Individuen und die Solidarität ihrer Kollegen" (S. 683). Skeptischer gegenüber diesen wohlfeilen Appellen an Moral argumentiert Joachim Rückert, er plädiert dafür, nicht "moralische Zurechnungen" vorzunehmen, sondern sich um "persönliche Zurechnung" zu bemühen. Erst wenn sich diese in Übereinstimmung zusammenfügten, könne eine "im allgemeinen akzeptierte rechtlich-gerechte Beurteilung erwachsen" (S. 668). Der Jurist fragt nach dem Täter, das moderne Recht richtet sich nicht gegen die Tat. Deshalb privilegiert der Jurist Rückert die persönliche Zurechnung, nur auf dieser Grundlage könne nach subjektiver Schuld gefragt und über sie geurteilt werden. Und der Historie? Solange sie "empirische Wissenschaft bleiben will", frage sie "nach den 'objektiven Gründen konkreter Vorgänge und nach der Folge konkreter 'Taten'", soll aber "nicht [...] über den 'Täter' zu Gericht sitzen".4

Darin dürfte die schwierigere Aufgabe, aber auch die größere Herausforderung für eine Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus liegen - nach den Folgen konkreter wissenschaftlicher Taten zu fragen und empirisch fundierte Antworten zu geben. Das steht in vielen Teilen noch aus. Hierfür dürfte der "kalte Blick" (wieder) hilfreich sein, den Jürgen Kocka vor langer Zeit in anderem Kontext gefordert hatte.

Als letztes sei die Verwunderung des Rezensenten vermerkt, einen Sammelband von 683 Seiten zu konzipieren, ohne eine Einleitung zu verfassen, die in das wahrlich kontroverse und intellektuell aufregende Problem der Historisierung der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus einführt und Ergebnisse zusammenfasst. Zumal Oexle in den letzten Jahren mit die reflektiertesten und anregendsten Beiträge zum Thema Kulturwissenschaft im Nationalsozialismus geschrieben hat.5

Anmerkungen:
1 Rauschning, Hermann, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S. 210.
2 Vgl. aber z.B. Rusinek, Bernd-A., 'Westforschungs'-Traditionen nach 1945. Ein Versuch über Kontinuität, in: Dietz, B. u.a. (Hgg.), Griff nach dem Westen. Die "Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), 2 Bde., Münster 2003; S. 1141-1201; Blänkner, Reinhard, Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer 'europäischen Sozialgeschichte', in: Hettling, Manfred (Hg.), Volksgeschichten in der europäischen Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 326-66; Dainat, Holger, Germanistische Literaturwissenschaft, in: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002, S. 63-86.
3 Vgl. Weisbrod, Bernd, Dem wandelbaren Geist. Akademisches Ideal und wissenschaftliche Transformation in der Nachkriegszeit, in: Ders., Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 11-35, hier S. 30-35.
4 Die Unterscheidung von Täter als Gegenstand des Rechts und den Taten und ihren Folgen als Gegenstand der Geschichte nach Max Weber, von ihm auch das Zitat: Ders., Wissenschaftslehre, Tübingen 19887, S. 271, Anm. 1.
5 Oexle, Otto G., "Wirklichkeit" - "Krise der Wirklichkeit" - "Neue Wirklichkeit". Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933, in: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002, S. 1-20.

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