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Titel
Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität


Herausgeber
Bruns, Claudia; Walter, Tilmann
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VI, 332 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Pascal Eitler, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Auch wenn es mitunter den Eindruck erwecken mag: Die Geschichte der Sexualität führt inzwischen alles andere als eine Nischenexistenz. Zahlreiche Studien der letzten Jahre dokumentieren einen zumindest für bestimmte Zeiträume bemerkenswerten Erkenntnisfortschritt auf diesem Feld der Körper- und Geschlechtergeschichte. Der vorliegende von Claudia Bruns und Tilmann Walter herausgegebene Sammelband präsentiert elf Beiträge, die sich schwerpunktmäßig der Geschichte der Sexualität in Deutschland zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts widmen.

„Eine Historische Anthropologie der Sexualität“, so der verheißungsvolle Untertitel des Bandes, darunter verstehen Bruns und Walter eine „Historiographie sexueller Erfahrungen“ (S. 17). Mittels des Erfahrungsbegriffes, dem an dieser Stelle eine strategische Position zukommt, distanzieren sie sich von einer – wie es heißen könnte – „reinen“ Diskursgeschichte der Sexualität in der Tradition von Michel Foucault. Demgegenüber bekennen sich Bruns und Walter in ihrer Einleitung zu einem „gemäßigten Konstruktivismus“ (S. 3). Zwar geht es ihnen ganz im Sinne von Foucault um die Menschenbilder, Körperkonzepte und Gesellschaftsordnungen, die im Kontext des Sexualitätsdiskurses produziert und reproduziert werden. Sie gehen jedoch davon aus, dass erstens den sich wandelnden Bedeutungen von Sexualität unwandelbare sexuelle Bedürfnisse zugrunde liegen und dass zweitens Diskurs und Erfahrung nicht ineinander aufgehen.

Auch wenn es verführerisch ist: Man braucht an dieser Stelle nicht über den Sinn oder Unsinn dieser Konzeption und den vermeintlichen Unterschied zwischen Diskurs und Erfahrung zu streiten – da die Mehrzahl der Aufsätze ganz eindeutig diskursgeschichtlich verfährt, Erfahrungen, geschweige denn Erlebnisse, sofern diese etwas darstellen mögen, das nicht oder nicht vollauf unter eine bestimmte Ordnung des Sagbaren subsumiert werden sollte, erschließt der Band allenfalls am Rande. Ohnehin scheint die Zeit der Theoriedebatten auf dem Feld der Körper- und Geschlechtergeschichte vorerst vorüber, die Fronten sind mehr oder weniger geklärt. Was nunmehr zählt, ist die empirische Arbeit und auf diesem Gebiet vermag der vorliegende Sammelband zahlreiche interessante Ergebnisse zu präsentieren. Aus Platzgründen bleiben die Beiträge von Laura Balbiani, Helmut Puff und Martin Zürn zur Sexualitätsgeschichte der Frühen Neuzeit, die Studie von Heike Schader zum „lasterhaften Weib“ in der Weimarer Republik sowie der Aufsatz von Egbert Klautke zur Ehe- und Sexualberatung zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg im Folgenden unbesprochen.

Um die praktische Umsetzung des in der Einleitung skizzierten Konzeptes einer „Historiographie sexueller Erfahrungen“ bemüht sich Karen Nolte in ihrem Beitrag zum Umgang mit „hysterischen“ Frauen um 1900 am Beispiel der Landesheilanstalt Marburg.1 Nur im Rahmen ihrer Fachgutachten, so korrigiert Nolte die bisherige Forschung, verlassen die Ärzte die klassische Lehre vom Zusammenhang zwischen Hysterie und Sexualität. Auf der Interaktionsebene hingegen greifen sie auf traditionelle Deutungsmuster zurück, im Anstaltsalltag sexualisieren die Ärzte die Patientinnen auch weiterhin. Auch die „hysterischen“ Frauen selbst bringen ihre „Erkrankung“ mit ihrer unbefriedigten Sexualität in Verbindung. Nolte spricht an dieser Stelle zurecht vom „Persistieren der seit der Antike existierenden Vorstellung eines unbefriedigten Uterus“ (S. 215). Ob der Aufsatz tatsächlich Erfahrungen im emphatischen Sinne des Wortes oder unterschiedliche Aspekte eines sich am Ende des 18. Jahrhunderts verändernden Hysteriediskurses erschließt, ist eine andere Frage.

Tilmann Walter rekonstruiert vollauf überzeugend unterschiedliche Diskursstränge innerhalb der Sexualwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Ganz in der Tradition von Foucault verfolgt er die Konstitution und Transformation der scientia sexualis von Freud bis Kinsey. In diesem Zusammenhang konstatiert er eine folgenschwere Verschiebung des Erkenntnisgegenstandes nach 1945: weg von der Perversion hin zum Orgasmus. Im Verlauf dieser Verschiebung wird Sexualität zwar immer weniger normiert in dem Sinne, dass bestimmte sexuelle Praktiken offen privilegiert oder diskriminiert würden. Das Intimleben wird „nicht mehr unter pathologischen, sondern unter produktiven Vorzeichen“ betrachtet (S. 170), es soll befriedigend sein und wird dementsprechend eng an den Orgasmus gekoppelt. Vor diesem Hintergrund jedoch wird Sexualität immer mehr normalisiert, die Orgasmushäufigkeit ebenso quantifiziert und klassifiziert wie die Orgasmusintensität. Sexualität soll nicht nur, sie muss befriedigend sein – so der körperpolitische Imperativ im Zeichen der sexuellen „Befreiung“.

Am Beispiel des Beschneidungsdiskurses geht Klaus Hödl in einem sehr vielschichtigen Aufsatz der Konstruktion einer spezifisch jüdischen Sexualität im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach.2 Die Beschneidung fungiert nicht nur als ethnisches bzw. rassisches Differenzmerkmal. Sie wird vor allem im Rahmen des Syphilisdiskurses immer wieder herangezogen, um männlichen Juden eine bedrohliche, weil zügellose Sexualität zuzuschreiben. Das Stereotyp des „syphilitischen Juden“ ist im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Während in diesem Kontext der Beschneidungsritus aufgrund des traditionellen Aussaugens der Wunde als bedenklicher Risikofaktor wahrgenommen wird, auch und nicht zuletzt unter Juden, wird die Beschneidung als solche in hygienischer Hinsicht als durchaus sinnvolle Schutzmaßnahme dargestellt. Die Juden allerdings, so ein etabliertes Deutungsmuster, bedürfen dieser Maßnahme nur, weil sie aufgrund ihrer apostrophierten Triebhaftigkeit als besonders gefährdet gelten, sich mit Syphilis zu infizieren.

Stefan Micheler beschäftigt sich mit der Selbst- und Fremdbeschreibung männlicher Homosexueller in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Am Beispiel von „Szene-Zeitschriften“ kann er zeigen, dass Intimbeziehungen unter Männern in den 1920er-Jahren gezielt entsexualisiert werden. Dem negativ konnotierten Begriff der Sexualität werden in der Selbstbeschreibung die positiv konnotierten Begriffe der Freundschaft und der Liebe entgegengesetzt. Diese semantische Verschiebung im Rahmen der „Szene-Zeitschriften“ ist jedoch nicht allein, so Micheler, der drohenden Zensur geschuldet, sie verweist vielmehr auf ein ubiquitär verbreitetes Stereotyp, das die männliche und vor allem die Triebhaftigkeit männlicher Homosexueller beschwört. Der homosexuelle Mann darf seiner Triebhaftigkeit nicht zum Opfer fallen, muss jedoch – und an dieser Stelle greift die geschlechterspezifische Codierung des Homosexualitätsdiskurses – „männlich-aktiv“ bleiben.

Überaus gelungen ist der Beitrag Heiko Stoffs zum Verjüngungsdiskurs in der Weimarer Republik.3 Der Aufsatz widmet sich insbesondere der geschlechterspezifischen Codierung dieses Diskurses: Während Männer als leistungsstarke Produktionskörper konzipiert werden und Alter im Rahmen arbeitsphysiologischer Deutungsmuster schlicht als Leistungsabfall und im übertragenden Sinne als Impotenz begriffen wird – entbrennt um das Frauenbild ein aufschlussreicher Deutungskampf. Frauen werden innerhalb des Verjüngungsdiskurses nicht länger als mütterliche Reproduktionskörper, sondern als sexualisierte Konsumkörper oder aber als emanzipierte Leistungskörper entworfen. In beiden Fällen jedoch wird die neu erworbene Souveränität der Frau an die Gestaltbarkeit ihres Körpers gebunden. Im Rahmen von Verjüngungsexperimenten und Schönheitsoperationen konstituiert sich in den 1920er-Jahren eine spezifische Form der Selbstsorge. Dass Stoff diese Experimente und Operationen als „demokratische Verfahren“ kennzeichnet, heißt vor allem, dass „alle Menschen als im Kern veränderbar und verbesserbar“ betrachtet und behandelt werden (S. 234).

Fazit: Der vorliegende Sammelband bietet einen gelungenen, facettenreichen und kritischen Überblick zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Indes: Wie im Fall der meisten Studien der letzten Jahre bleibt die Zeit nach 1945 weitestgehend unberücksichtigt. Der abschließende Aufsatz des Sexualwissenschaftlers Gunter Schmidt kann diese Lücke mitnichten füllen. In diskursgeschichtlicher Perspektive stellen sexualwissenschaftliche Studien und Statistiken kein Mittel der Analyse dar, stattdessen sollte man sie zum Gegenstand der Analyse machen: Sie dokumentieren nicht einfach sexuelle Normalität – sie normalisieren Sexualität. Sie bestimmen nicht nur ein Mittelmaß, sie setzen auch ein Mindestmaß.4 In diesem Sinne bedarf gerade die Sexualitätsgeschichte der Bundesrepublik eines genealogischen Blicks.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nolte, Karen, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main 2003.
2 Vgl. Hödl, Klaus, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997.
3 Vgl. Stoff, Heiko, Ewige Jugend. Künstliche und natürliche Verjüngung 1889-1936, Köln 2004.
4 Vgl. Bauer, Yvonne, Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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