G. Annas: Hoftag - Gemeiner Tag - Reichstag

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Titel
Hoftag - Gemeiner Tag - Reichstag. Studien zur strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349-1471)


Autor(en)
Annas, Gabriele
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 68
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
Bd. 1: 443 S., Bd. 2: 673 S., zzgl. CD-Rom
Preis
€ 176,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Schwarz, Historisches Institut, Mittelalterliches Seminar, Universität Mannheim

Die Verfasserin dieser zweibändigen, insgesamt über 1.100 Seiten umfassenden Kölner Dissertation kleidet die Quintessenz ihrer Forschungen in ein Gewand von geradezu klassischem angelsächsischem ‚understatement’: Flankiert von verschiedenen verfassungshistorischen Grundlagenproblemen habe sich aus dem traditionellen Hoftag des hohen Mittelalters in einer organischen Entwicklung zunächst – wesentlich seit den 20er und 30er-Jahren des 15. Jahrhunderts – der gemeine Tag und schließlich im ausgehenden 15. Jahrhundert der Reichstag frühneuzeitlicher Prägung entwickelt (S. 443). Hinter dieser lapidaren „Zusammenfassung“, die notgedrungen vereinfachen muss und doch durch das Aufgreifen aller Bestandteile des dreigliedrigen Obertitels alle ‚Leitmotive’ noch einmal aufklingen lässt, steht ein Werk, das wohl für längere Zeit die Grundlage einer jeden Beschäftigung mit der im Mittelpunkt stehenden Problematik bilden wird. Es geht Gabriele Annas dabei, wie der Untertitel ihres Werkes mitteilt, um die strukturelle Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters; es geht ihr – als ihrem eigentlichen, über den doch immer recht blassen Struktur-Begriff hinausweisenden Ziel – um die verfassungspolitische Herausformung des frühneuzeitlichen Reichstags. Das Forschungsobjekt ist somit alles andere als belanglos, stellt doch eben dieser Reichstag älterer Prägung, worauf Annas zu Recht hinweist (Bd. 1, S. 437), neben dem Reichskammergericht und der Reichshofkanzlei eine der wenigen zentralen Institutionen des bis 1806 existierenden Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation dar.

Bei dem damit beschrittenen Arbeitsfeld handelt es sich um einen Forschungsbereich, dessen Geschichte durch eine Art von archimedischem Punkt gekennzeichnet scheint: dem 1980 veröffentlichten „Versuch über die Entstehung des Reichstags“ von Peter Moraw.1 Es war dieser „Versuch“, der zunächst einmal entscheidend zwischen früh- und hochmittelalterlichem Hoftag einerseits und spätmittelalterlichem Reichstag andererseits differenzierte. Zum anderen wurde hier von Moraw das Modell einer Entstehungsgeschichte des Reichstags entworfen, das für das 15. Jahrhundert ein „Ringen“ zwischen den beiden Hauptprinzipien des Hoftages und des königslosen Tages postulierte, wobei dem Prinzip des von den Kurfürsten getragenen königslosen Tages eine ganz besondere Bedeutung zugemessen wurde.2 Darauf aufbauend entwarf 1993 Thomas Martin ein auf den Untersuchungszeitraum von 1314-1410 begrenztes Bild von den spätmittelalterlichen Reichsversammlungen, das vor allem die Vielzahl von Tagungstypen betonte und unter anderem neben Hoftagen von „Rätetagen“ als königslosen Tagen unter Mitwirkung des Königtums sprach.3 Bei allem Respekt vor der interpretatorischen Leistung vor allem Moraws, der die Diskussion in der Tat auf eine neue Grundlage gestellt hatte, wurde gegenüber beiden Ansätzen in der Forschung der letzten zehn Jahre wiederholt Kritik geübt 4, so dass eine neue Deutung der Entstehungsgeschichte des Reichstags als Desiderat betrachtet werden durfte.

Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen Annas ihren Deutungsversuch beginnt. Fürwahr kein einfaches Unterfangen; aber die Autorin ist gut gerüstet. Der riesige Bau ihrer Interpretationen basiert auf einem doppelten Fundament: zum einem auf dem im zweiten Band ihres Werkes zusammengestellten Verzeichnis von insgesamt 80 ‚Reichsversammlungen’ aus dem Zeitraum von 1349 bis 1471 (ein Ausschnitt auch dies nur, doch um eine vielfaches repräsentativer als bisherige vergleichbare Zusammenstellungen), das Angaben zur Anwesenheit des Herrschers, zur Vorgeschichte und zu den Themen der Beratung enthält; zum anderen auf einem (über eine beigegebene CD-ROM abrufbaren) Verzeichnis der Besucher deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349-1471).

Der Aufbau der Darstellung überzeugt durch Behutsamkeit und planmäßiges Vorgehen. Gegliedert in vier Hauptteile, gibt die Autorin zunächst (Hauptteil A) eine „Standortbestimmung“, d.h. sie widmet sich der Forschungsgeschichte ihres Themas. Spannend zu lesen, ja geradezu fesselnd für jeden, der selber mit verfassungsgeschichtlich-politischen Forschungsproblemen des 15. Jahrhunderts befasst ist, das Unterkapitel I dieses Abschnitts („Die Verfassung des spätmittelalterlichen Reichs: Interpretationsansätze“). Durch das scheinbar undurchdringliche Dickicht der verschiedensten Deutungsversuche werden Schneisen geschlagen, die die ganze Szenerie erhellen; hier trägt vieles geradezu den Charakter eines Handbuchs der verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Spätmittelalterforschung und wird zukünftig jedem, der nach Orientierung sucht, große Dienste erweisen.

Während sich der Hauptteil B den Schlüsselbegriffen der Arbeit – Hoftag, Reichstag, Tag, Gemeiner Tag, königsloser Tag – sowohl inhaltlich wie begrifflich anzunähern versucht, beschäftigt sich der Hauptteil C explizit mit dem Besuch spätmittelalterlicher Reichsversammlungen; die Verfasserin legt dabei besonderen Wert auf methodische Probleme sowie auf die Quellenlage. Und was für den Forschungsüberblick in Hauptteil A gilt, das gilt mutatis mutandis für diesen Abschnitt. Hier ist eine Art Quellenkunde der spätmittelalterlichen Reichsversammlungen entstanden, sicherlich wiederum ein unverzichtbares Hilfsmittel für künftige Forschungen.

Ohne den bisher vorgestellten Hauptteilen A-C den Charakter von bloßen Propädeutika oder Vorbauten zuweisen zu wollen, stellt der nunmehr folgende Hauptteil C den zentralen Teil der Arbeit dar. Hier fährt die Autorin die Ernte ein; hier ziehen sich die Ergebnisse (wie es scheint: fast wie von selbst) zusammen. Jeweils mit prägnanten Überschriften versehen, werden die Reichsversammlungen der römisch-deutschen Könige und Kaiser von Karl IV. bis zu Friedrich III. untersucht, wobei der Regensburger Christentag von 1471, in dem bereits die bisherige Forschung (Peter Moraw, Erich Meuthen, Helmut Wolff, Johannes Helmrath) einen wichtigen Einschnitt gesehen hat, den Schlusspunkt bildet. Im Rahmen dieser Analyse räumt Annas den Versammlungen zur Zeit Ruprechts von der Pfalz eine für ihre Fragestellung herausragende Position ein. Durch eine zunehmende Eigenständigkeit der rheinischen Kurfürsten einerseits sowie durch die Möglichkeit der Artikulation von Opposition im Rahmen der vom Herrscher einberufenen Tagsatzungen andererseits, haben sich hier, so Annas, „zukunftsweisende Verschiebungen“ vollzogen, welche die zehnjährige Regierungszeit des Wittelsbachers als „verfassungspolitische Schlüsselepoche“ hervortreten lassen (S. 365). Kaum weniger wichtig jedoch erscheinen die von Annas für die nachfolgende Periode Kaiser Sigismunds beigebrachten Beobachtungen: dass es nämlich im Rahmen der ‚Dietisierung’ des älteren Hoftags zur Herausbildung eines neuen, für die weitere Entwicklung entscheidenden Tag-Typus gekommen sei, dem so genannten ‚Gemeinen Tag’, eine Form der Reichsversammlung, die gewissermaßen königsbesuchte Tagsatzungen und so genannte königslose Tage in sich vereint haben soll. Und, so Annas, ähnlich den königslosen Tagen seien diese Versammlungen keineswegs immer Zentren der Opposition gegen das Königtum gewesen: Sie waren häufig sozusagen ‚unfreiwillig’ königslos, wurden vom König selbst einberufen und in Verbindung mit den anwesenden Kurfürsten von königlichen Bevollmächtigten geleitet. Es ergibt sich damit insgesamt eine Sichtweise auf die Entstehung des Reichstags, die unter Rückgriff auf ältere Forschungsansätze (was bei einem Thema dieses Zuschnitts gar nicht ausbleiben kann) in dieser Form neu ist und zu der eingangs bereits zitierten Zusammenfassung führt.

Das umfangreiche Werk ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend. Eine schier unübersehbare Stoffmasse überlegt organisierend, umfasst es einen Zeitraum von über 120 Jahren und lässt allein schon dadurch ältere Ansätze hinter sich zurück. Das Thema mit all seinen Facetten wird klar definiert und methodisch überzeugend bearbeitet. Ein enormes Quellenmaterial wird behutsam interpretiert, die Resultate werden zu zwingenden Schlussfolgerungen geführt. Ein echter Erkenntnisfortschritt ist bei aller Vorläufigkeit auch noch so weit ausholender Wissenschaft am Ende ablesbar. Auch wenn durch die Erschließung neuer Quellen zur Reichsgeschichte des 15. Jahrhunderts (vor allem durch das Fortschreiten der ‚Deutschen Reichstagsakten’ der älteren und mittleren Abteilung) neue Perspektiven auf den so komplexen und schillernden Gegenstand kaum ausbleiben werden, auf den bisherigen Interpretationsansatz „Hoftag – Königsloser Tag – Reichstag“ wird man künftig verzichten und stattdessen auf das von Gabriele Annas entworfene Modell „Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag“ übergehen müssen.

Anmerkungen:
1 Moraw, Peter, Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Weber, Hermann (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980, S. 1-36.
2 Moraw, ebd. S. 18, 24.
3 Martin, Thomas M., Auf dem Weg zum Reichstag. Studien zum Wandel der deutschen Zentralgewalt 1314-1410, Göttingen 1993.
4 Helmrath, Johannes, Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini. Studien zu Reichstag und Rhetorik, 2 Bde., Habil.schrift (masch.), Köln 1994, Bd. 1 S. 28ff.; Ders., Der Weg zum Reichstag. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung, in: ZHF 26 (1999), S. 61-74.

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