E. Mühle (Hg.): Germany and the European East in the Twentieth Century

Cover
Titel
Germany and the European East in the Twentieth Century.


Herausgeber
Mühle, Eduard
Reihe
German Historical Perspectives 17
Erschienen
Oxford 2003: Berg Publishers
Anzahl Seiten
187 S.
Preis
£45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin

Wegen der bestehenden und wachsenden Sprachbarriere stößt ein bedeutender Teil der deutschen Geschichtswissenschaft kaum auf nennenswerte internationale Resonanz. Umso verdienstvoller ist die Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit von Serien wie der Oxforder German Historical Perspectives Series, die Ergebnisse deutscher Historiografie in englischer Sprache verbreitet.

Der vorliegende Band aus dieser Reihe über Deutschland und den europäischen Osten im 20. Jahrhundert ist das Ergebnis eines Gastaufenthaltes des Direktors des Marburger Herder-Instituts, Eduard Mühle, am St. Anthony’s College in Oxford. Das Buch vereint Beiträge namhafter deutscher Historiker zur Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und verschiedenen osteuropäischen Staaten im „kurzen 20. Jahrhundert“. Es beginnt mit einem Aufsatz von Peter Krüger zum Verhältnis der Weimarer Republik zu Osteuropa. In seinem Text zeigt Krüger, dass die deutsche Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg eine enge Verbindung mit dem revolutionären Russland einging, das als potenzieller Partner gegen Polen gesehen wurde. Auch vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieb das demokratische Deutschland ein Unsicherheitsfaktor in der europäischen Politik, weil es zu keinem Zeitpunkt bereit war, seine neuen Ostgrenzen anzuerkennen. An diesem Beispiel illustriert der Verfasser die enge Verflechtung innenpolitischer Zwänge und außenpolitischer Doktrinen. Krüger sieht im Widerstand der traditionellen Eliten einen bedeutenden Faktor, der einer „Modernisierung“ der deutschen Ostpolitik entgegenstand; in seiner Sicht stand Stresemanns Politik des Ausgleichs letztlich auf verlorenem Posten.

Manfred Hildermeier bespricht das Verhältnis Deutschlands zur Sowjetunion. Der Göttinger Osteuropaexperte vertritt dabei die These einer deutsch-sowjetischen „Wahlverwandtschaft“ von Rapallo bis Ribbentropp. Dabei erklärt er, dass in den 1920er-Jahren für die deutsche Rechte die Polenfeindschaft schwerer wog als der Antikommunismus. Neben diesen politischen Interessenlagen verweist er auf die Russen und Deutschen gemeinsame Begeisterung für die utopischen (Alp-)Träume der Moderne. Während er in seinen Ausführungen zur Weimarer Republik interessante Fragestellungen streift, bleiben Hildermeiers Überlegungen zum nationalsozialistischen Deutschland und zur Bundesrepublik oberflächlich. Gert von Pistohlkors geht in seinem Beitrag der Verbindung zwischen Deutschland und dem Baltikum nach. Er holt weit aus, um die Geschichte der deutsch-baltischen Beziehungen seit dem Mittelalter nachzuzeichnen. Der Verfasser verdeutlicht den tiefen Einschnitt, den der Erste Weltkrieg, die russische Revolution und das folgende „Zeitalter der Extreme“ für diese multiethnische europäische Region hatten. Während des „Griffs nach der Weltmacht“ ab 1915 geriet das Baltikum in den Blick imperialer Phantasien des deutschen Kaiserreichs und im Jahre 1918 in dramatischer Weise zwischen die Fronten nationaler und ideologischer Kämpfe, die zunächst Konsequenz des russischen und dann des deutschen Zusammenbruchs und der folgenden Revolutionen waren. Die Etablierung neuer Nationalstaaten und schließlich der Hitler-Stalin-Pakt bedeuteten das Ende der baltendeutschen Siedlung; es scheiterte der letzte Versuch einer imperialen deutschen Dominanz des baltischen Raumes. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand die baltische Region fast vollständig hinter dem Eisernen Vorhang; erst der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums brachte für Litauer, Letten und Esten die Rückkehr in einen europäischen Kontext.

Gerhard Hirschfeld bespricht die Beziehungen des nationalsozialistischen Deutschland zu Osteuropa. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf Hitlers persönliche Phantasien, seinen Versuch, in Osteuropa ein deutsches Imperium zu errichten, und stellt Hitlers Osteuropaexperten, den Baltendeutschen Alfred Rosenberg, vor. Außerdem fasst er die neuere Forschung zur nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Siedlungspolitik in diesem Raum zusammen. Schließlich wirft er die Frage auf, welches Bild vom „Osten“ in der Wehrmacht verbreitet war, wie stark die militärischen Eliten in den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und den Holocaust verstrickt waren und zeigt, wie sich die Erfahrungen des Krieges in der Feldpost einfacher Soldaten niederschlugen. Michael G. Müller beschäftigt sich mit der „besonderen Beziehung“, die Polen und Deutsche im Katastrophenjahrhundert verbindet. Dazu blickt er bis in das 18. Jahrhundert zurück und verfolgt, wie die zwischenstaatlichen Beziehungen insbesondere von der Grenzfrage dominiert wurden. Müller argumentiert, dass es der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 war, der die Machtbeziehungen in Osteuropa grundlegend veränderte und dessen Resultate sowohl Polens als auch Deutschlands Schicksal besiegelten.

Eduard Mühle beleuchtet am Beispiel des Historikers Hermann Aubin die mental map der deutschen Ostforschung. Zu diesem Zweck analysiert Mühle drei Aufsätze aus verschiedenen Schaffensperioden Aubins (1930, 1940, 1956). Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass sich Aubin zwar den Zeitumständen anpasste, dass seine Grundüberzeugungen, seine Vorstellung vom „Osten“, durch alle Regime und auch nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatten. Hans Lemberg bespricht die deutsch-tschechische Beziehungsgeschichte zwischen 1918 und 1968. Er betont dabei die Asymmetrie des deutsch-tschechischen Verhältnisses: Während die böhmischen Angelegenheiten für die deutsche Öffentlichkeit in der Regel keine bedeutende Rolle spielten, beschäftigten sich die Tschechen extensiv mit ihrer „deutschen Frage“. Lemberg betont die Distanz, die gegenüber Prag in Berlin lange herrschte und beklagt, dass die historische Forschung noch immer wenig über das Alltagsleben in ethnisch gemischten Gebieten Böhmens vor 1938 wisse. Das Jahr des Münchener Abkommens brachte dann das abrupte Ende der tschechisch-deutschen „Konfliktgesellschaft“. Im abschließenden Aufsatz des Bandes beschreibt Axel Schildt das Verhältnis der Bundesrepublik zu Osteuropa. Schildt erläutert die Rolle der Vertriebenenverbände in der bundesdeutschen Politik und verweist auf die ursprünglich geringe Bedeutung Osteuropas für die westdeutsche Wirtschaft. Dem stellt er das große Interesse an polnischer Kultur gegenüber, das seit 1956 herrschte. Schließlich zeigt Schildt, wie aus der zunächst hochkontroversen neuen Ostpolitik seit Beginn der 1970er-Jahre die Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn erwuchs.

Insgesamt betrachtet bietet der Band einen soliden Überblick zum Verhältnis Deutschlands zu Osteuropa im 20. Jahrhundert. Eine bedauerliche Leerstelle bildet die Geschichte der DDR: Dieser deutsche Staat, der ein enges, von den Besonderheiten des sowjetischen Imperiums geprägtes Verhältnis zu seinen östlichen Nachbarn hatte, wird leider nicht behandelt. Dies ändert allerdings nichts daran, dass der Band sich insbesondere auch als Lehrbuch für ausländische Studierende hervorragend eignet.

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