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Titel
Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute


Autor(en)
Schneider, Ute
Erschienen
Darmstadt 2004: Primus Verlag
Anzahl Seiten
144 Seiten, 81 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Struck, Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Freie Universität Berlin

Kann man sich „La Méditerranée“ oder „L’identité de la France“ von Fernand Braudel ohne Karten und deren Interpretation vorstellen? Kann man nicht. Überhaupt lassen sich die „Annales“ mit der frühen Verbindung von Geschichte und Geografie, verbunden mit Namen wie Vidal de la Blache, Ernest Lavisse oder Lucien Febvre, nicht ohne den Bezug zum Raum als historische Kategorie denken.

Ganz anders hingegen verhält sich die Situation in Deutschland. Raum als historische Kategorie und Karten als räumlich-visuelle Quellen waren noch nie ein Schwerpunkt der deutschen Historiografie. Spätestens mit der Geopolitik und deren (un-)freiwilligen Diensten für den Nationalsozialismus verschwanden Karten als Quelle gleichermaßen wie der Raum als Kategorie der Geschichtsschreibung. Standardwerke zur deutschen Geschichte wie die von Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler kommen gänzlich ohne die Problematisierung der Dimension des Raumes und Karten aus. Letztere sind bestenfalls illustratives Beiwerk – und dies nur sehr selten. Das könnte sich mit „Die Macht der Karten“ von Ute Schneider ändern. Denn ein Verdienst der Autorin besteht ohne Zweifel darin, Karten – dazu zählen thematische, topografische oder historische Einzelkarten ebenso wie Atlanten – für die Geschichts- und Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen und an den viel zitierten „spatial turn“ heranzuführen.

Schneider – und mit ihr der Primus Verlag – haben ein ebenso knappes, dichtes wie anregendes und prachtvolles, mit vielen Karten in exzellenter Qualität bebildertes Buch zur Geschichte der Kartografie vorgelegt. Zeitlich umspannt der Überblick rund tausend Jahre der Entwicklung der Kartografie. Den Schwerpunkt legt die Darmstädter Historikerin, die gegenwärtig an der Technischen Universität Braunschweig lehrt, auf die Frühe Neuzeit, dies u.a. mit der Thematisierung der Teilungen Polens im späten 18. Jahrhundert oder mit der Teilung der soeben entdeckten neuen Welt im Vertrag von Tordesillas 1494 zwischen Spanien und Portugal. In beiden Fällen kam Karten faktisch wie symbolisch eine wichtige Rolle zur Ausübung und Durchsetzung von politischer Macht zu. Geografisch liegt der Fokus auf Europa, wobei die zeitliche Orientierung an der Frühen Neuzeit als Zeitalter der Entdeckungen Ausflüge nach Nord- und Südamerika – Namen, die sich im Übrigen erst durch die Benennung auf einer Karte von Martin Waldseemüller im 16. Jahrhundert durchgesetzt haben – mit sich bringt. Namen und Benennungen, ebenso wie Farben und Legenden sind in der kartografischen Darstellung, wie Schneider an zahlreichen Beispielen überzeugend zeigt, nicht als kontingent zu betrachten. Sie können bewusst gewählt und eingesetzt werden, um territoriale Ansprüche zu formulieren oder durchzusetzen. Es sind kleine, aber entscheidende Unterschiede, wenn Karten französischer Provenienz elsässische Ortsnamen deutsch oder französisch benennen, wenn nach 1918 Orte in Polen weiterhin mit ihren deutschen Namen bezeichnet werden. Vereinzelt wird der Blick nach Afrika und Asien gelenkt, dies teilweise vor dem Hintergrund des Imperialismus und Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Damit ist ein breiter Bogen gespannt.

Auf knapp 150 großformatigen Seiten die Geschichte der Kartografie über rund 1.000 Jahre und mehrere Kontinente und Kulturen nachzuzeichnen, ist ein gewagtes Unternehmen. Ein solches, zumal auf eng begrenztem Raum, kann nicht als enzyklopädische Gesamtschau funktionieren. Eine solche darf in diesem Fall jedoch auch nicht erwartet werden. Der Versuch einer breit angelegten Geschichte der Kartografie funktioniert um so überzeugender in der hier gewählten Form eines essayistischen Streifzuges durch die zahlreichen für die Kulturwissenschaft relevanten Fragen zur Kartografie.

In den einzelnen Kapiteln zu Funktion, Form, Leserschaft oder Produktion von Karten, zu Farbgebung oder Standardisierung sind es stets Rahmengeschichten, die den Ausgangspunkt für kurze, eher exemplarisch und an Fallstudien ausgerichtete Kapitel ergeben. So führte, um ein Beispiel zu nennen, der Verlust einiger englischer Kriegsschiffe durch Navigationsfehler im Jahr 1707 zu einem von der britischen Regierung ausgelobten Wettbewerb zur Bestimmung des Längengrades, um die Seefahrt sicherer zu machen. Nach dem Longitude Act des Parlaments im Jahr 1714 setzte unter Wissenschaftlern ein Wettbewerb zur exakten Zeitbestimmung ein, dem Grundproblem der Längengradmessung, in deren Folge eine Reihe neuer und immer genauerer Instrumente zum Einsatz kam. Die Rahmengeschichte dient der Einführung in ein teilweise technikgeschichtlich orientiertes Kapitel zur Verwissenschaftlichung und Objektivierung des Messens, in deren Folge schließlich „der Kartograph und seine Tätigkeit aus den Karten“ verschwanden (S. 67).

Schneiders Geschichte der Kartografie fügt sich ein in aktuelle Debatten um den Raum. Spätestens mit dem Erscheinen von Karl Schlögels „Im Raume lesen wir die Zeit“ 1 schien der „topological“ oder „spatial turn“ auch im deutschen Sprachraum angekommen zu sein. Gänzlich überraschend fiel der Trend einer Hinwendung zum Raum jedoch nicht vom Himmel. Eine Reihe von Tagungen und Workshops zu Grenzen oder „mental maps“ 2 hatte eine Wiederentdeckung des Raumes in den vergangenen Jahren bereits angekündigt. Mit dem Motto „Kommunikation und Raum“ griff nicht zuletzt der 45. Deutsche Historikertag vom vergangenen September Raum als historische Kategorie auf. Gegenüber einer Vielzahl von interessanten Sektionen zu Raum, Räumlichkeit und Kommunikation blieb die Entdeckung neuer Quellen, soweit dies den Themen nach und dem Besuch einiger Sektionen folgend beurteilt werden kann, außen vor. Vor allem Karten, eine bei der gewählten Thematik des Raumes nahe liegende Quelle, blieb bis auf eine Sektion, die im Übrigen von Schneider geleitet wurde, außen vor. So versäumte es der Historikertag leider, angesichts des Themas einen Brückenschlag zu benachbarten Disziplinen wie Geografie und Kartografie zu wagen.

Ein solcher Brückenschlag gelingt dagegen der Autorin. Schneider operiert geschickt an den Grenzen der Disziplinen Geschichte, Geografie und Kartografie, Wissenschafts- und Technikgeschichte, wenn es um Aspekte der Standardisierung von Kartenprojektionen oder der Produktion von Karten geht. Dabei knüpft sie genau wie Karl Schlögel an die Arbeiten von John B. Harley an. Seit Mitte der 1980er-Jahre begann eine Gruppe von Kartografen um Harley, das primär mathematisch-naturwissenschaftlich geprägte Selbstverständnis der Kartografen von der eigenen Wissenschaft und ihrer Geschichte zu hinterfragen. Bis in jüngste Zeit finden sich Darstellungen zur Geschichte der Kartografie, die diese primär als einen fortschreitenden Prozess der Optimierung von Vermessung und Abbildung betrachten und somit, grob gesprochen, mit Dichotomien von wahr und falsch, objektiv und subjektiv, besser oder schlechter in der Beurteilung von Karten operieren.3

Autoren wie John B. Harley, David Woodward, Jeremy Black oder der Franzose Christian Jakob 4 dagegen nahmen die Debatten in den Kultur- und Geschichtswissenschaften über Michel Foucault und Jacques Derrida auf, um deren Ansätze zur Theorie der Macht oder die Dekonstruktion auf Karten, die nunmehr als „Texte“ gelesen wurden, anzuwenden. Ebenso wie Karl Schlögel in seinem mittlerweile viel zitierten Buch greift auch Ute Schneider auf die Anregungen dieser Autoren zurück. Der Ansatz der Literazität von Karten öffnet diese, wie alle anderen textuellen Quellen des Historikers auch, für eine plurale Interpretation. So werden klassische Fragen der historischen Quelleninterpretation für Karten relevant: Wer ist der Autor respektive Kartograf und welche Intention verfolgt er? Welche Darstellungsstrategien wählt er? Was weiß der Kartograf, was lässt er aus? Wer gibt den Auftrag für eine Karte? Wer ist das Publikum und welche Interessen hat es? Dieses sind ebenso einfache wie faszinierende Fragen an Karten, denen bislang weder von der Kartografie noch von der Geschichtswissenschaft angemessen Beachtung geschenkt wurde. Der Verdienst des Buches liegt kaum in der erschöpfenden Gesamtschau zum Thema Kartografie. Er liegt vielmehr darin, ein breites Netz von historisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Fragen an die Quellengattung Karten zu stellen, die in der deutschen Geschichtswissenschaft bislang kaum Beachtung fand.

Anmerkungen:
1 Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
2 Heft „Mental Maps“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002).
3 So z.B. Crone, Gerald R., Maps and Their Makers. An Introduction to the History of Cartography, London 1978.
4 Harley, John B., The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore 2001; Black, Jeremy, Maps and Politics, London 1997; Jakob, Christan, L’empire des cartes. Approches théoriques de la cartographie à travers l’histoire, Paris 1992; Woodward, David (Hg.), Art and Cartography. Six Historical Essays, Chicago 1987.

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