E. Lersch u.a. (Hgg.): Die Idee des Radios

Cover
Titel
Die Idee des Radios. Von den Anfängen in Europa und den USA bis 1933


Herausgeber
Lersch, Edgar; Schanze, Helmut
Reihe
Jahrbuch Medien und Geschichte 2004
Erschienen
Konstanz 2004: UVK Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
19,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Arnold, Lehrstuhl für Journalistik, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Radio begann in Deutschland unter strikter Kontrolle der Post und weiterer staatlicher Einrichtungen. Geboten wurde zunächst ein Bildungs- und Kulturprogramm, das von den Vorstellungen der damaligen gesellschaftlichen Elite geprägt war und volkspädagogische Zielsetzungen verfolgte. Nach und nach gingen die Programmverantwortlichen stärker auf die Wünsche der Hörer ein. Neben den weiterhin dominanten Bildungsprogrammen wurde nun mehr, vor allem musikalische, Unterhaltung gesendet. Journalistische und politisch kontroverse Inhalte spielten jedoch so gut wie keine Rolle.

Die staatliche Kontrolle und der Verzicht das Radio als publizistisches Medium zu nutzen, wurde in der bisherigen Forschung stets als Folge eines spezifisch deutschen, obrigkeitsstaatlichen Denkens bewertet. Damit steht die Vermutung im Zusammenhang, ein publizistisch profiliertes Medium hätte dazu beitragen können, die Einübung in die Demokratie zu fördern und diese Staatsform zu stabilisieren. Eine politisch-meinungsbildende Funktion – nach 1945 entscheidend für die Neukonzeption des Rundfunks in Deutschland – war jedoch in den ersten Radio-Jahrzehnten in keinem Land von besonderer Bedeutung. Somit kann, was Kontrolle und Funktion des frühen Rundfunks angehen, nur begrenzt von einem deutschen Sonderweg gesprochen werden.

So lautet – sehr verkürzt ausgedrückt – die zentrale Erkenntis des von Edgar Lersch und Helmut Schanze herausgegebenen Sammelbandes „Die Idee des Radios. Von den Anfängen in Europa und den USA bis 1933“. Der Band geht auf die Jahrestagung 2003 des „Studienkreises Rundfunk und Geschichte“ zurück, die sich mit der Gründungsgeschichte des Radios befasste. Stärker als bei der Tagung wird hier jedoch der Ländervergleich betont. Im Ergebnis gelang es den Herausgebern zum ersten Mal, die Entstehung des Radios in einer international – vor allem europäisch – vergleichenden Perspektive zu behandeln und z.T. Überraschendes zu Tage zu fördern.

So ist die rigide Postkontrolle des Rundfunks schon in den ersten Jahren zwar ein eher singuläres deutsches Phänomen. Andererseits zeigt sich, dass nach einer kurzen, oft anarchisch anmutenden Experimentierphase in allen Ländern der Staat deutlichen Einfluss auf die Ausgestaltung des neuen Mediums zu nehmen versuchte. Dies hatte zur Folge, dass überall darauf hingewirkt wurde, „das Ansprechen gesellschaftlicher und politischer Konflikte zurückzudrängen“ und das Radio als volkspädagogisches Medium einzusetzen. Dazu kommt, dass unter dem Druck der Weltwirtschaftkrise seit den 1930er-Jahren das Radio in fast allen Staaten „als Element der nationalen Integration instrumentalisiert“ und organisatorisch zentralisiert wurde. Somit stehe der von den Nationalsozialisten unternommene Versuch „Volksgemeinschaft“ durch das Radio zu bilden – bei allen inhaltlichen Unterschieden – „keineswegs so singulär im Raum, wie allgemein angenommen wird“ (S. 8).

Was die einzelnen Beiträge angeht, so ist in erster Linie der zusammenfassende Aufsatz von Edgar Lersch aufschlussreich. Hier werden die eingangs nur thesenhaft erwähnten und aus dem Ländervergleich resultierenden Erkenntnisse weiter ausgeführt bzw. mögliche Ursachen für unterschiedliche und gemeinsame Entwicklungen diskutiert. So blieb der Post in den einzelnen Staaten allein aus Gründen der Zuständigkeit nichts anderes übrig als bei der rein verkehrsverwaltenden Ordnung des Funkwesens mitzuwirken, was aber in der Regel weitergehende Einwirkungen z.B. bei der Konzessionser- oder Frequenzzuteilung implizierte. Die Postbürokratien waren jedoch mit den kommunikationspolitischen Konsequenzen ihrer Aufgabe überfordert und neigten angesichts der instabilen politischen Lage nach dem 1. Weltkrieg dazu, entsprechend restriktiv vorzugehen. Dass politische Inhalte in den meisten Staaten keine Rolle spielten, lag neben der Postkontrolle und der überall zu beobachtenden Ausrichtung des Radios auf Hochkultur auch an den Presseunternehmen. Sie fürchteten die neue Konkurrenz und setzten ihren ganzen Einfluss daran, dass „in den sich etablierenden Rundfunkprogrammen aktuelle Sendungen in größerem Umfang nicht vorkamen“ (S. 39).

Neben den Beiträgen, die die Entwicklungen in den einzelnen Ländern behandeln, wird in zwei weiteren Aufsätzen eine übergeordnete Perspektive eingenommen. So versucht Helmut Schanze auf einer eher theoretischen Ebene zu ergründen, wie die Begriffe Medium, Rundfunk und Masse in den Mediendebatten zur Entstehungszeit des Rundfunks gekoppelt wurden. Hierbei ging es seiner Meinung nach vor allem darum, der „Masse“ die tatsächliche Mitwirkung am neuen Medium zu verweigern, da unkontrollierte Wirkungen befürchtet wurden, wenn sich die „Masse“ – vor allem die zahlreichen Militärfunker – des Mediums tatsächlich bedient hätten. Dies mag so gewesen sein. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass allein aus technischen Gründen eine Regulierung nötig war und eine ähnliche Furcht vor der Masse bei der Presse offensichtlich nicht vorhanden war, die sich bereits relativ frei entfaltet hatte bzw. sich in den Jahren der Weimarer Republik weiter entfaltete. Allein die Furcht vor der „Masse“ kann also nicht dazu geführt haben, dass der Rundfunk in einer im Vergleich zur Presse eher zentralisierten Form aufgebaut wurde. Dem „Gebrauchswert des frühen Rundfunks“ und somit der Rezeptionsseite ist der Beitrag von Kaspar Maase gewidmet. Angesichts der Konkurrenz durch das Grammophon weist er die Annahme zurück, dass Radio sei in erster Linie als Unterhaltungsmedium genutzt worden. Vielmehr – so seine These – sei es der Gebrauchswert „für den modernen, massendemokratischen Anspruch auf Informiertheit“ (S. 47) gewesen, der das Radiogerät vor allem in bewegten Zeiten unersetzbar gemacht habe.

Die folgenden Länderbeiträge widmen sich diversen europäischen Staaten und den USA. Für letztere verweist Michele Hilmes darauf, dass nach einer relativ chaotischen Startphase auch dort seitens des Kongresses regulierend eingegriffen und eine Aufsichtsbehörde geschaffen wurde. Da nicht alle Gruppen eine Lizenz erhalten konnten, wurden nun unter dem Leitbegriff „public interest“ vor allem Stationen lizenziert, die ein breiteres Publikum ansprachen, was schließlich zur Entstehung der großen amerikanischen Networks führte. Auch in Großbritannien – dies ist dem Beitrag von Paddy Scannell zu entnehmen – existierte vor der Etablierung eines nationalen Radioprogramms 1930 eine größere Vielfalt von regionalen Sendern, die in einem Netzwerk miteinander verbunden waren. In Frankreich – so René Duval und Caroline Ulmann-Mauriat – sendeten in einer Art „dualem System“ staatliche und private Stationen. In den 1930er-Jahren nahm der Staatseinfluss allerdings auch in Frankreich zu.

Auf die Situation in der Tschechoslowakei geht Lenka Cábelová ein: Hier wurde der Rundfunk zunächst von einer privaten Gesellschaft veranstaltet. Aufgrund finanzieller Probleme hielten es die Verantwortlichen aber bald für notwendig, sich für ein finanzielles Engagement des Staates einzusetzen. Im Gegensatz zu Deutschland mussten die staatlichen Vertreter, die den öffentlichen Rundfunk nicht sonderlich ernst nahmen, erst von der Bedeutung des Radios überzeugt werden. Die Beziehung zwischen Staat und Rundfunkgesellschaft scheint dabei zunächst relativ problemlos gewesen zu sein. Dies änderte sich erst in den 1930er-Jahren, als es darum ging den Rundfunk stärker als politisches Instrument einzusetzen. Auch in Spanien – darauf weist Mechthild Albert hin – war der Rundfunk in den ersten Jahren privat organisiert und sendete vor allem Bildungsangebote. Im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) setzten dann beide Seiten das Radio als ideologische Waffe ein. Zwei weitere Beiträge stellen die Entwicklung in Österreich und der Schweiz dar. Während Theodor Venus das lange Tauziehen zwischen der Post, verschiedenen politischen Gruppen und der Industrie beschreibt, das schließlich 1924 zur Gründung der Radio Verkehrs AG (RAVAG) führte, gehen Edzard Schade und Ursula Ganz-Blättler auf die unterschiedlichen Vorstellungen der Radioorganisation in der französischsprachigen Westschweiz und der Deutschschweiz ein; dabei plädierten die Westschweizer eher für einen offenen Radiomarkt, während die Deutschweizer sich mehr staatliche Regulierung wünschten. Ein Rundfunksystem mit einer explizit integrativen Zielsetzung konnte so nur unter großen Schwierigkeiten entstehen.

Insgesamt liegt hier ein interessanter Band vor, auch wenn darauf hinzuweisen ist, dass eine Reihe wichtiger Länder wie z.B. Italien oder Russland fehlen. Da die einzelnen Autoren in ihren Beiträgen unterschiedliche inhaltliche und zeitliche Schwerpunkte setzen, und eine einheitliche Systematik offenbar nicht angestrebt wurde, ist zudem die Vergleichbarkeit z.T. leider eingeschränkt. Gleichwohl bringt die europäisch vergleichende Perspektive nicht nur einen erheblichen Zugewinn an Wissen über die jeweiligen nationalen Besonderheiten und Parallelen, sondern trägt auch dazu bei, manche Annahmen über die Rundfunkentwicklung in Deutschland zu relativieren.

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