J. Hessler: A Social History of Soviet Trade

Cover
Titel
A Social History of Soviet Trade. Trade Policy, Retail Practices, and Consumption, 1917-1953


Autor(en)
Hessler, Julie
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$39.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt Universität zu Berlin

Die Monate unmittelbar nach Stalins Tod im März 1953 waren durch das Bestreben der sowjetischen Führung gekennzeichnet, die Versorgungslage der Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit zu verbessern. Die Maßnahmen liefen unter dem vielsagenden Motto, "dem Volk innerhalb von zwei bis drei Jahren ausreichend Nahrung, Kleidung und Schuhe" zur Verfügung zu stellen. Dieses Vorhaben wirft ein Schlaglicht auf das Fiasko, dass die Versorgungspolitik der Stalinära für die Bevölkerung der Sowjetunion bedeutet hatte. Ein Grund für die Versorgungskrise war die staatliche Reglementierung des Handels, der Preise und der unternehmerischen Initiative, die die sowjetische Führungselite als notwendige Voraussetzung des Sozialismus verstand.

Es ist diese Geschichte der Reglementierung des Marktes und der Möglichkeiten, sie zu umgehen, die Julie Hessler in ihrem Buch "A Social History of Soviet Trade" erzählt. Hessler untersucht die Entwicklung der sowjetischen Handelsökonomie im Gegeneinander von Privathandel und staatlichen Interventionen, von Marktmechanismen und ideologischen Vorstellungen, von Überlebensstrategien und Privilegienwirtschaft. Dieses Buch will weit mehr sein als eine Schilderung der Probleme von Ladenbesitzern, Marktfrauen und Wirtschaftsplanern zwischen 1917 und 1953: Es ist der Versuch, die sowjetische Wirtschaftsgeschichte anhand umfangreicher neuer Archivdaten neu zu erzählen. Der Blick "von unten" soll dabei der wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchungsperspektive neuen Schwung verleihen. Die Interpretation von "harten" statistischen Daten geht in Hesslers Untersuchung Hand in Hand mit der Verwendung von Reiseberichten, Tagebüchern und Briefzeugnissen.

Drei fundamentale Versorgungskrisen sind es, um die herum Hessler ihre Geschichte der sowjetischen Handelsökonomie aufbaut: die Bürgerkriegsjahre von 1917 bis 1922, die Periode der Kollektivierung und Industrialisierung von 1927 bis 1933 und die Krisenjahre des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1947. Die genannten Zeiträume waren durch große Hungerkrisen (1920/21, 1932/33, 1946/47) gekennzeichnet. Ein mangelndes Warenangebot in allen Bereichen, florierende Schwarzmärkte, Bürokratisierung der Verteilungsapparate und eine nach den Kriterien der Klassenzugehörigkeit differenzierte Rationierung von Waren wurden zu Kennzeichen des "Krisensozialismus".

Im Gegensatz zum Krisenzustand findet Hessler für die wenigen Jahre, in denen sich die Sowjetunion Lenins und Stalins nicht in einer für weite Teile der Bevölkerung lebensbedrohlichen Mangelkrise befand, Zeiten der "Normalisierung": die Neue Ökonomische Politik (NEP), die kurzen Jahre zwischen dem Abschluss der Kollektivierung und dem sowjetischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg sowie die Zeit des Spätstalinismus nach 1948. Was aber bedeutete "Normalität" in der Handelsökonomie der Sowjetunion? Hessler nennt als Kennzeichen des "Normalzustandes" die Abschaffung der Rationierung, den freien Zugang zu Geschäften (im Gegensatz zum Warenvertrieb durch Fabriken und Betriebe nach dem Klassenprinzip), eine zunehmend adäquate Menge an vorhandenen Waren und einheitliche Preise in den verschiedenen Regionen des Landes (S. 304).

Das Umschwenken der sowjetischen Führung 1921 vom Kriegskommunismus mit seiner ausufernden Versorgungsbürokratie, seinen Marktverboten und seiner handelsfeindlichen Ideologie der "klassengerechten" Verteilung hin zur NEP kann mit Recht als Zeit der "Normalisierung" beschrieben werden. Die frühen 1920er-Jahre waren bekanntermaßen eine Periode, in der sich die Sowjetführung gegenüber den Privathändlern für kurze Zeit eine positive Einstellung leistete. Diese Haltung wich einem 1926 beginnenden und sich stetig ausweitenden Krieg gegen den legalen Privathandel, der 1928-31 schließlich zu dessen weitgehender Abschaffung führte. Anschaulich zeigt Hessler diese Entwicklung anhand einer Gruppe von 304 Händlern und macht in ihrer Interpretation klar, dass die meisten Händler der NEP-Periode nicht als "Russlands letzte Kapitalisten" – also als Überbleibsel aus der vorrevolutionären Zeit – gelten können, wie dies Alan Ball behauptet hatte. Vielmehr war der private Kleinhandel die neueste soziale Rolle, die die städtischen Unterschichten zu spielen hatten ("the newest incarnation of Russia's urban and small town poor" S. 110).

Die Neue Ökonomische Politik war ein schwaches Kind, das am ideologischen Erbe des Kriegskommunismus krankte. Die sowjetische Führung konnte sich auch in den 1920er-Jahren nicht von ihren Verdächtigungen gegenüber dem Handel losmachen (S. 100). Ende 1923 wurden 916 Händler aus Moskau deportiert (S. 114). Im April 1928 traf die erste "Massenoperation" der Stalinzeit 3.000 Lederhändler (S. 143ff.). Trotz der staatlichen Repressionen, die zwischen 1926 und 1947 periodisch wiederkehrten, verloren die Märkte (Basare) jedoch nie ihre Bedeutung. Hessler beschreibt einen im gesamten Untersuchungszeitraum funktionierenden "persistent private sector" (S. 293). Während der Versorgungskrisen der Kollektivierungsjahre, als die staatlichen Läden nur Wodka und Parfum verkauften, vergrößerte sich der Anteil des Basarhandels sogar (S. 186). Die Bedeutung des halblegalen Privatsektors kann daher kaum überschätzt werden.

Die staatliche Handelspolitik der 1930er-Jahre orientierte sich auch ansonsten nur in geringem Maße an den Bedürfnissen der Verbraucher. Zwar wollte die Parteiführung verändern, was sie als Missstand wahrnahm. Dies betraf jedoch in erster Linie die Versorgung der Moskauer Bevölkerung, deren Leben die Funktionäre täglich vor Augen hatten. Doch selbst die Versorgung Moskaus blieb trotz aller Anstrengungen nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität mangelhaft. Dies konnte man auf den Moskauer Basaren beobachten. Der Stalinsche Gegenentwurf des "kultivierten Handels" sollte Abhilfe schaffen. Die staatlichen Warenhäuser und Verkaufseinrichtungen sollten nach westlichem Vorbild umgestaltet werden. Eine ansprechende Dekoration, Hygiene und freundliche Verkäufer waren allerdings Ideale, die selbst im Zentrum Moskaus nur schwer zu erreichen waren: Aus der ganzen Sowjetunion reisten Menschen nach Moskau, um dort Stoff und andere Waren billig (d.h. zu staatlichen Preisen) zu erstehen. Wie Hessler für die Jahre 1937-1939 beschreibt, waren das Kaufhauspersonal und die Polizei mit den "unkultivierten" Provinzlern und Bauern überfordert (S. 235ff.).

Der Zweite Weltkrieg traf ein Land, dessen Marktökonomie zwischen fortwährenden Mangelerscheinungen, der halblegalen Privatinitiative der Basare und zyklischen Repressionswellen nicht auf die Beine kommen konnte. Als von den Deutschen die wichtigsten Getreideregionen erobert wurden, brachen zwischen dem Chaos des Rückzugs und der Angst der Bevölkerung ganze Marktsegmente zusammen und machten einem Überlebenskampf Platz, in dem von Diebstahl bis zum Hausieren alles erlaubt war. Auch die staatlichen Repressionen gegen Händler hielten an. Hessler berichtet davon, dass es beim Versuch der Miliz, Kleinhändler zu enteignen, wiederholt zu Zusammenstößen zwischen Polizisten und Soldaten kam, die die Händler schützen wollten. Die Soldaten lieferten sich sogar Schießereien mit Mitgliedern der Sicherheitsorgane (S. 278f.). Erst die Kriegswende 1943 brachte eine teilweise Entspannung. Wer konnte, ging nun auf Hamsterfahrten. Betriebe und Kolchosen schickten eigene Handelsvertreter durch das Land, um sich mit Waren zu versorgen. Wiederum waren es die halblegalen privaten Initiativen, die für das Versorgungssystem rudimentäre und überlebenswichtige Funktionen leisteten.

Die Entspannung nach Kriegsende verlief schleppend. Als Zeitpunkt für die beginnende "Normalisierung" gibt Hessler das Jahr 1948 an, als die sowjetische Ökonomie aus ihrem Krisenzyklus von Hunger und Mangel herausfand. Die letzten Jahre von Stalins Herrschaft erscheinen daher als Übergangsphase, die mit ihren Defekten (Niedrigpreispolitik) und Problemen (andauernde Mangelerscheinungen) auf die Zeit des Tauwetters hinweisen (S. 309f.). Dieser Wandel ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Repressionen gegen den Handel weitgehend aufhörten und die Verantwortung für die Überwachung des Handelssektors von den Sicherheitsorganen und der Partei auf die regionalen staatlichen Stellen überging (S. 316). Ein relativer Erfolg war der von Hessler behaupteten "Normalisierung" jedoch vor allem deshalb beschieden, weil es keine Missernten gab (S. 326).

Detailliert schildert Julie Hessler, dass mit vereinfachenden Begriffen wie "Stalinismus" der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion zwischen 1917 und 1953 nicht beizukommen ist. Das Hin und Her der ideologischen Vorgaben, der praktischen Erfolge und Misserfolge und des alltäglichen Lebens zeigt sie an umfangreichem Archivmaterial aus Moskau und St. Petersburg, Odessa, Kursk und Rjasan. Sie unterstreicht damit die komplexe Vielfältigkeit und Interaktion der Verhaltensrepertoires von Bürokratie, Händlern und Verbrauchern. Ihre historiografische Konzeption zeigt das Wechselspiel von "Krisenzeiten" und "Normalität", die als die zwei grundlegenden Modi der sowjetischen Handelsökonomie gelten. Hesslers teilweise langwierigen und detailversessenen Argumentationen machen es den LeserInnen nicht immer einfach. Eine solide Beherrschung der einschlägigen Forschungsliteratur ist für die Lektüre unabdingbar.

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