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Titel
Moskau. Menschen, Mythen, Orte


Herausgeber
Rüthers, Monika; Scheide, Carmen
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frithjof Benjamin Schenk, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians Universität

Kaum eine andere europäische Stadt ist von einer vergleichbaren Dynamik geprägt wie Moskau. Die rasante Transformation der Kapitale der Russländischen Föderation zieht Touristen und Stadtforscher gleichermaßen in ihren Bann. Im September 2001 machte sich eine Gruppe von OsteuropahistorikerInnen der Universität Basel auf die Reise, um Moskau als Ort der Geschichte, Mythen und Erinnerungen zu erkunden. Die Ergebnisse dieser Studienfahrt haben Monica Rüthers und Carmen Scheide in einem ansprechend gestalteten „Reisebegleitbuch“ veröffentlicht. „Moskau. Menschen, Mythen, Orte“ beinhaltet dreiundzwanzig Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der russischen Hauptstadt. Der Kreis der AutorInnen umfasst sowohl ausgewiesene Osteuropahistoriker als auch Studierende des Faches Geschichte. Von einem Überblickstext zur Stadtgeschichte von Heiko Haumann abgesehen, konzentrieren sich alle Beiträge auf das späte 19. bzw. das 20. Jahrhundert, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf die sowjetische Herrschaft gelegt wurde.

In sechs Kapiteln mit den Überschriften „Panorama“, „Prominente Orte“, „Stadtlandschaften“, „Geistige Ebenen“, „Architekturdenkmäler“, „Erinnerungsorte“ finden sich Aufsätze über Plätze des Moskauer Alltagslebens wie z.B. Bahnhöfe (Sandra Studer) oder Märkte (Monica Rüthers), Beiträge über einzelne Architekturdenkmäler wie die Christ-Erlöser-Kathedrale (Tumasch Clalüna) oder die Metro (Daria Sambuk) sowie Artikel über Netze von Erinnerungsorten wie z.B. Orte der sowjetischen Musik-Kultur oder die Gedenkorte des Großen Vaterländischen Krieges (Carmen Scheide). Allen Artikeln vorangestellt ist ein kleiner Informationskasten, in dem die im Text erwähnten Orte mit Adresse und Metro-Station benannt werden. Am Ende steht jeweils eine kurze, meist wohlsortierte Liste weiterführender Fachliteratur. Die Artikel sind mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen illustriert, in Marginalien finden sich vertiefende Informationen bzw. Zitate aus Quellen und literarischen Werken. Der Anhang enthält eine umfangreiche Bibliografie (zusammengestellt von Monica Rüthers) mit Stadtgeschichten, Reiseberichten, Fotobänden, Moskau-Romanen und -Comics in deutscher, englischer und französischer Sprache.

Dem kurzen Einleitungstext des Bandes zufolge, will das Buch ein Begleiter sein auf einer Entdeckungsreise eines „andere[n], faszinierende[n], historische[n], erzählende[n] Moskau[s]“ (S. 5). Orte, die in einem „gewöhnlichen“ Reiseführer beschrieben werden, wie die Kathedralen des Kreml’, das Neujungfrauenkloster oder die Tret’jakov-Galerie werden offenbar ganz bewusst ausgeklammert. Das Buch möchte den Blick auf Orte lenken, die den Alltag der Bewohner Moskaus bestimmten und bis heute bestimmen, bzw. die sich als Orte der Erinnerung im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis festgeschrieben haben. Dabei wird von den Herausgeberinnen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Die Auswahl der Themen und betrachteten Orte ist (fast zwangsläufig) unvollständig und lückenhaft.

Der Reiz des Ansatzes einer Topografie Moskauer Alltags- und Erinnerungsorte wird in einigen Beiträgen des Bandes besonders deutlich. Carmen Scheide stellt z.B. in einem ihrer Aufsätze die Arbeitersiedlung und Gartenstadt „Sokol“ als erstes städtebauliches Projekt der Bolschewiki nach 1921 vor, das keiner Abrisswelle sowjetischen Stadtumbaus zum Opfer gefallen ist. Vergleichbar der Gartenstadt „Eden“ in Oranienburg bei Berlin ist „Sokol“ bis heute ein Denkmal des Ideals der „grünen Stadt“, das in den 1920er-Jahren viele Stadtplaner in Europa bewegt hat.

Die Visionen und Projekte des städtischen Wohnungsbaus in der Chruschtschow-Ära beleuchtet Monica Rüthers in ihrem Aufsatz über die Moskauer „Urmutter aller Plattenbauviertel“, „Nowye Tscherjomuschki“. Sie beschreibt das groß angelegte Wohnungsbauprojekt der späten 1950er-Jahre als Teil eines neuen „Gesellschaftsvertrages“ zwischen dem Regime und der Bevölkerung nach dem Tod Stalins (S. 167). Kern dieser ungeschriebenen Vereinbarung sei, so Rüthers, die Übereinkunft gewesen, dass den Regierenden das Monopol politischer Macht, die Kontrolle über die Medien und die Reisefreiheit gelassen wurde. Im Gegenzug verbesserten diese „die Versorgung mit Wohnraum und Konsumgütern und garantierten Vollbeschäftigung sowie ein funktionierendes soziales Netz“. Die Umsetzung des Wohnbauprojektes veränderte das Leben vieler Tausend Moskoviter tiefgreifend, befreite sie aus den beengten Wohnverhältnissen der Kommunalwohnungen („kommunalki“) und ermöglichte ihnen ein Familienleben mit Privatsphäre. Auch für die politische Geschichte des ganzen Landes habe die Wohnungsbaupolitik Chruschtschows weitreichende Folgen gehabt, so Rüthers. Gerade die Errichtung der Plattenbausiedlungen habe millionenfach Orte geschaffen, in denen sich jene „Nischengesellschaft mit einer Vielfalt von Subkulturen“ entwickeln konnte, die charakteristisch für die UdSSR der 1960er, 1970er und 1980er-Jahre war.

Ausgewählte symbolische Orte der Moskauer „Nischengesellschaft“ in der Zeit von „Tauwetter“ und „Stagnation“, stellen Sophie Schudel, David Frey und Anke Stephan in ihren Beiträgen über die Topografie der Barden- und Rock-Kultur bzw. über die Orte der sowjetischen Dissidentenbewegung vor. Schudel unternimmt einen Streifzug zu den Plätzen in Moskau, die im Leben und im Werk von Bulat Okudschawa und Wladimir Wyssozki eine besondere Rolle spielten, bzw. die bis heute an die beiden führenden Vertreter des russischen „Autorenliedes“ der Sowjetzeit erinnern. Frey geht auf Spurensuche der Rock-Kultur der 1980er-Jahre und versucht, die Kultur des „Magnitizdat’“ an konkreten Moskauer Adressen festzumachen. Allerdings gerät bei dieser Moskauzentrischen Perspektive leider leicht aus dem Blick, dass die Entwicklung der russischen Rockmusik kein spezifisches Phänomen der Geschichte der Hauptstadt der UdSSR war. Zu Recht weist Frey auf die Bedeutung regionaler Zentren, wie z.B. Tbilissi hin. Die Rolle Leningrads als Herkunftsort der Gruppen „Akvarium“ oder „Kino“ hätte jedoch noch deutlicher unterstrichen werden können. In ihrem Beitrag über die Orte der sowjetischen Dissidentenbewegung der 1950er bis 1980er-Jahre gelingt es Anke Stephan auf überzeugende Art und Weise, die Beschreibung städtischer Orte auf der einen und Ereignissen der Stadt- und Politikgeschichte auf der anderen Seite miteinander zu verknüpfen. Stephan stellt u.a. den Majakowski-, den Puschkin- und den Roten Platz als Orte der Bewegung der „Andersdenkenden“ in der UdSSR seit 1958 dar und leistet damit wertvolle Erinnerungsarbeit. Sie weist darauf hin, dass im Stadtbild Moskaus nur noch wenige Spuren an die Dichterlesungen und politischen Demonstrationen der Dissidenten bzw. an ihre Verfolgung und Bestrafung erinnern. Sie macht deutlich, dass die sowjetische Dissidentenbewegung nicht nur den legendären „Küchentisch“ als Ort ihrer Diskussionen und Aktivitäten nutzte, sondern dass vielfach auch der öffentliche Raum zum Schauplatz mutigen widerständigen Verhaltens wurde. Dass diese Orte und die mit ihnen verknüpften Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten, ist ihr ein besonders Anliegen.

Neben diesen Beiträgen, die überzeugend und informativ über weitgehend unbekannte oder zumindest oft unbeachtete Orte der neueren Geschichte in Moskau berichten, finden sich in dem Band jedoch auch Artikel, in denen der Rückbezug auf Moskau bzw. auf die konkrete Topgrafie der Stadt nicht in gleichem Maße deutlich wird. Dies gilt z.B. für den Text über den Künstler, Mystiker und Kulturreisenden Nikolai Roerich (Klaus Ammann) oder den Beitrag von Teresa Roos über die Geschichte von Theosophie und Anthroposophie in Moskau.

Insgesamt zeichnet sich der Sammelband durch eine große Heterogenität aus - sowohl hinsichtlich der Länge der Beiträge als auch mit Blick auf Sprachstil und Informationsdichte. Während einige Autoren im Duktus eines Reiseführers erzählen („besichtigen Sie die Ringlinie am besten abends“, S. 162; „einen Besuch wert ist“ S. 58), wenden sich andere offenbar eher an ein informiertes Fachpublikum. Basieren einige Fallstudien auf umfangreichen Archivrecherchen, so fehlen in anderen wiederum zum Teil Basisinformationen. Während einige AutorInnen einen argumentativen Stil wählen und neue Thesen zur Stadtgeschichte Moskaus entwickeln, beschränken sich andere auf die impressionistische Beschreibung urbaner Topografien.

Angesichts dessen, dass in dem Band Karten und Stadtpläne fehlen und das Buch wegen des gewählten Kunstdruckpapiers relativ schwer ist, eignet sich der Band vermutlich besser zur intensiven Vorbereitung einer Moskaureise denn als „Reisebegleitbuch“. Als Inspirations- und Informationsquelle für die Planung einer Besichtigungstour Moskauer Alltags- und (zeitgeschichtlicher) Erinnerungsorte ist das Buch indes zu empfehlen.

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