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Titel
Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder - Biografie


Autor(en)
Cesarani, David
Erschienen
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Krause, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Es gibt wohl nur wenige NS-Täter, die „prominenter“ sind als Adolf Eichmann. Keinem von ihnen wurde so Aufsehen erregend der Prozess gemacht wie dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Deportation der europäischen Juden zuständigen Referates im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der nach seiner spektakulären Gefangennahme im Frühjahr 1960 durch den israelischen Geheimdienst in Argentinien in Jerusalem (1961/62) vor Gericht gestellt, abgeurteilt und hingerichtet wurde. Aber trotz des Prozesses von Jerusalem, in dessen Verlauf Eichmann nahezu weltweite Bekanntheit erlangte, ist die über ihn verfügbare Literatur bisher eher dürftig. Dies verwundert umso mehr, da Eichmann geradezu zum Prototypen des NS-Schreibtischtäters avancierte, wobei die eingängige Arendtsche Formel von der „Banalität des Bösen“, die Eichmann für sie verkörperte, fast Teil der Alltagssprache geworden ist.1

Die bisher vorliegenden Arbeiten über die Person Eichmann haben eher essayistischen oder journalistischen Charakter2, befassen sich nur mit wichtigen Teilaspekt des „Falles Eichmann“, wie z.B. der kritischen Analyse der von Eichmann verfassten oder mündlich geäußerten Selbstzeugnisse3, oder widmen sich primär seiner Funktion im RSHA und seinen Verbrechen und berücksichtigen dabei die biografischen Aspekte eher am Rande.4 Das nun auch auf Deutsch (engl. 2002) vorliegende Buch des britischen Historikers David Cesarani hat diese Lücke, die es mühsam machte, Informationen über Eichmann in gebündelter Form zu erhalten, ein Stück weit geschlossen.

In seiner Studie orientiert sich Cesarani an einer strikt chronologischen Gliederung, die dem Lebens- und „Karriereweg“ Eichmanns folgt: Nach einer Einführung, in der die Herangehensweise und Perspektive der Untersuchung erläutert wird, und einem kürzeren Abschnitt über Kindheit und Jugend in Österreich werden in mehreren Kapiteln die einzelnen Stadion Eichmanns im NS-Vernichtungsapparat und sein Anteil an der Umsetzung der „Endlösung“ ausführlich nachgezeichnet. Es folgen zwei Abschnitte über seine Flucht und die Gefangennahme sowie – sehr ausführlich – über den Prozess. Bevor Cesarani schließlich seine Schlussbetrachtungen formuliert, widmet er sich den Nachwirkungen des Eichmann-Prozesses auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit insbesondere in Israel, Deutschland und den USA. 5

Für seine sehr detaillierten Ausführungen greift Cesarani nicht nur auf bekannte Quellen (z.B. die Protokolle der Verhöre und die Akten des Prozesses) und bereits vorliegende Studien zurück, sondern erschließt Dokumente, die erst vor wenigen Jahren der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden. Dies sind insbesondere die bereits erwähnten Aufzeichnungen, die Eichmann während seiner Haft in Israel anfertigte, sowie das so genannte Sassen-Interview, d.h. die Aufzeichnungen jener Gespräche, die Eichmann in den späten 1950er-Jahren in Argentinien mit dem ehemaligen SS-Mann Willem Sassen geführt hatte. Der große Nutzen und Gewinn der vorliegenden Arbeit liegt denn auch nicht zuletzt darin, dass hier erstmals das verfügbare Material zusammengetragen und miteinander in Beziehung gesetzt wird.

Mit Hilfe dieser unfangreichen Gesamtschau des Materials und der Einbettung dieser Dokumente in den jeweiligen historischen Kontext versucht Cesarani ein möglichst genaues Bild der Person Adolf Eichmann zu zeichnen sowie dessen Rolle im NS-Apparat klar herauszuarbeiten. Dabei bewegt er sich von Anfang an bewusst in jenem bekannten Spannungsfeld, das durch die Frage nach Eichmanns Motiven gekennzeichnet ist: War Eichmann ein fanatischer Antisemit und Massenmörder, wie der damalige israelische Generalstaatsanwalt und Vertreter der Anklage, Gideon Hausner, behauptete 6, oder war er „nur“ ein seelenloser Bürokrat und Schreibtischtäter mit mäßiger Intelligenz und ohne Mitgefühl, wie es Hannah Arendt nahe legte? Diese Frage nach den Motiven Eichmanns ist gleichwohl der Rote Faden der sich durch die gut 600 Seiten starke Studie zieht. Cesarani versucht detailliert nachzuzeichnen, wie sich Eichmann zum Täter entwickelte, wobei es ihm nicht zuletzt darum geht, bestehende „Mythen“ über den ehemaligen SS-Obersturmbannführer kritisch zu hinterfragen (S. 13ff.). Eine wesentliche These des Buches lautet: Eichmann war nicht der „geborene“ Antisemit und „pathologische“ Massenmörder, als der er verschiedentlich beschrieben wurde. Cesarani zeigt, dass sich Eichmanns Vorstellungen und Ansichten zur „Judenfrage“ sowie seine Handlungen im Laufe der Zeit mehr und mehr radikalisierten, bis er die Vernichtung der Juden als „logischen“ und „richtigen“ Schritt ansah, den es im Interesse des „Deutschen Reiches“ umzusetzen galt. Dabei gelingt es Cesarani, durch das akribische Aufschlüsseln des Lebens- und Karriereweges Eichmanns im Kontext der antisemitischen Politik des NS-Regimes bis hin zur „Endlösung“ die Wechselwirkungen zwischen dem individuellen Werdegang Eichmanns und dem sich radikalisierenden Vernichtungswillen des Regimes deutlich zu machen. Dazu orientiert er sich an den wichtigen Wegmarken der „Karriere“ Eichmanns: Von den ersten Kontakten zur nationalsozialistischen „Bewegung“ in Österreich, dem Eintritt in die SS und dem Beginn seiner Arbeit für den Sicherheitsdienst (SD) und das RSHA, dem Aufbau der „Zentralstellen für jüdische Auswanderung“ in Wien und Prag bis zur Organisation der Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz 1944. Anhand dieser Wegmarken zeigt Cesarani, wie eng Eichmanns persönliche Entwicklung verknüpft war mit der Entwicklung der antisemitischen Politik des NS-Regimes: Eichmann ging nicht nur jeden Schritt der Radikalisierung bis hin zum organisierten Massenmord ohne Zögern mit, sondern beteiligte sich engagiert an der Umsetzung jedes einzelnen Schrittes, sei es bei der Organisation der Vertreibung oder des „reibungslosen“ Transportes in die Vernichtungslager. In seiner Analyse wendet sich Cesarani gegen das von Hausner formulierte Bild Eichmanns als „Großinquisitor“, der alle Fäden in der Hand hielt und letztlich über Leben und Tod der europäischen Juden zu entscheiden hatte. Vielmehr sei Eichmann „nur“ der Knotenpunkt bei der Organisation der Vertreibung, der Deportationen und des Massenmordes gewesen. Er habe zwar die Abläufe kontrolliert, konnte aber, so Cesarani, keine grundlegenden Entscheidungen treffen (S. 171ff.). Damit wird nicht die Schuld Eichmanns, aber der Eichmann-„Mythos“ vom nahezu alleinverantwortlichen allmächtigen Schreibtischtäter relativiert.

Bei der Ergründung der Motive Eichmanns greift Cesarani sowohl auf dessen Selbstzeugnisse als auch auf die vorhandenen Zeugenaussagen und Dokumente zurück, die er wiederum in Beziehung zu den historischen Entwicklungen setzt. Dadurch gelangt er zu plausibeln Schlussfolgerungen. Falls Eichmann wegen des Mordens, das er aus eigener Anschauung kannte, Skrupel gehabt haben sollte, so legte er diese mit der Zeit ab. Er war bereit, so belegt Cesarani, sich am Massenmord zu beteiligen, um seine Karriere voranzubringen. Auch wenn er anfangs nicht die Ermordung, sondern „nur“ die Vertreibung der Juden zum Ziel gehabt haben mag, betrachtete er aber „die Juden“ grundsätzlich als „Feinde Deutschlands“, so dass er deren Ermordung mehr als nur billigend in Kauf nahm, sondern sie – als er sie als „notwendig“ erkannt hatte – tatkräftig unterstützte (S. 167ff.).

Somit widerspricht Cesarani sowohl Gideon Hausner als auch Hannah Arendt. Er sieht in Eichmann weder den nahezu krankhaften Antisemiten noch die blässliche, lächerlich anmutende Gestalt, die Arendt in Eichmann zu erkennen glaubte. Eichmann ist sowohl ein Produkt der ihn formenden äußeren Entwicklungen und Umstände, als auch ein Mensch, der sich bewusst für einen bestimmten Weg entschieden hat. Er hat sich entschieden, in der SS und im RSHA „Karriere“ zu machen. Und er war in vollem Wissen um die Konsequenzen bereit, die Transporte in die Ghettos und Lager zu organisieren: Er hat sich entschieden, ein Massenmörder zu sein. Indem Cesarani die Betrachtung des persönlichen Werdegangs Eichmanns eng mit der Betrachtung der historischen Entwicklungen verbindet, wird es möglich, die Verantwortung Eichmanns als Täter zu erkennen, ohne die Bedeutung der sich mit dem Kriegsverlauf radikalisierenden antisemitischen Vernichtungspolitik des NS-Regimes für die Entwicklung Eichmanns hin zum Massenmörder zu vernachlässigen.

Anmerkungen:
1 Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1992 (zuerst 1964).
2 So z.B. Pearlman, Moshe, Die Festnahme des Adolf Eichmann, Frankfurt am Main 1961.
3 Irmtrud, Wojak, Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt am Main 2001.
4 So z.B. Safrian, Hans, Die Eichmann-Männer, Wien 1993.
5 Für Deutschland siehe Krause, Peter, Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse, Frankfurt am Main 2002.
6 Hausner, Gideon, Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967.

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