M. Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften

Cover
Titel
Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft


Herausgeber
Maurer, Michael
Erschienen
Stuttgart 2003: Reclam
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission, Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Die Reihe „Aufriß der Historischen Wissenschaften“, deren numerisch erster Band als Letzter noch nicht vorliegt und für das nächste Jahr angekündigt ist, verfolgt eine doppelte Zielrichtung: Die drei Bände des ersten Teils sind dem „Interesse an der Geschichte“ gewidmet und behandeln „Epochen“, „Räume“ und „Sektoren“. Die vier Bände des zweiten Teils sind unter der Überschrift „Geschichte und Überlieferung“ zusammengefasst; sie thematisieren „Quellen“, „Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung“, „Institutionen“ sowie „Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft“. Aufgabe der Reihe ist es – so der Herausgeber in seiner Einleitung – „einen Zugang zur Geschichte, zum historischen Denken und zur Wissenschaft der Historiker [zu] vermitteln“. Das Projekt soll „eine Brücke von der Schule zur Universität schlagen“ (S. 13). Dem siebten Band kommt in dieser Konzeption offensichtlich die Funktion eines ‚Ausblicks‘ zu, indem er methodische und theoretische Tendenzen herausheben soll, „die sich in den letzten Jahrzehnten klarer abgezeichnet haben“ (S. 12). Wie in den anderen Bänden – nur jener über die Quellen enthält 18 Beiträge – sind im Schlussband fünf Aufsätze zu finden. Sie wurden wie das Gros der Texte der gesamten Reihe von ausgewiesenen Historikern der ‚jüngeren Generation‘ geschrieben, die sich auf der Schwelle vom Privatdozentenstand ins Professorenamt befindet.

Dirk van Laaks Darstellung der „Alltagsgeschichte“ ist chronologisch angelegt. Der Autor skizziert den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund und die Verankerung dieser Forschungsauffassung in der politischen Landschaft der frühen 1980er-Jahre. Dabei wird die Alltagsgeschichte gegenüber der älteren Sozialgeschichte profiliert: War diese den Zielen der Emanzipation und Befreiung verpflichtet, so sei es den Alltagshistorikern um „Identifikation und Bindungssuche“ gegangen; war Erstere – pauschal gesprochen – vom ‚altlinken‘ Geist inspiriert, so entstand Letztere parallel zur grünen Bewegung und erhielt Impulse von Oral History, Volkskulturforschung und Frauengeschichte. Zudem betont van Laak die außeruniversitäre Verwurzelung der Alltagsgeschichte in Geschichtsvereinen und -werkstätten und nennt auch Schwächen des Forschungsansatzes: „Eine oft naive Auffassung vom unmittelbaren Zugang zur Authentizität aufgrund von Sympathie und lebensweltlicher Nähe aus der Froschperspektive spiegelte das Modernisierungsparadigma bloß negativ und nährte bisweilen einen nostalgischen Antimodernismus“ (S. 60).

Dorothee Wierling behandelt die „Oral History“, die in den 1940er-Jahren in den USA entwickelt und seit Ende der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik betrieben wurde. Die Autorin stellt Themen der Oral History (z.B. Lebenswandel, Alltagserfahrung, Erfahrung von totalitären Regimes) vor und erörtert die zentrale Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung für diese Konzeption. Weite Strecken des Aufsatzes sind als praktische Anleitung in die Interviewtechnik und die Praktiken der Oral History zu lesen. Dies wirkt in einem Band, der eher einen fachlich-thematischen Überblick geben will, etwas fehl platziert, zumal einschlägige Einführungen zu Befragungstechniken aus Soziologie und Sozialpsychologie zuhauf existieren. Außerdem mag man über die Aktualität von Wierlings Identitätsbegriff streiten: Kann man Identität wirklich noch in dem ungebrochenen Verständnis einer Entelechie verstehen, nach dem man sich in den „biographischen Phasen der Kindheit, Jugend und frühen Berufs- sowie Familiengründungsphase“ zu dem „hinentwickelte, was man dann im Prinzip blieb“ (S. 131)?

Thomas Sokoll und Rolf Gehrmann konstatieren in ihrem Beitrag über „Historische Demographie und quantitative Methoden“, dass das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft an den von den Autoren skizzierten „historisch-demographischen Fragen selbst im Rahmen der Historischen Sozialwissenschaft immer bescheiden gewesen [sei]. Inzwischen ist es noch weiter geschrumpft“ (S. 154). Gibt es dann überhaupt ein nennenswertes Interesse, dass die Aufnahme dieses Beitrags in den Band rechtfertigen würde? Eine dichtere Literaturlage ist es sicher nicht, denn die mit Ausnahme von Arthur Imhof, dessen Arbeiten ausführlich vorgestellt wird, haben sich kaum ausgedehntere Studien des Ansatzes bedient. Vielleicht ist es das Modell des „demographischen Übergangs“, dessen Nützlichkeit Sokoll und Gehrmann in ihrer beispielgesättigten Darstellung betonen.

Anne Conrads Behandlung der Frauen- und Geschlechtergeschichte ist von großer Übersicht geprägt. Die Autorin erläutert die feministische und Emanzipationsbewegung als Hintergrund der Frauengeschichte und stellt die Ersetzung des biologisch fundierten Frauenbegriffs durch den stärker kulturell argumentierenden Genderbegriff dar, der auch auf Männer anwendbar ist. Conrad stellt die einschlägigen Forschungsschwerpunkte und Forschungsprobleme (z.B. fehlende Quellen) vor und nennt die führenden Zeitschriften zum Thema.

Der letzte Beitrag stammt vom Herausgeber selbst und ist der „Historischen Anthropologie“ gewidmet, die gegenüber der Biologischen, Theologischen, Philosophischen und Soziologischen Anthropologie abgegrenzt wird. Die Entwicklung dieser Auffassung auch im Ausland mit im Blick behaltend, stellt Maurer die unterschiedlichen Ausprägungen der Historischen Anthropologie und die sie bestimmenden Einflüsse aus anderen Wissenschaftsbereichen (z.B. Ethnologie, Volkskunde) in Deutschland vor, ohne dabei für eine Auffassung Partei zu ergreifen. Schließlich umreißt er mit „Körper – Sinne“, „Gesundheit – Krankheit“, „Schwangerschaft – Geburt“, „Sexualität“, „Jugend – Alter“ und „Sterben – Tod“ die zentralen Themenfelder.

Mit den genannten kleineren Kritikpunkten zeigen alle Beiträge eine Mischung aus fachlichem Überblick und darstellerischer Klarheit, die sie prinzipiell für den Einsatz in der schulischen und universitären Lehre geeignet erscheinen lassen könnte. Gleichwohl verhindert dies ein Problem, das für die gesamte Reihe zu beobachten ist: Mit jeweils mehr als 70 Seiten sind die Beiträge deutlich zu lang, um als Einführungen in diesem Kontext zu dienen. Für ein Fachpublikum hingegen ist der Band wohl nur wenig fruchtbar, da die auf innovative Thesen bewusst verzichtenden Texte fast ausschließlich Grundwissen abbilden. Schwerer noch als diese praktikabilitätsbegründeten Vorbehalte gegen den Band wiegen Bedenken gegen seine Konzeption: Die dargestellten Forschungsrichtungen entstammen allesamt den 1970er und 1980er-Jahren. Die Beschäftigung mit Alltagsgeschichte, Oral History und Historische Anthropologie – die durch ihren gemeinsamen Entstehungskontext im Zuge einer Abgrenzung gegen die Historischen Sozialwissenschaft konzeptionell und thematisch eng verknüpft sind – ist seit den 1990er Jahren eher rückläufig; die Historische Demografie war nie etabliert und wird aktuell wenig diskutiert; und die Geschlechtergeschichte ist mittlerweile fest im Kanon der universitären Lehre etabliert, also kaum ‚neu‘. Wo bleibt aber die Behandlung wirklich neuer Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft? Wo wird die Neue Kulturgeschichte behandelt (es gibt lediglich einen Beitrag zur Kulturgeschichte älterer Prägung von Maurer in Band 3), wo findet sich eine Darstellung von Diskurs-, Umwelt-, Wissenschafts-, Medien- oder Globalgeschichte? In einem Band, der einen Titel wie der Vorliegende trägt, erwartet der Leser diese Themen und nicht solche, deren Darstellung von den betreffenden Autoren selbst als „postumer“ Rückblick auf aus der Mode gekommene Auffassungen verstanden wird.

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