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Titel
Die Ursprünge Europas. Migration und Integration im frühen Mittelalter


Autor(en)
Postel, Verena
Erschienen
Stuttgart 2004: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Steinacher, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien

Verhältnismäßig kurz nach dem 2002 erschienenen Buch "Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration" von Walter Pohl hat die Marburger Mediävistin Verena Postel jüngst einen thematisch sehr ähnlich ausgerichteten Band im Kohlhammer-Verlag vorgelegt.1 Strukturiert ist "Die Ursprünge Europas" in ein einführendes Kapitel "Das Erbe des Imperium Romanum" und einzelne Abschnitte zu den Alemannen, Angeln und Sachsen, Burgundern, Franken, Ost- und Westgoten, Vandalen und Langobarden. Dass die Gentes in den Kapitelüberschriften mit den von ihnen besetzten Provinzen angegeben werden, verdeutlicht, dass Postel eine komplexe, dem internationalen Stand der Forschung angemessene Auffassung von den Vorgängen der Spätantike und des frühen Mittelalters für einen "weiteren Leserkreis von Studenten und historisch interessierter Öffentlichkeit" (Vorwort) aufbereitet hat. Die im Folgenden angebrachte Kritik relativiert sich durch diese Ausrichtung des Buchs und sollte jeweils als Anmerkung zu einem guten Text verstanden werden.

"Am Anfang war das Römerreich, so ließe sich thesenhaft zugespitzt einer der wesentlichen Ursprünge des frühmittelalterlichen politischen Kosmos benennen" (S. 15), so beginnt das einführende Kapitel, das gelungen die Grundlagen des Transformationsprozesses vom Imperium zu den Regna darstellt. Nicht der Bevölkerungsdruck in den Ausgangsländern, wie die Forschung in Anlehnung an in antiken Texten vermittelte Bilder es lange darstellte, sondern das wirtschaftliche und kulturelle Gefälle zwischen Mittelmeerraum und Barbaricum verursachten diese Wanderungsbewegungen, die seit dem 16. Jahrhundert mit dem assoziationsreichen Begriff "Völkerwanderung" 2 bezeichnet werden. Germanisches Gefolgschaftswesen, römische Klientelstrukturen, römische Militär- und Kaisergewalt, senatorialadlige Grundherrschaft und geistliche Leitungsgewalt werden von Postel einleitend als die Elemente benannt, die allmählich zu jener spezifisch mittelalterlichen Form von Herrschaft als eines wechselseitigen Verhältnisses verschmolzen, deren Charakter sich von der neuzeitlichen, durch Befehl und Gehorsam strukturierten Beziehung grundlegend unterscheidet (S. 13). In der neueren Forschung ist dies allerdings differenziert betrachtet worden; dabei wurde in Zweifel gezogen, ob man von "mittelalterlicher Herrschaft" in dieser Form sprechen kann.3 Postel betont weiters die Rolle der Kirche und die Bedeutung der Konversion des Frankenkönigs Chlodwigs zum Katholizismus, was die für die Gotenreiche und das vandalische Königtum so negative Dualität zwischen katholischer Provinzialbevölkerung und arianischen Zuwanderern verhinderte. Mit diesen Beispielen sei die Breite wie Relevanz der Themen angedeutet, die für jedes (historische) Verständnis Europas grundlegend sind.

Bei der Darstellung der von Postel so bezeichneten "fünf erschließbaren langobardischen Ethnogenesen" (S. 65) könnte man allerdings den Eindruck gewinnen, die Autorin hielte die Anfangsteile der origo gentis des Paulus Diaconus für eine Schilderung historischer Vorgänge. Explizit meint sie, die mündliche Überlieferung der Gens sei in diese "Stammesgeschichte" eingegangen und man habe damit ein Zeugnis für eine erste langobardische Ethnogenese in Skandinavien auf der Halbinsel Schonen. Zumindest eine Erwähnung des topischen Charakters der ganzen Erzählstruktur (Doppelkönigtum, skandinavische Herkunft usw.) wäre angebracht, wenn nicht die Ausführung massiver Zweifel an der Möglichkeit, aus Paulus Diaconus auf historische Details vor dem Betreten des Imperiums durch die Langobarden zu schließen. Die berühmte Geschichte von Freia und Wotan, die bei Paulus den Langobarden-Langbärten ihren Namen bringt, wird von Postel dann angereiht. Der folgende Satz, "Dieser Kultwechsel gab der gens die religiöse Einheit und damit ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl" (S. 66), wäre m.E. aufgrund der angebrachten Zweifel an der Historizität eines solchen Berichtes besser vermieden worden. Um so unverständlicher wird die zitierte Passage, wenn später die angelsächsische Wandersage um das Brüderpaar Hengist und Horsa (Hengst und Pferd) als legendär klassifiziert wird und Postel Parallelen zur gotischen und langobardischen origo anspricht. Auch im Langobardenkapitel selbst (S. 234) findet sich dann später eine differenziertere Betrachtung. Das Beispiel zeigt, wie wichtig präzise Sprache und ständig angewandte Kritik im Darstellungsverlauf sind.

Es sei dem Verfasser nachgesehen, zweimal in dieser Rezension auf "Vandalisches" einzugehen: Dass, wie Postel meint, auch die Silberprägungen der vandalischen Könige "weiterhin das Kaiserbildnis" (S. 186) trugen, ist nicht zutreffend. Vielmehr erscheint nach Gunthamund (484-496) sehr wohl die Büste des jeweiligen Vandalenkönigs auf den Silbermünzen, zuvor verwendete man auf diesen Prägungen das Bildnis des Kaisers Honorius.4 In der Literatur findet sich immer wieder die Ansicht, bei dem auf einen Speer gestützten Krieger auf dem Avers von in Karthago ausgeprägten Kupfermünzen handle es sich um den König Geiserich (so auch bei Postel, S. 187). Diese These ist jedoch nicht belegbar.

Postels Einführung ist als Lesebuch gut zu verwenden, weniger zum Nachschlagen und Präzisieren. Der Band ist ohne Fußnoten ausgeführt, wodurch sicherlich die Lesbarkeit gefördert wird. Das Quellenverzeichnis bietet teilweise mehrere moderne Editionen und Übersetzungen, was einen Einstieg in die Thematik möglich macht. Allerdings fehlen wesentliche Autoren wie beispielsweise Hydatius; dies erscheint angesichts des Anspruchs des Buches, einen breiten Überblick zu vermitteln, wenig verständlich. Indices für Namen und Orte hätten den Gebrauchswert des Bandes sicher erhöht. Ein Literaturverzeichnis, gegliedert nach den einzelnen Kapiteln, führt meist die einschlägigen Monografien an, die aber nicht in allen Fällen den Forschungsstand wiedergeben. Der weitgehende Verzicht auf Lexika und Sammelbände macht in einem Feld so lebendiger Forschung Probleme. So fehlen etwa beim Vandalenkapitel die jüngst in der "Antiquité tardive" veröffentlichten Ergebnisse der Tagungen in Paris und Tunis5, die doch Wesentliches zur aktuellen Diskussion grundlegender Fragen beigesteuert haben. Schwierig zu akzeptieren ist zuletzt, dass das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde in seiner zweiten Auflage nicht als wesentliches Referenzwerk erwähnt wurde. Doch kann dieser Mangel aufgrund der Orientierung des Werks als Lernbuch und Einführung für eine größere Öffentlichkeit sicher nachgesehen werden. Der Band ist gut lesbar verfasst. Postel hatte große Freude am Thema sowie an der Vermittlung der vielen und sehr komplexen Themen, die es im einschlägigen Zusammenhang zu problematisieren gilt. Diese Freude ist im Text zu bemerken und hilft dem Leser beim Einstieg in die Thematik.

Anmerkungen:
1 Pohl, Walter, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2002.
2 Die De gentium aliquot migrationibus des Hofgeschichtsschreibers Kaiser Ferdinands I. Wolfgang Lazius prägte den Begriff. Seine ausgedehnte Darstellung der Völkerwanderung (De aliquot gentium migrationibus sedibus fixis, reliquiis, linguarumque, initiis immutationibus ac dialectis libri XII, Basel 1572) verfolgt letztlich keinen anderen Zweck, als das habsburgisch-spanische Reich zu einem Nationalstaat mit uralten historischen Wurzeln in der Völkerwanderungszeit zu stilisieren. Auf ihren ausgedehnten Zügen, die durch Zeiten der Sesshaftigkeit unterbrochen wurden, hätten die Germanen die durchwanderten Länder vom Schwarzen Meer bis Cádiz vereint. Diese Länder seien nun unter der habsburgischen Herrschaft wieder zusammengeführt worden. Dagegen wird noch im heutigen Italienisch und Französisch die Völkerwanderung als "barbarische Invasion" (invasione barbarica/ grandes invasions) bezeichnet; vgl. Wolfram, Herwig, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, München 2001, S. 13, 16; Messmer, Hans, Hispania-Idee und Gotenmythos. Zu den Voraussetzungen des traditionellen vaterländischen Geschichtsbilds im spanischen Mittelalter ( Geist und Werk der Zeiten 15), Zürich 1960, S. 51 u. Anm. 248.
3 Vgl. Pohl, Walter, Art. "Herrschaft", in: Beck, Heinrich u.a. (Hgg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, Berlin 1999, S. 443-456, hier S. 452-455.
4 Vgl. Morrisson, Cécile, Caratteristiche ed uso della moneta protovandalica e vandalica, in: Delogu, Paolo (Hg.), Le invasioni barbariche nel meridione dell'impero. Visigoti, Vandali, Ostrogoti, Atti del Convegno svoltosi alla Casa delle Culture di Cosenza dal 24 al 26 luglio 1998, Rubbettino 2001, S. 151-180, hier 156-157.
5 L'Afrique vandale et byzantine, 1re/ 2e partie, in: Antiquité tardive 10 (2002) u. 11 (2003).

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