R. Kohring u.a. (Hgg.): Tilly Edinger

Titel
Tilly Edinger. Leben und Werk einer jüdischen Wissenschaftlerin


Herausgeber
Kohring, Rolf; Kreft, Gerald
Anzahl Seiten
639 S., 35 s/w Abb.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Lipphardt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Aber Sie, sagen Sie doch mal: meinen Sie, ich, weiblich, jüdisch, könnte mich in Heidelberg habilitieren??!“ So umriss die Paläontologin Tilly Edinger (1897-1967) in einem Brief 1925 ihre Berufssituation, die durch ihre Schwerhörigkeit noch verschärft wurde. Ihr Schicksal, beispielhaft und einzigartig zugleich, bietet zahlreiche Ansatzpunkte für die Geschichte der Naturwissenschaften und der erzwungenen Wissenschaftsemigration, für Vergleiche der Studien- und Forschungsbedingungen für Frauen ebenso wie für die deutsch-jüdische Geschichte.

Im vorliegenden Buch wird eine herausragende Persönlichkeit auf ungewöhnliche Weise vorgestellt: Mit einem zweisprachigen Sammelband, der fünf Beiträge von vier Autoren aus drei verschiedenen Disziplinen und zwei Nationen (Deutschland/USA) umfasst. Anders als viele männliche Kollegen hinterließ Edinger keinen (aus-)sortierten Nachlass, sie schrieb keine stilisierende Autobiografie – dafür aber viele Briefe an FreundInnen und KollegInnen, die höchst aufschlussreich, aber als Quellen nicht unproblematisch sind. Die Darstellungen stützen sich daher auf eine Fülle an Dokumenten aus rund 60 europäischen, amerikanischen und israelischen Archiven sowie auf Zeitzeugenberichte. Die Autoren heben die herkömmliche Grenze zwischen Privat- und Arbeitsleben auf und schildern diese als eng verflochten, thematisieren stets Leben und Werk Tilly Edingers, wobei jeder eine spezifische Fragestellung verfolgt. Daraus ergeben sich Überschneidungen, die jedoch kaum zu Redundanzen, sondern zu Diskussionen zwischen den Autoren führen. Dieser polyperspektivischen Herangehensweise kann eine Rezension kaum gerecht werden, weshalb ich mich auf die wissenschaftshistorische Perspektive konzentriere.

Tilly Edinger, Tochter des bekannten Frankfurter Neurologen Ludwig Edinger, studierte Naturwissenschaften, promovierte 1921 in Paläontologie und arbeitete bis 1938 unentgeltlich im Senckenberg-Museum (Frankfurt am Main). Bereits während der Promotion weckte der „Steinkern“, die gehärteten Sedimente im Inneren fossiler Schädel, ihr Interesse: Als „fossiles Gehirn“ versprach seine Untersuchung Aufschlüsse über die Evolution des Nervensystems. Die von ihr begründete „Paläoneurologie“, die Erforschung von Form und Funktion der Gehirne ausgestorbener Wirbeltiere, bedeutete einen innovativen Ansatz zwischen klassischer Paläontologie und vergleichend-funktioneller Biologie. Edinger verband den vergleichend-neurologischen Ansatz ihres Vaters mit der jungen Fachrichtung der Paläobiologie, wobei ihrer Zusammenarbeit mit dem Paläontologen Louis Dollo sowie mit Kollegen des Vaters entscheidende Bedeutung zukam.

Nach 1933 sah Tilly Edinger lange keinen Grund, Deutschland zu verlassen. Sie fühlte sich in Frankfurt zuhause; das Familienvermögen ermöglichte ihr ein Berufsleben ohne Einkommen, und ihr Chef ließ sie inoffiziell am Museum weiterarbeiten. Spätestens seit der Reichspogromnacht, nach welcher auch die Arbeitsmöglichkeit am Museum wegfiel, sah sie sich immer massiveren Anfeindungen ausgesetzt. Sie emigrierte 1939 nach Großbritannien und 1940 in die USA, wo sie eine Stelle am Museum of Comparative Zoology erhielt. Hier fand sie nicht nur bessere berufliche Entfaltungsmöglichkeiten, sondern auch ungezwungenere, weniger hierarchische Umgangsweisen – und eine Art „wissenschaftliche Familie“: Zeitlebens unverheiratet, schuf sie sich ihr soziales Umfeld im beruflichen. 1945 erfolgte die Einbürgerung, die ihre patriotische Identifikation mit Amerika verstärkte. Gleichwohl unterhielt Edinger mitunter problembelastete Kontakte nach Deutschland, sei es, um ehemalige deutsche Kollegen bei Entnazifizierungsverfahren zu beurteilen, sei es im Kampf um ihre immer wieder verzögerte Wiedergutmachung. Mehrmals bereiste sie Europa und ihre ehemalige Heimatstadt. Edinger nahm zahlreiche Ehrungen aus Deutschland und den USA entgegen. Sie starb 1967 bei einem Verkehrsunfall.

Einen ausführlichen biografischen Überblick gibt der Berliner Paläontologe Rudolf Kohring. Hier zeigt sich ein methodisches Problem narrativer Lebensdarstellung: Kohring baut seine chronologische Darstellung nicht nur auf Briefen auf, die in der jeweils geschilderten Zeitspanne entstanden, sondern auch auf rückblickenden Briefen aus späteren Lebensphasen Edingers, die sich nur begrenzt als direkte Quelle für die erzählte Phase eignen. Stärken seines Beitrags liegen in den diskutierenden Passagen, z.B. derjenigen über Edingers ambivalente Haltung angesichts des von ihrem ehemaligen Chef erwünschten „Persilscheins“. Für die NS-Zeit blickt Kohring vergleichend über den biografischen Rahmen hinaus auf andere Wissenschaftlerschicksale, Institutionsentwicklungen und die disziplininterne Atmosphäre.

Im zweiten Beitrag des Bandes widmet sich die Paläontologin Emily Buchholtz (USA) der Begründung der „Subdisziplin Paläoneurologie“. Buchholtz gliedert Edingers wissenschaftliche Karriere in drei Abschnitte: In Deutschland habe sie lediglich deskriptiv an „Steinkernen“ gearbeitet; ihre interpretativen und originellen Arbeiten begannen demnach erst in den USA. Ihre dritte Schaffensperiode war der Aufgabe als Präsidentin der „Society of Vertebrate Palaeontology“ und bibliografischen Publikationen gewidmet. Buchholtz betont, dass Edinger am Selbstverständniswandel der Paläontologie von einer „Erdwissenschaft“ zu einer biologischen Disziplin aktiv beteiligt sei. Letzteres gilt nach Darstellung der beiden deutschen Autoren allerdings schon für die vermeintlich „deskriptive Phase“ in Deutschland. Eine Reflexion des Begriffs „Disziplingründung“ wäre wünschenswert gewesen: Ob die Paläoneurologie institutionelle Strukturen erhielt, wer sich explizit als Paläoneurologen betrachtete, ob und wie Paläoneurologie rezipiert und unterrichtet wurde, wären Fragen für vergleichende Perspektiven; denn die Paläoneurologie war laut Buchholtz und Kohring lange Zeit mit Edingers Wirken nahezu identisch.

In einem weiteren Beitrag schildert Buchholtz, vergleichend mit anderen immigrierten DozentInnen, die kurze Lehrtätigkeit Edingers am Wellesley College. Für Tilly Edinger, schwerhörig, ohne Lehrerfahrung, war das Unterrichten herausfordernd, jedoch letztlich ein Erfolg. Buchholtz erwähnt die große Wertschätzung, die ihr SchülerInnen und KollegInnen entgegenbrachten; die Frage, welchen didaktischen Vorbildern Edinger folgte und wie ihre Synthese aus deutschem und amerikanischem Unterrichtsstil aussah, bleibt offen.

Der gehörlose Physiker und Pädagoge Harry G. Lang (USA) beschreibt in seinem ebenfalls vergleichenden Beitrag die Auswirkungen der Schwerhörigkeit Edingers auf ihre Laufbahn und soziale Situation. Er macht deutlich, wie diese Behinderung eine Wissenschaftslaufbahn einschränken und behindern, aber auch formen und fördern kann. Edinger sah sich zwar oft isoliert, nutzte aber ihre Abhängigkeit vom Hörapparat für notwendige Kommunikationspausen und Arbeitsphasen. Lang erinnert auch an das Schicksal Tausender Schwerhöriger, die nach 1933 in Deutschland sterilisiert und ermordet wurden.

Abgeschlossen wird der Sammelband durch den beeindruckenden Beitrag des Frankfurter Soziologen und Medizinhistorikers Gerald Kreft: „Tilly Edinger im Kontext ihrer deutsch-jüdischen Familiengeschichte“. Kreft geht nicht chronologisch vor, sondern entlang „ausgewählter Problemkonstellationen“. Begrifflich behutsam differenzierend, fragt Kreft nach den deutsch-jüdischen Akkulturationsleistungen Tilly Edingers. Weniger das explizite Selbstverständnis als Juden, sondern vielmehr kollektive Akkulturationsstrategien – z.B. Bildungsstreben, Frauenförderung, naturwissenschaftliche Ausbildung, (welt-)bürgerliche Lebensformen, spezifische Karriere- und Sozialisationsmuster, Säkularisierung sowie Familienstrukturen – bildeten demnach einen „kollektiv-kulturellen Erfahrungshorizont deutscher Juden“. Dass diesem Hintergrund für Edingers beruflichen Werdegang sowie ihre amerikanische Integration eine wichtige Rolle zukommt, zieht sich als roter Faden durch Krefts Darstellung.

Beginnend mit den Lebensrückblicken der Emigrantin schildert Kreft Edingers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der Emigrationserfahrung, der bundesrepublikanischen „Wiederjudmachung“ (Edinger zitiert nach Kreft, S.394) und den damit verbundenen Identitätsfragen. Anschließend untersucht Kreft das „mehrschichtige Bedingungsgeflecht“ der Begründung der Paläoneurologie. Neben der elterlichen Unterstützung, dem Studium beim Vater sowie fachlichen Faktoren kommen hier auch psychosoziale Bedingungen zur Sprache. Edinger orientierte sich stark an „akademischen Ziehvätern“ und ging komplizierte Liebesverhältnisse mit Kollegen ein; Frauen spielten in ihrer Laufbahn offenbar keine Rolle.

Mit ihren nichtjüdischen KollegenInnen und FreundInnen pflegte sie einen deutlich anderen Kommunikationsstil als mit ihren jüdischen. Kreft ordnet letzteren in eine „deutsch-jüdische Sprachkultur“ ein, gekennzeichnet u.a. durch jüdische Redewendungen und einen besonderen Humor. Außerdem behandelt Kreft private Belange, auch in ihrem Einfluss auf wissenschaftliches Arbeiten; über künstlerische Interessen, depressive Momente, Ablösungsschwierigkeiten sowie über ihr Frauenbild. Solche die Karriere beeinflussenden Faktoren wurden bisher in WissenschaftlerInnen-Biografien eher vernachlässigt.

Edingers gelungene Akkulturation bezeichnet Kreft angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung im historischen Rückblick als „Falle“: Nach 1933 hoffte Edinger, durch Anpassung und Protektion ihrer „Ziehväter“ der Emigration entgehen zu können. Politisch unbedarft, verkannte sie zunächst die Tragweite der nationalsozialistischen Maßnahmen. Auf den wachsenden Antisemitismus reagierte sie mit positivem jüdischem Selbstbewusstsein. Das Erlebnis der Reichspogromnacht und der Emigration schildert Kreft anhand eindrucksvoller Rückblicke Edingers, deren Schicksal er mit demjenigen ihrer näheren Verwandten – z.T. ebenfalls Wissenschaftler – vergleicht. Anders als viele EmigrantInnen identifizierte sich Edinger rückhaltlos mit ihrer neuen Heimat, ohne die Bindungen an ihre Herkunft zu leugnen. Dies führt Kreft auf die strukturellen Gemeinsamkeiten beider Akkulturationsprozesse zurück: Die Integration im deutsch-jüdischen Familienverband wurde in die Integration in die amerikanische „Wissenschaftsfamilie“ überführt – eine von Edinger selbst gezogene und von Kreft weiter ausgedeutete Parallele. Seine Betrachtungen über Edingers Vergangenheitsbewältigung, Geschichtsbewusstsein, Privatsphäre, politischen, religiösen und ästhetischen Ansichten runden den Beitrag ab.

Insgesamt kann dieses Gemeinschaftsprojekt künftigen WissenschaftlerInnen-Biografien als Vorbild dienen: Wie die Herausgeber bemerken (S. 15), hätte keiner der vier Autoren allein eine so vielseitige und komplementär-ausgewogene Darstellung von Leben und Werk Tilly Edingers schreiben können. Die dadurch entstehenden „Synergie-Effekte“ und die Möglichkeiten zum Vergleichen, Springen und Zurückblättern lassen die Lektüre zum Vergnügen werden. Dem eigenen Anspruch, das Bild Tilly Edingers „beim Lesen immer wieder neu entstehen“ zu lassen und „ein eigenes Urteil [zu] ermöglichen“ (S. 15), sind die Herausgeber gerecht geworden. Sicher wäre an einigen Stellen eine stärkere Kontextualisierung oder Vergleichsperspektive wünschenswert gewesen, so z.B. hinsichtlich der Disziplingründung sowie der Situation von Akademikerinnen. Der Band weist aber auch auf entsprechende Forschungslücken hin: Neben zahlreichen Studien über jüdische Geisteswissenschaftler stehen nur wenige über jüdische Naturwissenschaftler – und noch weniger über jüdische Naturwissenschaftlerinnen. Zusammenhänge zwischen Emigration und Wissenschaftstransfer sind bereits thematisiert worden, weniger jedoch Auswirkungen der Emigration auf die Lehre. Hier liefert das Buch Grundlagen für Vergleichsstudien.

Schließlich werfen die Autoren implizit eine für das Genre der WissenschaftlerInnen-Biografie folgenreiche Frage auf: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den Liebesbeziehungen und der Professionalität, den Forschungsinhalten und dem beruflichen Werdegang wissenschaftlich arbeitender Menschen? Wissenschaftler-Biografien haben diesbezüglich oft nur anekdotischen Charakter. Die künstliche Trennung zwischen Privatem und Beruflichem entspricht dem Selbstverständnis vieler Wissenschaftler, ihren selektierten Hinterlassenschaften – die Briefe Edingers an ihre Freundin Elisabeth Salomon sind ein Glücksfall – sowie dem Wissenschaftsverständnis der Biografierenden (dass dieses Prinzip gerade in der Biografie einer Frau durchbrochen wird, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall und hat mich zunächst irritiert). Die geschlechtsspezifische Verflochtenheit beider Bereiche werden von Kohring und Kreft beispielhaft geschildert: Von körperlichen Annäherungsversuchen begleitete Hilfsbereitschaft akademischer Ziehväter, institutionelle und fachliche Abhängigkeiten von Liebhabern, Diskreditierungen der fachlichen Leistungen einer Wissenschaftlerin unter Hinweis auf (vermutete) Beziehungen, Ambivalenzen des Frauenbildes oder Selbstverständnisses einer Wissenschaftlerin sind nur einige Aspekte einer komplexeren Untersuchungsebene, auf der nach den (bereichernden oder behindernden) Wechselwirkungen zwischen Liebesbeziehungen und wissenschaftlicher Arbeit gefragt werden kann. Entsprechende Untersuchungen wären natürlich unbedingt auch – jenseits bloßer Anekdotensammlungen – für männliche Wissenschaftler durchzuführen. Eine explizite Vorstellung dieses Ansatzes, mit dem Kreft und Kohring Liebesbeziehungen und wissenschaftliche Situation aufeinander beziehen, wäre meines Erachtens wünschenswert gewesen. Denn sie beziehen in ihre (psychoanalytisch geprägten) Schilderungen auch private Beziehungen Edingers mit ein, die sich nicht auf ihren beruflichen Werdegang beziehen lassen, aber in einfühlsamer Weise das Bild der Persönlichkeit Edingers abrunden.

Dieses Buch kann einem breiten Publikum empfohlen werden: Jeder Leser, ob PaläontologIn, WissenschaftshistorikerIn, NaturwissenschaftlerIn, HistorikerIn oder biografisch interessiert, wird bei der Lektüre Laie und Spezialist zugleich sein. Nicht nur durch diese inhaltliche Vielseitigkeit, sondern auch durch die Zweisprachigkeit und Interdisziplinarität des Sammelbandes werden Leben und Werk der Tilly Edinger auf äußerst gelungene Weise vorgestellt.

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