I. Lehmann: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen

: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken und Erwartungen. Band 1: Die Presse der Vereinigten Staaten, Grossbritanniens und Frankreichs. Frankfurt am Main 1996 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 3-631-30251-7 777 S. DM 148,00

: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken und Erwartungen. Band 2: Die Presse Dänemarks, der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs, Österreichs, der Schweiz, Italiens, Portugals und Spaniens und jüdische Reaktionen. Frankfurt am Main 1997 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 3-631-30968-6 539 S. DM 98,00

: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken und Erwartungen. Band 3: Die Politik, die Medien und die öffentliche Meinung der Sowjetunion. Frankfurt am Main 2001 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 3-631-35933-0 475 S. DM 98,00

: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken und Erwartungen. Band 4: Polen und die Tschechoslowakei. Frankfurt am Main 2004 : Peter Lang/Frankfurt am Main, ISBN 3-631-37902-1 XXI, 448 S. € 59,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Jander, Berlin

Dokumentationen zur Vereinigung beider deutscher Staaten gibt es in großer Anzahl. Nur wenige sind jedoch so originell wie die 4 Bände umfassende und erst 2004 abgeschlossene der Politologin Ines Lehmann. Sie hat ihrer Arbeit den Titel „Die deutsche Vereinigung von außen gesehen“ gegeben.1 Eigentlich geht es aber um mehr, und eben das ist die unverwechselbare Leistung der Autorin: Hier werden Ängste, Befürchtungen, aber auch Erwartungen im Zusammenhang der Vereinigung beider deutscher Staaten dokumentiert, die in Gesellschaften publiziert und diskutiert wurden, die während des Nationalsozialismus Opfer und/oder Gegner des Deutschen Reichs waren.

Auf insgesamt 2.259 Seiten erhält der Leser Einblick in die Kontroversen und Debatten von 16 nationalen Gesellschaften. Besonderes Augenmerk hat Lehmann dabei auf die veröffentlichte Meinung gelegt. Sie begründet das wie folgt: „Wenn man sich ein Bild von den Einstellungen eines Landes gegenüber der deutschen Vereinigung machen will, sollte man sich nicht gerade auf Verlautbarungen und Handlungen der offiziellen Politik verlassen, denn Regierungen sagen und tun öffentlich nicht unbedingt das, was sie denken oder befürchten, sondern das was politisch opportun ist. […] Gefühle und Gedanken wie Ängste und Bedenken gegenüber einem anderen Land bzw. Volk kommen dagegen schon eher in der öffentlichen und in der veröffentlichten Meinung einer Gesellschaft zu Ausdruck.“ (Band 1, S. 3f.)

In einigen Fällen – wie z.B. der Sowjetunion – konnte die Presse zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung zwar nicht als Gradmesser des gesellschaftlichen Gedächtnisses und der kollektiven Erinnerung angesehen werden. Angesichts der Alternativen hat sich Lehmann dann für das Verfahren entschieden, Meinungsäußerungen der Politik denjenigen von Medien und der Bevölkerung (soweit greifbar) gegenüberzustellen. (Vgl. Band 3, S. 9f.)

Im ersten Band, der die USA, Großbritannien und Frankreich analysiert, wird hervorgehoben, dass die westliche Führungsmacht die Vereinigung zwar unterstützte, aber nur unter präzisen Bedingungen (NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands, EU-Mitgliedschaft, Abwicklung in Kooperation mit den Alliierten, Anerkennung der polnischen Westgrenze sowie ein friedlicher und nicht überstürzter Verlauf des Vereinigungsprozesses). Die journalistische Begleitung des Vereinigungsprozesses in der öffentlichen Meinung fiel häufig sehr kritisch aus. Insbesondere die Furcht vor einem antidemokratischen Rückfall des vereinigten Deutschland beschäftigte die Presse.

Großbritannien und Frankreich schlossen sich den USA nur zögernd und nur unter den genannten Bedingungen an, obwohl sie sich, in den Jahrzehnten vor dem Umbruch 1989, in verschiedenen Verträgen zu einer Unterstützung der friedlichen Vereinigung verpflichtet hatten. In Großbritannien löste der deutsche Vereinigungsprozess eine tiefe Erschütterung des Selbstverständnisses aus; man fürchtete um die eigene weltpolitische Rolle. Entsprechend kritisch reagierte die Zeitungswelt. In Frankreich löste die Entwicklung in beiden deutschen Staaten gar eine nationale Krise aus. Man stemmte sich besonders lange, wenn auch erfolglos, gegen die Vereinigung. Die französische Presse reagierte mit unvergleichbar großem Aufwand. Nirgendwo in Europa wurden mehr Bedenken und Ängste artikuliert.

Der deutsche Vereinigungsprozess löste nicht nur in Großbritannien und Frankreich, sondern überall in Westeuropa zunächst Erschrecken und Verwirrung aus. Schließlich hatte die Teilung Deutschlands und des Kontinents in Europa lange Zeit einen Frieden ermöglicht, der in dieser Qualität vorher unbekannt war. Von EG- und NATO-Staaten wurde eine Zustimmung erst auf der Helsinki-Konferenz im November 1990, nach der Vereinigung, eingeholt. Staaten, die sich am Prozess der außenpolitischen Regelung der deutschen Einheit selbst beteiligen wollten, wie z.B. die Niederlande und Italien, wies die Bundesregierung zurück. Die meisten Einwände und Befürchtungen wurden in diesen Gesellschaften im Zusammenhang des Herbsts 1989, sozusagen im Moment des ersten Schocks und später im Umkreis der Ottawa-Konferenz im Februar 1990, als der „2+4“ Lösungsmechanismus verkündet und damit eine Beteiligung von anderen Ländern ausgeschlossen wurde, artikuliert.

Die Bürger Israels und Überlebende des Holocaust aus anderen Ländern, deren Reaktionen ebenfalls im zweiten Band beschrieben werden, wurden von den deutschen Staaten im Einigungsprozess überhaupt nicht befragt. Auch der damalige israelische Ministerpräsident Izchak Schamir hatte sich vehement gegen eine deutsche Vereinigung gewandt und vor deren Folgen gewarnt. Solche Ängste und Befürchtungen wehrte die Bundesrepublik besonders heftig ab. Helmut Kohl vergaß in seiner Zurückweisung nicht, darauf hinzuweisen, dass Israel sich lange deutscher Unterstützung erfreue, und sich dies auch in Zukunft nicht ändern solle. So war ein erpresserischer Unterton nicht überhörbar.

Im dritten Band, der die Sowjetunion zum Gegenstand hat, wird herausgestellt, dass dem Land, das sich immer gegen eine Vereinigung Deutschlands unter westlichen Vorzeichen gewehrt hatte, während des Vereinigungsprozesses selbst - durch den immer schneller voranschreitenden eigenen Zerfall - die Machtmittel für die bisherige Obstruktionspolitik aus den Händen glitten. Im Austausch gegen Geld und Kooperations- sowie Freundschaftsverträge gab man jedoch schließlich nach. In den zugänglichen Meinungsumfragen zeichnete sich eine überraschend hohe Zustimmung zur deutschen Vereinigung ab.

Im vierten und letzten Band werden schließlich Polen und die Tschechoslowakei abgehandelt. In Polen - wo bereits im Sommer 1989 der Übergang zu demokratischen Verhältnissen eingeleitet worden war - fürchtete man, hervorgerufen durch Kohls langes Zögern, erheblich um die Anerkennung der eigenen Westgrenze. Entsprechend kritisch fiel die mediale Rezeption des deutschen Vereinigungsprozesses aus. Polen wurde deshalb auch zu dem Teil der Beratungen des „2+4“-Prozesses hinzugezogen, bei dem über die polnische Westgrenze verhandelt wurde.

In der Tschechoslowakei waren die medialen Reaktionen vor allem davon bestimmt, dass die „samtene Revolution“ sich erst mit dem 17. Dezember 1989 durchsetzte. Bis dahin war die veröffentlichte Meinung noch vom sozialistischen Regime bestimmt. Nach dem Sieg von Vaclav Havel und seinen Partnern entwickelte sich die Tschechoslowakei einschließlich ihrer Presse zu einem Vorkämpfer der Einigung Deutschlands. Nur so könnte man schließlich selbst Teil eines freien Europas werden. Als Havel jedoch eine Entschuldigung für die Vertreibungen am Ende des Krieges formulierte, erntete er heftigen Widerspruch.

Sehr schade ist, dass die Autorin den einzelnen Länderstudien keine gerafften Überblicksdarstellungen der ganz verschiedenen Erfahrungen der unterschiedlichen Gesellschaften mit dem deutschen Nationalsozialismus und den zwei Weltkriegen beigefügt hat. Die Analyse verbleibt deshalb vor allem auf der Ebene der Machtverschiebungen in Europa während des deutschen Einigungsprozesses. Die Präsenz dieser Erfahrungen der nationalen Gesellschaften, die erledigten und die unerledigten Ansprüche an Reparationen und vieles mehr, stehen deshalb nicht im Mittelpunkt der Darstellung.

Die eigentliche Stärke der Arbeit besteht darin, viele Details des deutschen Vereinigungsprozesses dem Vergessen zu entreißen. Erwähnt sei hier zum Beispiel die Initiative des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland vom August 1990, der in einer Präambel des deutsch-deutschen Einigungsvertrages einen Passus eingefügt wissen wollte, in dem an den Völkermord an den europäischen Juden erinnert werden sollte. Die Vereinigung sollte, so Galinski, „im Bewusstsein der Kontinuität deutscher Geschichte und besonders eingedenk der zwischen 1933 bis 1945 […] begangenen Gewalttaten mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung gegenüber allen Opfern und der Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet bleibt“ (zitiert in Band 2, S. 409), vollzogen werden. Ein in der Tat zentrales Versäumnis des Einigungsprozesses.

Diese wohl ungewöhnlichste Dokumentation des deutschen Vereinigungsprozesses gehört vor allem in die Hände von Schülern, Studenten und Lehrenden der Geisteswissenschaften und deshalb auf jeden Fall in die Bibliotheken von Universitäten und Schulen. Die Autorin holt mit der Dokumentation nach, was in der alten Bundesrepublik und der DDR während des Einigungsprozesses 1989/90 nicht geschehen ist. Da ein Friedensvertrag mit Gegnern und Opfern des Nationalsozialismus ausblieb, hat eine Konfrontation der deutschen Bevölkerung mit den Ängsten, Befürchtungen und Erwartungen aus Ländern wie Israel und Polen 1989/90 so gut wie nicht stattgefunden. Man hätte - so die Konstruktionsidee der Politologin Ines Lehmann - diese Ängste und Befürchtungen auch als Leitplanken mit auf den Weg in die deutsche Einheit nehmen können.

Anmerkung:
1 Knappe Auszüge aus den Bänden sind unter <www.ines-lehmann-deutsche-vereinigung-von-aussen-gesehen.de> einsehbar.

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