Cover
Titel
Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien


Herausgeber
Becker, Frank
Reihe
Campus Historische Studien 37
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die vor allem von Niklas Luhmann entwickelte soziologische Systemtheorie ist eher ein unwahrscheinlicher Kandidat dafür, dem Historiker sozial- und kulturtheoretische Anregungen zu vermitteln. Zu abstrakt sind viele Gedankengänge ganz bewusst angelegt, zu verstiegen mutet die Theoriearchitektur zuweilen an, zu groß ist der Bruch mit dem soziologischen Alltagsverstand gerade der Historiker, die Soziales immer noch in Kategorien kausaler Verursachung und im Horizont des handelnden Subjekts deuten wollen. Die im Vergleich mit anderen Humanwissenschaften bislang extrem geringe Resonanz der Systemtheorie unter den Historikern beginnt sich jedoch zu ändern, wie viele begriffliche Anleihen und einige mehr systematisch angelegte Bezugnahmen in neueren Studien zeigen. Insbesondere in der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte, deren theoretisches Reflexionsniveau deutlich über dem etwa der Zeitgeschichtsforschung angesiedelt ist, hat man Luhmann als eine Alternative zu anderen Theorien bereits vor über einer Dekade substanziell rezipiert. Woran es hingegen immer noch weitgehend mangelt, sind konkrete historische Fallstudien, die Theorieelemente praktisch erproben und die Systemtheorie dabei wie einen „Steinbruch“ (S. 8) benutzen.

Diesem Manko will der von Frank Becker herausgegebene Sammelband abhelfen, der neben einem theoretischen Beitrag von Frank Buskotte über die Kategorien Zeit und Gedächtnis neun Aufsätze enthält, in denen die Aussagekraft der Systemtheorie für historische Analysen erprobt wird. Wie der Herausgeber einleitend betont, kommen dafür nicht zuletzt jene Theorieelemente in Betracht, in denen Aussagen über historische Entwicklungen getroffen werden. Dies sind zum einen die Arbeiten über den Zusammenhang von ‚Gesellschaftsstruktur und Semantik’ vor allem in der Frühen Neuzeit, zum anderen die Theorie der funktionalen Differenzierung, welche den Übergang von der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Form der hierarchischen Differenzierung zu funktional bestimmten gesellschaftlichen Subsystemen beschreibt, die Sinn im Rahmen einer Leitdifferenz bzw. Codierung prozessieren. Bei Letzterem handelt es sich, wie der Herausgeber zu Recht betont, um „eine neue Theorie der Moderne“ (S. 9), die in den Debatten um die Krise und Überwindung der klassischen Modernisierungstheorie stärker als bisher berücksichtigt werden sollte.

Die Beiträge des Bandes lassen sich grob in zwei Abteilungen gliedern. Die erste greift vor allem auf die Kategorien Evolution und Interaktion zurück, um vormoderne Gesellschaftstypen und den Übergang zur Moderne zu beschreiben. In einem substanziellen Beitrag behandelt Rainer Walz die Theorie sozialer Evolution und damit jenes Element der Systemtheorie, das den handlungstheoretischen Prämissen der Historiker am meisten widersprechen muss. Dabei arbeitet er zunächst die Differenz zu Darwin, Spencer und anderen biologischen Theoretikern der Evolution im 19. und deren soziologischen Theoretikern im 20. Jahrhundert heraus. Diese besteht zum einen darin, dass Evolution bei Luhmann als ein emergenter Prozess konzipiert ist, in der Ordnungen höherer Komplexität sich nicht aus einem Telos der Entwicklung oder den Eigenschaften früherer Niveaus ergeben, sondern auf kontingenten Umständen und der Ausnutzung von evolutionären ‚pre-adaptive advances’, also ungetesteten Neuerungen, basieren. Zum anderen werden im Sinne der soziologischen Evolutionstheorie nicht Menschen oder Populationen selektiert, sondern Kommunikationen, als Folge der Entscheidung, Kommunikation als eine soziale Konfiguration sui generis zu verstehen und von Körpern und Bewusstseinsprozessen zu trennen. Franz Josef Arlinghaus behandelt das Problem des Rollenwechsels im Spätmittelalter am Beispiel der Differenz von Firma und Familie bei italienischen Kaufleuten und am Beispiel von Kölner Patriziern, die zeitweise zugleich als Richter fungierten. Er analysiert und deutet die bei diesen Rollenwechseln typischerweise auftretenden Rituale als einen Versuch, die Einheit der Person trotz differierenden kommunikativer Kontexte weiterhin begründen zu können. Diese Deutung geschieht zugleich in Auseinandersetzung mit den bei Historikern eingeführten Ritualtheorien von Victor Turner und Arnold van Gennep.

Am Beispiel des Reichstags im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation erörtert Michael Sikora die Frage nach der Herausbildung des Politischen als eines durch eigene Rationalitätskritierien und Ordnungsvorstellungen markierten Kommunikationsraumes. Er kann dabei auf produktive Weise die seit Gerhard Oestreich in der Forschung diskutierte These relativieren, nach der die Modernität des Reichstages in seiner quasi-parlamentarischen Arbeitsweise bestanden habe. Diese Deutung weist Sikora als normativ aufgeladen zurück. Er fokussiert stattdessen auf die Ambivalenzen in der Arbeitsweise des Reichstages. Auf der einen Seite bezog er seine Legitimität und Funktion aus der Repräsentation der ständischen Differenzierung, wie in den ständigen Konflikten um Rangfragen innerhalb des Zermoniells deutlich wurde. Auf der anderen Seite entwickelte sich in den Ausschüssen des Reichstages eine ergebnisoffene Form des Streites um Sachfragen, die ihre Legitimität letztlich aus dem Prozess des Verfahrens selbst gewann und damit der Autonomie des Politischen vorgriff. Ein brillantes Beispiel dafür, wie systemtheoretische Argumentationen gerade in der Auseinandersetzung mit anderen soziologisch-historischen Theoremen Profil gewinnen, ist auch der Beitrag von Rudolf Schlögl über den frühneuzeitlichen Hof als „Kommunikationsraum“. Gegen die an Norbert Elias anknüpfenden Arbeiten von Jürgen v. Kruedener und Hubert Ehalt, die den Hof als absolutistisches Herrschaftsintrument zur Domestizierung des Adels gedeutet hatten, setzt Schlögl die These, beim Hof handele es sich um einen „organisationsdurchwirkten und von Funktionsbeziehungen durchwirkten Interaktionsraum“ (S. 195). Neben der Darstellung von Rang in den interaktionszentrierten Konfigurationen von Raum und Zeit zeigt sich auch im Hof, wie funktionsbestimmte Fragen des politischen Entscheidens in den Ratsgremien vordrangen und dabei zugleich die Interaktion, also die Kommunikation unter körperlich Anwesenden, zunehmend durch die Schriftform ersetzt wurde.

Die anderen Beiträge des Bandes erreichen bei weitem nicht dieses Niveau. Das liegt nicht daran, dass es ihnen per se an Anregungspotential mangelt. So bietet Ewald Frie eine anregende und unterhaltsame Dekonstruktion der Narrative, mit denen die preußischen Reformen auf die heroischen Taten der Reformer und überzogene Annahmen über die Rationalität des Reformprozesses fokussiert wurden. Anhand der Literatur der deutschen Romantik zeichnet Elke Reinhardt-Becker die Codierung des Systems der Intimbeziehungen nach und verfolgt den Wandel seiner Semantik bis in die Neue Sachlichkeit. Frank Becker interpretiert die Universitätsreform von Wilhelm v. Humboldt als Schrittmacher der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems und seines wahr/falsch-Codes, berücksichtigt dabei aber zugleich die Spannung, die durch die Koppelung der Wissenschaft mit dem Erziehungssystem und die dadurch eingelassene Orientierung am Ideal der ganzheitlichen Menschenbildung langfristige Folgewirkungen für die universitäre Praxis gehabt hat. Thomas Großbölting möchte das Theorem über die Beziehungen von ‚Gesellschaftsstruktur und Semantik’ für eine neue Ideen- und Kulturgeschichte der industriellen Revolution nutzen, welche die „Verdichtung von Kommunikation“ als ein neuartiges, „noch nicht“ ausgeschöpftes Thema entdeckt (S. 309). Dabei handelt es sich jedoch um ein Thema, dem unter anderen theoretischen Voraussetzungen bereits Klaus Tenfelde vor beinahe 30 Jahren in einem ertragreichen Beitrag nachgegangen ist, der die Verdichtung horizontaler Kommunikationsstrukturen in der Industrialisierung des Ruhrgebietes analysierte.1 Gänzlich abwegig scheinen schließlich die Überlegungen von Peter Hoeres zur Ausdifferenzierung eines eigenen „Militärsystems“ im Kaiserreich. Sie überzeugen nur unter der dogmatischen Prämisse, ein Problem „politisch lösen“ heiße in der Moderne „eben, es auf dem Weg von Verhandlungen“ und nicht mit militärischer Gewalt zu bearbeiten (S. 332).

Das generelle Manko dieser Beiträge liegt darin, dass sie Systemtheorie tendenziell als Selbstzweck betreiben und keine Mühe darauf verwenden, deren Unterschiede und mögliche Vorzüge im Vergleich mit anderen Theorien funktionaler Differenzierung (Parsons, Bourdieu) und historischer Semantik (Koselleck) herauszuarbeiten. Praktische Fallstudien sind aber nur nützlich, wenn sie genau dies unternehmen und damit ein zusätzliches Deutungspotential nachweisen. Im Übrigen müsste man gerade angesichts der Konkurrenz kulturwissenschaftlicher Theorieangebote noch sehr viel genauer den Ort der Systemtheorie in diesem Feld profilieren und ihre Nähe zu dekonstruktivistischen Ansätzen betonen. Und erst in dieser Perspektive scheint es mir sinnvoll, in der Geschichtswissenschaft systemtheoretisch zu arbeiten.

Anmerkung:
1 Tenfelde, Klaus, Arbeiterschaft, Arbeitsmarkt und Kommunikationsstrukturen im Ruhrgebiet in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: AfS 16 (1976), S. 1-59.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension