J.-B. Yon: Les notables de Palmyre

Cover
Titel
Les notables de Palmyre.


Autor(en)
Yon, Jean-Baptiste
Reihe
Bibliothèque archéologique et historique 163
Anzahl Seiten
VI, 378, 11 (arab.) S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Hartmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Kultur und Geschichte der syrischen Oasenstadt Palmyra sind dank einer reichen epigrafischen und archäologischen Überlieferung Gegenstand zahlreicher Forschungen. Dabei standen bislang vor allem die Bauten Palmyras, der Karawanenhandel, die Religion oder auch die Geschichte des palmyrenischen Reiches im 3. Jahrhundert im Mittelpunkt des Interesses.1 Um so erstaunlicher ist es, dass die Gesellschaft Palmyras, die großen Familien und ihre führenden Repräsentanten in der Kaiserzeit bislang nur am Rande betrachtet wurden. Die palmyrenischen, griechischen und seltenen lateinischen Inschriften aus den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten, die in der Oasenstadt und der Palmyrene gefunden wurden, bieten eine Fülle von Informationen zur den einflußreichen Männern der Stadt: Fernhändler bedanken sich bei Karawanenführern, große Palmyrener geben Zeugnis über ihre Stiftungen, Rat und Stadt Palmyras oder einzelne Gruppen ehren verdiente Mitbürger, Stifter von Grabbauten nennen in langen Genealogien die Namen ihrer Vorfahren. Jean-Baptiste Yon hat nun mit seiner Arbeit die Inschriften Palmyras unter diesem Aspekt in den Blick genommen: Was erfahren wir über die Oberschicht, welche Stellung hatten die führenden Männer der Stadt in der palmyrenischen Gesellschaft? Yon beleuchtet dazu die unterschiedlichsten Aspekte der Sozialgeschichte Palmyras, die Zeugnisse zu den großen Familien, den Stämmen und den politischen und religiösen Ämtern, die Selbstdarstellung der Oberschicht, ihre Rolle im Karawanenhandel, ihre Stellung im Römischen Reich und ihre Grabbauten. Yon wertet aber auch die epigrafischen Quellen zu den Mittel- und Unterschichten sowie zu den Frauen Palmyras aus. Die Oberschicht wird so in das gesellschaftliche Gefüge eingeordnet; historische Veränderungen vom 1. bis zum 3. Jahrhundert werden, soweit sie in den Inschriften aufscheinen, hervorgehoben. Dabei fragt Yon immer auch nach der ethnischen Identität und dem Selbstverständnis der Palmyrener. Zugleich werden durch Vergleiche mit anderen Städten im römischen Orient oder mit der mesopotamischen Wüstenstadt Hatra die Besonderheiten der palmyrenischen Gesellschaft aufgezeigt.

Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist jeweils eine detaillierte Analyse des epigrafischen Materials. Yon versteht seine Arbeit, eine von Maurice Sartre betreute Dissertation an der Universität Tours von 1999, als eine Vorstudie zur Edition der griechischen und lateinischen Inschriften aus Palmyra, er nutzt jedoch die gesamte Überlieferung der palmyrenischen, griechischen, lateinischen und safaitischen Texte und bietet dabei eine Vielzahl von interessanten Betrachtungen zu einzelnen Inschriften, die teilweise einer neuen Überprüfung am Original unterzogen wurden. Ergänzend zieht Yon auch archäologische Quellen, so etwa Baubefunde, Grabreliefs oder Sarkophage, heran; auch hier erweist sich Yon als profunder Kenner der Materie. Er wertet zudem die teilweise recht umfangreiche Forschung zu Einzelfragen aus und gelangt dabei durchgängig zu ausgewogenen Urteilen, hält sich jedoch vielfach mit einer klaren Positionierung in umstrittenen Fragen zurück, insbesondere wenn die Angaben der Inschriften wenig aussagekräftig oder widersprüchlich sind. Auf Grund des fehlenden Quellenbefundes kann Yon zudem an vielen Stellen nur unsere Unkenntnis konstatieren. Überaus nützlich ist der umfangreiche Anhang (S. 239-280) mit zahlreichen sorgfältig zusammengestellten Listen zum Inschriftenmaterial. Sie informieren etwa über die Palmyrener mit öffentlichen Funktionen, die Beschlüsse von Rat und Volk, die Stämme Palmyras, die griechischen, lateinischen und iranischen Eigennamen in Palmyra, über die Karawaneninschriften, die römischen Soldaten und Amtsträger in den Inschriften, die Palmyrener im Römischen Reich und die Freigelassenen; nützlich sind auch die Stemmata der großen Familien (S. 277-280) und der detaillierte "Index" (S. 281-334) mit palmyrenischen Eigennamen und Stämmen, sonstigen Eigennamen und Quellen sowie dem Literaturverzeichnis.2 Genaue Karten sowie 78 Abbildungen, Pläne und Rekonstruktionen besprochener Monumente veranschaulichen den Text in hervorragender Weise.

In seiner Einleitung (S. 1-7) streicht Yon heraus, dass bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts die Palmyrener nur als Kollektiv in den literarischen Quellen erscheinen, Aufschluss über die Gesellschaft der Oasenstadt können daher nur die Inschriften geben. Den Untersuchungsgegenstand, die notables von Palmyra, möchte er dabei möglichst weit fassen, da die Inschriftentexte keine klare Abgrenzung der Dekurionenschicht zulassen: In den Blick genommen werden alle führenden Palmyrener, die durch ökonomische Macht, politische Stellung oder besondere Repräsentation und Ehrungen herausragen. Das erste Kapitel ("L'identité civique de Palmyre", S. 9-56) stellt die offiziellen Inschriften der Polis Palmyra und die Zeugnisse zu den politischen Karrieren der Oberschicht in den Mittelpunkt. Die staatlichen Strukturen Palmyras boten seit der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. das Bild einer normalen griechischen Stadt im römischen Osten. Yon untersucht detailliert die Form und Sprache der Dekrete der Polis und stellt die einzelnen Magistrate vor. Ehreninschriften Palmyras fallen durch ihre Kürze auf; insbesondere wird selten die Funktion der Geehrten angegeben, da sie offenbar vielfach ohne offizielles Amt als Wohltäter der Polis auftraten. Die Inschriften heben wie in anderen griechischen Poleis stereotyp Frömmigkeit, Vaterlands- und Ehrliebe des Mitbürgers hervor; im Palmyrenischen bemühte man sich um eine möglichst äquivalente Wiedergabe der griechischen Titel. Der Kanon der Bürgertugenden gleiche zwar denen anderer griechischer Städte des Orients, dennoch sei in Palmyra letztlich die hellenistische Kultur nur "un vernis superficiel" (S. 23) geblieben, was sich auch im Fehlen von Agonen in der Stadt zeige.

Ausführlich wird die Zweisprachigkeit der Ehreninschriften analysiert; sie spiegele jedoch keine antirömischen Tendenzen, sondern stelle ein Grundbestandteil der Identität der Palmyrener dar. Mit dem Beginn der römischen Herrschaft in Palmyra, den Yon in das Jahr 19 n.Chr. datiert, wurde die Verwendung des Griechischen zur Loyalitätsbekundung der Oberschicht Palmyras gegenüber Rom. Ausdruck der Besonderheit der Stadt blieb aber, dass sie - im Gegensatz etwa zu Lepcis Magna - bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts an der Zweisprachigkeit festhielt. Für die offiziellen Inschriften bildete sich eine feste Äquivalenz der griechischen und palmyrenischen Begriffe heraus, die Yon detailliert erläutert. Lateinische Begriffe wie "Senator" wurden dabei in ihrer griechischen Form ins Palmyrenische transliteriert; gab es bereits einen entsprechenden palmyrenischen Begriff, nutzte man diesen als Übersetzung des griechischen.3 Die Besonderheiten der konstanten Zweisprachigkeit und der eigenständigen Kultur begründet Yon mit der isolierten geografischen Lage Palmyras und den intensiven Kontakten zu den Parthern jenseits des Euphrats.

Der Rat Palmyras habe sich um 50 n.Chr. herausgebildet und sei auch unter den palmyrenischen Dynasten im 3. Jahrhundert erhalten geblieben.4 Da die Ehreninschriften von Rat und Volk nur selten mehrere Ämter nennen und viele Palmyrener als verdienstvolle Privatleute geehrt wurden, fehlen bis auf wenige Ausnahmen ausführliche Angaben zu den Laufbahnen der führenden Bürger. Dafür wird in den Inschriften sehr viel Wert auf lange Genealogien gelegt, die die Bedeutung der Familie betonen. Beziehungen zwischen den großen Familien lassen sich jedoch, da zumeist die Mutter nicht genannt wird, nur selten aufzeigen. Neben die städtischen Magistrate treten die religiösen Funktionsträger, vor allem der Symposiarch des Bel-Heiligtums. Yon arbeitet heraus, dass die Priester so gut wie nie in ihrer Laufbahn auch eine städtische Magistratur ausübten; religiöse und städtische Ämter waren also offenbar getrennt. Einzig die Ehreninschrift des Vorodes, des Vertrauten des Odaenathus in den 260er-Jahren, stellt einen Palmyrener vor, der mehrere Magistrate ausübte, die Symposiarchie innehatte, als Karawanenführer hervortrat und zudem als Ritter in die Reichsaristokratie integriert war. Weniger Aufmerksamkeit widmet Yon den Aufgabengebieten der einzelnen Beamten, den Strukturen der Polis und der späteren colonia Palmyra sowie dem Zusammenwirken der Institutionen.

Im zweiten Kapitel wendet sich Yon der ethnischen Identität der Palmyrener zu und untersucht dabei insbesondere die Stammesstrukturen und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der Oasenstadt ("L'identité ethnique de Palmyre", S. 57-97). Die Inschriften Palmyras belegen ein Reihe von Stämmen (bene), 16 nach Yons Tabelle im Anhang (S. 251f.); die langen Genealogien und die häufige Nennung der Stammeszugehörigkeit zeugen von der großen Bedeutung tribaler Strukturen in der Oasenstadt. Mit der Umstrukturierung der "Gemeinschaft der Palmyrener" zur Polis in der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. wurden offenbar die vier Stadtstämme gebildet, die eigene Heiligtümer in Palmyra besaßen; es lässt sich jedoch im Einzelnen schwer bestimmen, ob es sich bei einem "Stamm" um einen Familienclan oder um einen der vier Stadtstämme handelt. Am Beispiel der bene Mazin und Iedibel zeigt Yon, dass einige Stämme Teile größerer Verbände, also wohl der Stadtstämme, waren. Aus den vorhandenen bene wurden offenbar unter römischem Einfluss vier der wichtigsten als Stadtstämme herausgehoben; in einer genauen Analyse erweist Yon die bene Komare, Mazin, Mathabol und Mita als die wahrscheinlichsten Kandidaten für diese vier Verbände. Die Frage, ob einer dieser Stämme mit der nur einmal bezeugten phyle Klaudias (CIS II 4122 = Inv. 7,6a von 79/80) identisch ist, möchte Yon nicht entscheiden. Der Autor arbeitet dann bestimmte lokal begrenzte Einflusszonen der Stämme um ihre Heiligtümer heraus. Neben dem zentralen Bel-Tempel und den Tempeln der vier Stadtstämme gab es noch andere Heiligtümer wie das des Nabu oder des Shamash, um die sich einzelne Familienstämme besonders verdient machten.

Zur Bestimmung der ethnischen Zugehörigkeit der Palmyrener muss vor allem auf die aramäischen und arabischen Eigennamen zurückgegriffen werden, doch zeigen die Genealogien vor allem eine Vermischung dieser beiden ethnischen Hauptgruppen, eine Vermischung der Kulturen. Die Bürger der Oase bezeichneten sich wohl nur als "Palmyrener", unterschieden also nicht zwischen verschiedenen Ethnien. Sehr vorsichtig äußerst sich Yon an dieser Stelle zum Verhältnis zwischen Stadtbewohnern und Nomaden (s.u.). Zum einen wisse man kaum etwas über die Beziehungen und mögliche Spannungen zwischen Nomaden und Palmyrenern, zum anderen sei die ethnische Zusammensetzung der nomadischen Umwohner der Oase ungewiss, da sie sich in den inschriftlichen Zeugnissen kaum zu fassen sind. Das Bild der Forschung von arabischen Nomaden, die von den Palmyrenern bekriegt werden, betrachtet Yon mit Skepsis. Die schlechte Quellenlage ist sicher nicht nur in diesem Punkt zu beklagen, dennoch gestatten m.E. die Zeugnisse einige Schlüsse, die über das vorsichtige Bild Yons hinausgehen: So lässt sich eine Zunahme der Spannungen mit den räuberischen Nomaden seit severischer Zeit sowohl an den Grenzen der Provinz Arabia als auch in der Palmyrene konstatieren. Mit der Einwanderung arabischer Stämme und der Stammeskonföderation der Tanukh aus Innerarabien in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, die sich durch epigrafische Zeugnisse und die mittelalterlichen Berichte arabischer Historiker rekonstruieren lässt, nahmen die Konflikte weiter zu und zwangen schließlich die palmyrenischen Dynasten in der Mitte des Jahrhunderts zu militärischem Vorgehen. Wo wir räuberische Nomaden der Steppe fassen können, scheint es sich aber auch vor dem 3. Jahrhundert um Araber gehandelt zu haben, so etwa beim Räuber Abdallat.5

Im dritten Kapitel untersucht Yon die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche der Oberschicht ("Les activités des notables", S. 99-130), im Zentrum steht dabei die Rolle der Elite bei der Organisation des Fernhandels. Sie lässt sich als eine "aristocratie marchande" charakterisieren (S. 99); Yon stellt daher detailliert die Aktivitäten der Notabeln im Rahmen des Karawanenhandels vor: Sie waren als Patron von Karawanen und als Synhodiarch, Verantwortlicher für die Vorbereitung und Durchführung einer Karawane, tätig und übten so auch politischen Einfluss in Palmyra aus, selbst wenn sie in der Stadt kein offizielles Amt innehatten. Einige Familien organisierten den Karawanenhandel über Generationen hinweg.6 Die besondere Rolle der Elite Palmyras an Roms Ostgrenze veranschaulicht Yon dann durch die Untersuchung der verschiedenen Zeugnisse der palmyrenischen Beziehungen zum Partherreich: Führende Palmyrener betrieben im parthischen Emporium Vologesias und in der Mesene Handelskontore, waren hier aber auch als Beamte parthischer Vasallen oder als Gesandte Roms tätig. Die in einer Inschrift von 145/46 erwähnte rätselhafte dynasteia des Palmyreners Soados in Vologesias (PAT 1062) interpretiert Yon als "une sorte d'ethnarque" (S. 106); Soados war als Clanchef für den Schutz der Karawanen in der Steppe zuständig.7 Der Raum zwischen Palmyra und dem südlichen Mesopotamien wurde durch die palmyrenische Miliz geschützt. Yon untersucht insbesondere die Quellen zu den palmyrenischen Strategen, etwa in Dura-Europus oder auf Ana, die er als städtische Magistrate begreift (S. 114). Angehörige der Oberschicht wie Soados hätten aber nicht in erster Linie mit militärischen Mitteln für den Schutz der Karawanen gesorgt, zumal solche Aktivitäten und Kämpfe selten in den Inschriften bezeugt seien. Als Clanchefs mit weitreichenden Beziehungen zu den Nomaden der Steppe hätten sie vielmehr durch Verhandlungen und Einfluss sicheres Geleit garantiert. Die Stammesführer hätten zwar in Palmyra gewohnt, seien aber noch durch enge Kontakte mit den Nomaden ihres Stammes verbundenen gewesen, die städtische Elite habe also die Nomaden kontrolliert. Diese überzeugende Rekonstruktion bricht den starren Gegensatz von Stadt und Steppe auf und erklärt die lange Zeit in relativ friedlichen Bahnen verlaufenden Beziehungen zwischen Palmyrenern und Nomaden in der hohen Kaiserzeit.

Yon wendet sich danach der Integration der Notabeln in das Römische Reich zu, betrachtet aber vor allem die Zeugnisse für Palmyrener außerhalb der Oasenstadt, also für Soldaten im Dienste Roms in Dakien oder Numidien oder für Palmyrener, die wohl als Händler an verschiedenen Orten des Reiches tätig waren. Es habe sich hierbei selten um Angehörige der palmyrenischen Oberschicht gehandelt. So bezeugen die Inschriften meist nur einfache Soldaten aus Palmyra. Auswanderung und Militärdienst, so betont Yon, besaßen vor allem für die 'Mittelklasse' Palmyras Anziehungskraft; die Notabeln fanden in der prosperierenden Oase ausreichende Entfaltungsmöglichkeiten und haben sich dem Reichsdienst weitgehend entzogen. Die Elite habe sich jedoch Rom gegenüber immer loyal verhalten, was sich beispielsweise an Soados zeigen lasse, der auf parthischem Boden in Vologesias einen Tempel der Augusti errichtete. Der Integration von Angehörigen der palmyrenischen Oberschicht in die Reichsaristokratie, also in den Ritterstand und den Senat, die erst relativ spät seit der Mitte des 3. Jahrhunderts erfolgte, wendet Yon dagegen wenig Aufmerksamkeit zu, dabei wäre es doch gerade eine interessante Frage gewesen, warum sich die indifferente Haltung der palmyrenischen Elite gegenüber dem Reichsdienst in dieser Zeit stark wandelte. Der zweite Senator aus Palmyra und Symposiarch Haddudan wird so nur ganz am Rande erwähnt (S. 119, Anm. 166, S. 144, 158, Anm. 181); im Anhang findet sich keine Zusammenstellung der Ritter und Senatoren aus Palmyra.8

Im vierten Kapitel ("L'influence sociale des notables", S. 131-164) analysiert Yon die Beziehungen zwischen der Oberschicht und der übrigen Bevölkerung Palmyras. Er beginnt mit dem äußeren Erscheinungsbild, der Kleidung und der Kultur der Notabeln, die aramäische, iranische und griechisch-römische Elemente aufwies. Letztlich wisse man jedoch wenig über ihre Kultur: Zweifellos sprach die Elite Griechisch, doch bleibt beispielsweise unbekannt, was im Theater von Palmyra passierte; griechische Intellektuelle aus Palmyra sind nicht bezeugt. Inschriften zur Ehrung eines Patrons stammen vor allem aus der Mitte des 3. Jahrhunderts und markieren für Yon ein Zeichen des römischen Einflusses.9 Der Autor betrachtet in diesem Zusammenhang auch die engen Beziehungen zwischen dem Dynasten Odaenathus und seinem Vertrauten Vorodes.10 Die früheren Ehreninschriften für einen "Freund" drücken für Yon aber ebenfalls ein Klientelverhältnis zwischen Ungleichen aus; Klientelbeziehungen gehörten somit zu den grundlegenden Strukturmerkmalen der palmyrenischen Gesellschaft. Das Phänomen des Euergetismus der Elite ist auch in Palmyra bezeugt, jedoch beschränkte es sich hier interessanterweise vor allem auf die religiöse Sphäre. Städtische Bauten stammten selten von Privatpersonen. Erst im frühen 3. Jahrhundert hätten sich Angehörige der Oberschicht um öffentliche Bauten verdient gemacht. Für die Repräsentation von Notabeln in Palmyra seien weniger die Finanzierung städtischer Bauten als die Errichtung prächtiger Gräber wesentlich gewesen. Wichtige Teile des üblichen griechischen Stadtbildes finden sich in der Oase nicht: so etwa ein Hippodrom, Stadium oder Gymnasium. Da es auch keine Spiele gab, fehlte diese Form des Euergetismus ebenfalls. Hier zeigen sich für Yon die Grenzen der Hellenisierung der palmyrenischen Gesellschaft.

Wenig erfahren wir in den palmyrenischen Inschriften über die gesellschaftliche Stellung von Sklaven, Freigelassenen und Frauen, denen sich Yon im fünften Kapitel zuwendt ("Familles, affranchis et esclaves de notables", S. 165-196). Frauen werden in den Inschriften selten genannt, erscheinen nicht im öffentlichen oder religiösen Leben; die Stellung der Zenobia war mithin eine Ausnahme. Dennoch konnten Frauen als Witwen durchaus ein eigenständiges Leben führen, wie die Inschrift der Thomallachis zeigt, die sich am Bau einer Therme beteiligte und wohl über ihr Vermögen selbst verfügen konnte (S. 168). In der monogamen Gesellschaft Palmyras spielten Frauen in den ehelichen Beziehungen zwischen den großen Familien eine gewisse Rolle, auch wenn die Quellen hier wenig Aussagen zulassen. Während Freigelassene vielfach in den Inschriften aus Palmyra erwähnt werden, lassen sich Sklaven so gut wie gar nicht fassen. Yon konstatiert, dass die Freigelassenen relativ unabhängig von ihren ehemaligen Herren leben konnten. Das letzte Kapitel befasst sich schließlich mit den Grabbauten der Palmyrener ("Des monuments pour l'éternité", S. 197-232), an denen sich die sozialen Unterschiede sehr deutlich zeigen: Zur Repräsentation ihrer Familien und Verherrlichung ihrer Ahnen errichteten die Notabeln Palmyras große Grabtürme, ab der Mitte des 2. Jahrhunderts prächtige Grabtempel, die Mittelschichten bauten dagegen Hypogäen. Die Gründer eines Hypogäums traten später bestimmte Teile auch an ärmere Familien ab, so dass sich in diesen Grabbauten ein Querschnitt durch Mittel- und Unterschicht Palmyras aufzeigen lässt. Die Grabtempel sind stark von westlichen Einflüssen geprägt. Die Entstehung dieser neuen Bauform und die Aufgabe der Grabtürme erklärt Yon mit dem Aufstieg einer neuen Mittelschicht im 2. Jahrhundert im Zuge des Wohlstandes durch den Karawanenhandel, der dieser Schicht die Errichtung prächtiger Gräber ermöglichte. Die Notabeln nutzten daher die exklusive Bauform der Grabtempel, um sich deutlicher von den anderen Schichten abzusetzen. Die großen Familien konkurrierten dabei um eine besondere Stellung ihrer Gräber, um herausgehobene Positionen in der Topografie des Ortes. Die Grabbauten zeigen so sehr anschaulich das Streben der Oberschicht nach Repräsentation und die Konkurrenz der großen Familien untereinander um Ansehen und Einfluss.

In seiner kurzen Zusammenfassung (S. 233-235) streicht Yon noch einmal die vielfältigen westlichen und östlichen Einflusse auf die Kultur Palmyras heraus, die letztlich von einer großen Vielfalt und Komplexität geprägt war. Trotz der Zunahme der griechisch-römischen Einflüsse blieb eine eigenständige "culture locale" Palmyras bis ins 3. Jahrhundert erhalten (S. 233), trotz griechischer Institutionen bewahrte die Stadt ihre Besonderheiten. Die Hellenisierung blieb wohl vor allem ein Phänomen der Oberschicht, die die Geschicke der Stadt bestimmte. Außerdem zeigt Yon verschiedene Kategorien von Notabeln auf, die in unterschiedlichen Bereichen tätig waren: die Karawanenführer, die Magistrate der Stadt und die Priester; erst im Laufe des 2. Jahrhunderts kam es hier zu Überschneidungen. Bei einigen Notabeln wie Elahbel ließe sich nicht einmal genau bestimmen, worauf ihr Einfluss und ihre Position in Palmyra beruhten.

Yons Studie zur Rolle der Oberschicht in der palmyrenischen Gesellschaft veranschaulicht in überzeugender Weise die Besonderheiten der Elite der Oase, die große Bedeutung der Familien- und Stammesstrukturen, die eigenständige Kultur, die Formen des Euergetismus, der Repräsentation und der Konkurrenz zwischen den Familien. Sie zeigt, wie die Elite in einem langsamen Prozess der Hellenisierung griechisch-römischen Vorbildern nachstrebte, ohne ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Yon betrachtet ebenfalls die anderen Schichten der palmyrenischen Gesellschaft, soweit sie uns in der Überlieferung fassbar sind, und entwirft so ein umfassendes Tableau der Sozialbeziehungen in der Oasenstadt. Eingehend und kenntnisreich untersucht Yon das epigrafische Material und zieht daraus ausgewogene Schlüsse. Äußerst ertragreich sind auch seine Betrachtungen zu einzelnen Institutionen oder Baukomplexen Palmyras. Seine übersichtlich gegliederte Arbeit bietet jeweils die Quellennachweise und die Forschungsarbeiten in ihrer ganzen Breite; dem Leser wird dabei durchweg der neueste Forschungsstand vermittelt. Die materialreiche und beindruckende Dokumentation im Anhang ermöglicht einen schnellen und verlässlichen Zugang zum epigrafischen Material. Jean-Baptiste Yons hervorragende Arbeit ist daher für jeden, der sich über die Gesellschaft Palmyras in der Kaiserzeit informieren möchte, ein Standardwerk.

Anmerkungen:
1 Von den neueren Veröffentlichungen seien hier nur genannt: Dirven, Lucinda, The Palmyrenes of Dura-Europos, Leiden 1999; Hartmann, Udo, Das palmyrenische Teilreich, Stuttgart 2001; Kaizer, Ted, The religious life of Palmyra, Stuttgart 2002; vgl. auch Charles-Gaffiot, Jean u.a. (Hgg.), Moi, Zénobie reine de Palmyre, Milano 2001.
2 Die Angaben im Anhang und im Index sind durchweg zuverlässig; aufgefallen sind dem Rezensenten nur einige Kleinigkeiten im Literaturverzeichnis: der Artikel von Bowersock zur Inschrift von Ruwwafa beginnt auf S. 513 (nicht S. 512; im Neuabdruck von 1994 auf S. 203, nicht S. 204); der Artikel von Clermont-Ganneau heißt "Odeinat et Vaballat" (nicht Odainat) und beginnt auf S. 382, nicht S. 384; Ritterlings Legio-Artikel in der RE erschien in zwei Teilbänden 1924 und 1925 (nicht nur 1924); der Beitrag "The Arabs and the desert peoples" von Maurice Sartre wird im Band 12 (nicht 13) der "Cambridge Ancient History" in diesem Jahr veröffentlicht.
3 Nicht immer waren die Entsprechungen zwischen griechischen und palmyrenischen Begriffen allerdings so eindeutig festgelegt, wie dies Yon unterstellt, vgl. dazu Hartmann (wie Anm. 1), S. 149f.
4 Zeugnis für das Weiterbestehen der Verfassung der colonia mit Rat und duumviri ist für Yon (S. 33, 70f.) vor allem die Laufbahninschrift des Vorodes (CIS II 3942 = Inv. 3,7). Die Datierung der Herausgeber ins Jahr 266 ist jedoch arbiträr (S. 39, 41 datiert sie Yon mit Schlumberger sogar nach 267); Rat und Volk ließen die Ehrung wohl im April 264 aufstellen. Unter der Herrschaft des Königs Odaenathus wurde dann 263/64 offenbar die Verfassung Palmyras schrittweise geändert; Rat und Duumvirat sind nun nicht mehr bezeugt. Die Stadt verwaltete jetzt ein Statthalter des Königs, der argapet Vorodes. Die Titel dikaiodotes und argapet sollten dabei nicht als Äquivalent angesehen werden (so Yon, S. 39), sie bezeichnen unterschiedliche Tätigkeitsbereiche; vgl. Hartmann (wie Anm. 1), S. 203ff. (vgl. dazu aber die Überlegungen von Yon, in: Antiquité tardive 10 (2002), S. 409f.). Für die These einer angeblichen parthischen oder persischen Herkunft des Vorodes, die Yon übernimmt (S. 42, 106), fehlt eine Quellengrundlage, vgl. Will, Ernest, À propos de quelques inscriptions palmyréniennes. Le cas de Septimius Vorôd, in: Syria 73 (1996), S. 109-115; Hartmann (wie Anm. 1), S. 208f. Die Vorodes-Inschrift CIS II 3938 = Inv. 3,11 stammt aus dem Jahr 262 (nicht 258, so Yon, S. 42).
5 Vgl. Hartmann (wie Anm. 1), S. 60, 80ff., 332ff. (zu den Wanderungen und der von Yon, S. 87, nur kurz und ohne Quellennachweise angesprochenen arabischen Tradition); Abdallat: SEG 46, 1797.
6 Zum Karawanenhandel vgl. auch Schuol, Monika, Die Charakene, Stuttgart 2000, S. 97ff. (Edition, Übersetzung und Kommentar der palmyrenischen Karawaneninschriften), 379ff. (zum Handel).
7 Zur Lage von Vologesias verweist Yon (S. 104, Anm. 42) nur auf die These von Chaumont, die das Emporium südlich von Babylon verortet. Hier wäre zumindest ein Hinweis auf die Position von André Maricq (Classica et Orientalia. 7. Vologésias, l'emporium de Ctésiphon, in: Syria 36, 1959, S. 264-276) sinnvoll gewesen, der (m.E. überzeugend) den Ort am Tigris gegenüber von Ktesiphon lokalisiert; vgl. auch Schuol (wie Anm. 6), S. 395f.
8 Die Tabelle "Palmyréniens ayant exercé des fonctions publiques" (S. 240ff.) verzeichnet zwar Reichsämter wie die Prokuratur des Vorodes, nicht aber Stand oder Ehrentitel wie vir clarissimus und vir egregius. Die Angehörigen der Familie des Odaenathus, Zabdas, Zabbai und Apsaeus fehlen hier ganz.
9 Der Titel prostates des Apsaeus (Inv. 3,18) sollte wohl eher als Amtsbezeichnung des Stadtoberhaupts, nicht als Äquivalent für patronus interpretiert werden, vgl. Hartmann (wie Anm. 1), S. 211, 395f.
10 Widersprüchlich ist Yons Chronologie der Annahme des Titels "König der Könige" durch Odaenathus und seinen Sohn Herodianus. Er datiert die Inschrift für den König der Könige Herodianus (Inv. 3,3) in die Jahre 260 bis 262 und nimmt eine gleichzeitige Königserhebung des Odaenathus und des Herodianus an (S. 148), erwähnt an späterer Stelle (S. 191) dann aber die Inschrift eines Dieners des Odaenathus, Nebuza, nach der Odaenathus im März 263 noch kein König, sondern nur Konsular war. Die Inschrift Inv. 3,3 ist wohl in das Jahr 263/64, genauer kurz nach die Königserhebung in der zweiten Hälfte des Jahres 263 zu setzen, vgl. Hartmann (wie Anm. 1), S. 178; zu einer teilweise anderen Interpretation der Nebuza-Inschrift vgl. auch Hartmann, Udo; Luther, Andreas, Eine Weihung an den Gott Abgal, in: Welt des Orients 30 (1999), S. 125-128.