D. Kastner: Kinderarbeit im Rheinland

Titel
Kinderarbeit im Rheinland. Entstehung und Wirkung des ersten preußischen Gesetzes gegen die Arbeit von Kindern in Fabriken von 1839


Autor(en)
Kastner, Dieter
Erschienen
Köln 2004: SH-Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
29,80 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ayaß, Fachbereich Sozialwesen, Universität Kassel

Die Entstehung des preußischen Regulativs über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9. März 1839, das als erstes sozialpolitisches Gesetz Deutschlands gilt, ist seit über einhundert Jahren Gegenstand historischer Forschung.1 Mit diesem Regulativ begann der gesetzliche Arbeiterschutz; es verbot regelmäßige Fabrikarbeit für Kinder unter neun Jahren, bis zum 16. Lebensjahr war die Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkt; Nacht- und Sonntagsarbeit waren verboten.

Die einschlägige Überlieferung der preußischen Ministerien zur Entstehung des Regulativs ist seit langem bekannt und zugänglich, viele Quellenstücke sind bereits im Wortlaut publiziert. Was will man da noch erforschen? Dieter Kastner hat sich die Geschichte der Entstehung und Wirkung des Kinderschutzregulativs erneut vorgenommen. Kritisch auf die umfangreiche Forschungsliteratur aufbauend, hat Kastner die entscheidenden Akten der beteiligten preußischen Ministerien erneut gesichtet und dabei manches bislang übersehene Detail gefunden. Der Autor ergänzt die Überlieferung der zentralen Instanzen mit der Auswertung lokaler Aktenbestände und insbesondere – mit großem Ertrag – mit der Überlieferung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz und den Protokollen des rheinischen Provinziallandtags. Noch nie wurde die langwierige, sich über viele Jahre hinziehende Entstehung des Regulativs von 1839 so dicht in allen Einzelheiten und Etappen beschrieben. Der Autor referiert bzw. zitiert die Quellen sehr ausführlich; da füllt schon einmal ein Zitat eine ganze Druckseite (S. 154).

Kastner kann die konkrete Genese jedes einzelnen Paragrafen des Regulativs nachzeichnen. Seine profunden regionalgeschichtlichen Kenntnisse befähigen ihn, viele beteiligte Fabrikbesitzer und jeden Debattenredner des Provinziallandtags zu verorten. Auch liefert er viel Biografisches zu den an dem langen Gesetzgebungsverfahren beteiligten Beamten der verschiedenen Ebenen. Kastner kann den fördernden bzw. bremsenden Einfluss einzelner Beamter weit besser herausarbeiten als die bisherige Forschung. Besonders helles Licht fällt auf den Oberpräsidenten der Rheinprovinz Ernst von Bodelschwingh.

Wichtig ist auch der Nachweis des großen Einflusses der englischen Gesetzgebung des Jahres 1833 auf die Debatten im Vorfeld des Regulativs. Die Auswertung der Verhandlungen des Provinziallandtags brachte das wichtige Detail, dass die Errichtung einer besonderen staatlichen Fabrikinspektion nach englischem Vorbild schon im Jahr 1837 diskutiert wurde.

Überzeugend arbeitet Kastner den engen Zusammenhang mit der in der Rheinprovinz erst im Jahr 1825 einführten Schulpflicht heraus. Detaillierter als bisher wird nachgewiesen, dass bildungspolitische Erwägungen im Mittelpunkt standen, während die Sorgen um „Sitte und Gesundheit“ zunächst nur bei wenigen der Beteiligten zentral waren. In Übereinstimmung mit der Forschung der letzten drei Jahrzehnte sieht auch Kastner keinerlei einschneidenden Einfluss militärpolitischer Erwägungen. Die vielzitierten „verkrüppelten Rekruten“ spielen in der Entstehungsgeschichte des Regulativs eine ziemlich periphere Rolle. Das Buch enthält viel Material zu den Fabrikschulen, die nach Einschätzung des Autors jedoch insgesamt eine Episode blieben.

Für wichtige Forschungsfragen bietet die Studie allerdings keine Neuigkeiten. Wie hat sich die Kinderarbeit quantitativ entwickelt? Spielten beim Rückgang der Kinderfabrikarbeit neben dem Regulativ vielleicht noch andere Faktoren eine Rolle? Wir erfahren zwar viele Einzelzahlen aus verschiedenen Städten, zu einer Gesamteinschätzung kann sich Kastner jedoch nicht durchringen. Letztlich verstärkt Kastner mit seiner detaillierten Gesetzesgenese ausgerechnet den Bereich der Forschung über die Kinderarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der bislang schon am gründlichsten untersucht war.

Weit schwieriger als die Erforschung der Entstehung des Regulativs ist natürlich die Erforschung der Wirkung. Landkreis für Landkreis untersucht Kastner auf Grundlage von Berichten der Orts- und Mittelbehörden die Umsetzung des Regulativs, das keinesfalls unbeachtet blieb, aber insgesamt doch nur mit gehörigem Druck von oben durchgesetzt werden konnte. Es waren Widerstände der Eltern und der Arbeitgeber zu überwinden, auch die Pfarrer spielten vielerorts eine eher unrühmliche Rolle. Besonders schwierig war die Durchsetzung des Regulativs in Aachen, dessen Schulwesen extrem zurückgeblieben war und nur etwa jedes zweite Kind erreichte (S. 214ff.). Wo Verstöße ruchbar wurden, gingen die Behörden auch vor. Jedoch: „Immer mehr stellte sich heraus, dass die Kontrollen und mangelhaften Revisionen der Fabriken der wunde Punkt waren.“ (S. 235) Bald war allen Beteiligten klar, dass das Regulativ verbessert werden musste.

Das „Gesetz, betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 9. März 1839 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter“ vom 16. Mai 1853 analysiert Kastner nur in der Genese, nicht aber in seiner weiteren Wirkung. Mit dem Abdruck des Gesetzestextes bricht Kastners Darstellung ab. Die historische Forschung hat diesem Gesetz bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 2 Dies ist einigermaßen erstaunlich, denn die Regelungen dieses Gesetzes gingen 1869 inhaltlich unverändert in die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (und damit in die Reichsgewerbeordnung) ein, waren also Vorbild für das gesamte Reich. Außerdem wurden mit diesem Gesetz in Preußen die „Fabrikinspektoren“ eingeführt. Das Gesetz von 1853 bildete somit die Geburtsstunde der deutschen Gewerbeaufsicht. Die grundlegenden Bestimmungen dieses Gesetzes blieben für den Rest des Jahrhunderts gültig, sie wurden erst mit dem Kinderschutzgesetz des Jahres 1903 überwunden, nachdem 1891 – unter Beibehaltung aller sonstigen Regelungen – die Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder verboten wurde. Ab 1853 unterschied man drei schutzwürdige Altersklassen: erstens die unter 12-jährigen Kinder, denen regelmäßige Fabrikarbeit überhaupt nicht gestattet war, zweitens die in der Regel noch schulpflichtigen 12 bis 14-jährigen Kinder, deren Fabrikarbeit auf täglich sechs Stunden begrenzt war, und drittens die schulentlassenen 14 bis 16-jährigen „jungen Leute“, die in Fabriken täglich höchstens zehn Stunden arbeiten durften. Mit der Kontrolle dieser Vorschriften sowie der Arbeitsbedingungen jugendlicher Fabrikarbeiter überhaupt waren 1854 in den Regierungsbezirken Aachen, Arnsberg und Düsseldorf Fabrikinspektoren beauftragt worden. In den übrigen Regierungsbezirken wurden die Schutzvorschriften nach wie vor ausschließlich durch die Ortspolizei selbst mehr schlecht als recht überwacht.

Leider untersucht Kastner die Tätigkeit der drei 1854 eingesetzten Fabrikinspektoren nicht mehr, deren Berichte hinsichtlich der flächendeckenden Befolgung der Kinderschutzbestimmungen nicht gerade ermutigend waren. 3 Die Jahresberichte der ab 1872 dann nach und nach flächendeckend ausgebauten preußischen Fabrikinspektion sind voll von Berichten über Verstöße. Noch im Jahr 1872 brachten außerordentliche Revisionen eines eigens dafür abgeordneten Berliner Polizeihauptmanns in verschiedenen Provinzen das Ergebnis, dass die gesetzlichen Schutzvorschriften für Kinder und jugendliche Arbeiter in Fabriken durchweg missachtet wurden. 4 Die insgesamt positive Bewertung der preußischen Gesetzgebung der Jahre 1839/1853 durch Kastner bedarf vor diesem Hintergrund doch einiger Einschränkung.

Kastner entwertet seine Studie unnötigerweise durch sich wiederholende Angriffe auf „linke und kommunistische Historiker“ (S. 273) bzw. die „antiborussische und marxistische Forschung“ (S. 73), die das gesamte Buch in mehreren Textpassagen und vielen Fußnoten durchziehen. Im Kern geht es um die negative Einschätzung des Regulativs von 1839 in den 1950er und 1960er-Jahren durch den DDR-Historiker Jürgen Kuczynski, dem Kastner unterstellt, er habe die „Kanonenfutter-These“ erfunden, nach der das Regulativ nur erlassen worden wäre, um taugliche Rekruten zu erhalten (S. 73). In der Sache gehen die „verkrüppelten Rekruten“ auf die berühmte Ordre des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1828 zurück, mit der der König eine gesetzliche Regelung der Kinderarbeit anforderte und dies mit einem Landwehrgeschäftsbericht des Generalleutnants Heinrich Wilhelm von Horn begründete, der von einem Rückgang der Armeetauglichkeit in Fabrikgegenden Westfalens berichtete.

Wissenschaftlich ist das Rekrutenargument im Grunde schon seit der bereits im Jahr 1891 erschienenen quellengestützten Veröffentlichung von Günther Anton erledigt. 5 Seitdem ist die Entstehungsgeschichte des Regulativs in groben Zügen bekannt und auch klar, dass die „verkrüppelten Rekruten“ nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten, dagegen Überlegungen zur Schulpflicht im Vordergrund standen. Ludwig Preller hat dies – gestützt auf Günther Anton – bereits 1954 so ausgedrückt: „An der Wiege der deutschen Sozialpolitik stand der Schulmeister, nicht der Feldwebel.“ 6 Auch Kastners Buch bekräftigt den durchschlagenden Einfluss schulpolitischer Erwägungen eindrucksvoll. Wilfried Feldenkirchen zeigte bereits 1981 in einer feinen Studie auf, dass es in Preußen in der fraglichen Zeit eher einen Rekrutenüberschuss gab und auch die Fabrikgegenden keineswegs nur untaugliche Rekruten lieferten. 7 Seitdem ist die Rekrutenthese vollends widerlegt, auch die von Kastner wiederholt angegriffenen „Linken“ vertreten sie längst nicht mehr. Kastner führt somit ein Gefecht von vorgestern. Die „verkrüppelten Rekruten“ haben den wissenschaftlichen Diskurs längst verlassen. In der pädagogischen Publizistik, in Schulbüchern und so manchem Lexikon scheinen sie allerdings unausrottbar zu sein.

Im Übrigen hat Jürgen Kuczynski die Rekrutenthese keineswegs – wie Kastner behauptet – „erfunden“ (S. 73). Wir finden sie an verschiedenen Stellen der öffentlichen und innerministeriellen Debatten bereits im 19. Jahrhundert. Lujo Brentano behauptete schon 1872 auf dem Gründungskongress des Vereins für Sozialpolitik, dass das Regulativ von 1839 entscheidend auf den Bericht des Generals Horn – und somit auf militärische Erwägungen – zurückginge.8 Weitere Beispiele ließen sich leicht anführen.9 Das Rekrutenargument spielte somit lange vor der „antiborussischen und marxistischen Forschung“ eine Rolle in politischen Diskussionen.

Anmerkungen:
1 Quellengestützt zuerst: Anton, Günther A., Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung, Berlin 1891.
2 Vgl. Volkmann, Heinrich, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848-1869, Berlin 1968, S. 47-59.
3 Vgl. die Berichte des Düsseldorfer Fabrikinspektors Junkermann für 1866, 1867 und 1868, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), 3. Band: Arbeiterschutz, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Stuttgart 1996, Nr. 1, Nr. 8, Nr. 20.
4 Ebd., Nr. 35, Nr. 39.
5 Vgl. Anm. 1.
6 Preller, Ludwig, Von den tragenden Ideen der ersten deutschen Sozialpolitik, in: Herrmann, Alfred (Hg.), Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergstraesser, Düsseldorf 1954, S. 311.
7 Feldenkirchen, Wilfried, Kinderarbeit im 19. Jahrhundert – ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 26 (1981), S. 1-41.
8 Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872, Leipzig 1873, S. 8.
9 Vgl. z.B. den Brief Theodor Lohmanns an Ernst Wyneken vom 9.1.1881, in: Quellensammlung GDS, I. Abt., Bd. 3, S. 730.