S. Kursawe: Vom Leitmedium zum Begleitmedium

Cover
Titel
Vom Leitmedium zum Begleitmedium. Die Radioprogramme des Hessischen Rundfunks 1960-1980


Autor(en)
Kursawe, Stefan
Reihe
Medien in Geschichte und Gegenwart 21
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Wenn man sich fragt, welche Institutionen der Bundesrepublik vom sozialen Wandel der 1960er und 1970er-Jahre besonders stark erfasst wurden, dann wird der Akademiker natürlich an die Hochschulen denken, vielleicht an das Rechtssystem, an Geschlechterrollen oder auch an die evangelische Kirche. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kommen einem vermutlich nicht zuerst in den Sinn; sie gelten allgemein als strukturkonservativ, träge und an einem traditionalistischen Kulturauftrag orientiert. Dieses Stereotyp ist, wie die Studie von Stefan Kursawe überzeugend zeigt, ausgesprochen realitätshaltig; um so mehr beeindruckt, welche Anpassungen und Neuorientierungen die Sender und ihre Mitarbeiter in den untersuchten zwei Jahrzehnten doch vollbracht haben.

Während die 1960er inzwischen zu den Wachstumsbranchen der Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung zählen, wurden zu den 1970ern bislang nur einige recht globale Deutungsvorstöße unternommen. Vor diesem Hintergrund hat Kursawe für seine datenreiche Studie zum Hessischen Rundfunk, die als Mannheimer Dissertation bei Konrad Dussel entstand, den Zeitrahmen gut gewählt. Anhand seiner Befunde können bisherige Charakterisierungen der 1960er als „Scharnierjahrzehnt“ (Axel Schildt) auf ihre Tragfähigkeit überprüft und Thesen zur folgenden Dekade entwickelt werden. Und auch sachlich überzeugt die Lesart, dass in der Rundfunkkrise, die aus der Durchsetzung des Fernsehens folgte, der Paradigmenwechsel zum Verständnis des Radio als Komplementärmedium heranreifte. Verwirklicht wurde die Neupositionierung dann in den 1970ern mit einer Vielzahl von Programmveränderungen, die alle darauf zielten, alltägliche Nutzungsweisen und Gebrauchsansprüche der potenziellen Hörer ernster zu nehmen und an sie anzuknüpfen. Insbesondere wurde das Prinzip Unterhaltsamkeit zum universellen Zugmittel, das auch Information, Wissensvermittlung und Hochkultur dem Publikum nahe bringen sollte.

Das ist, so allgemein formuliert, kein überraschender Befund. Kursawe schließt sich immer wieder den Einschätzungen der bisherigen Rundfunkgeschichtsforschung, insbesondere Konrad Dussels Ergebnissen, an. Gegen kulturkritisch getönte Darstellungen wie etwa Jost Hermands Kulturgeschichte der Bundesrepublik weist die Arbeit zwar nach, dass die dort unterstellte Amerikanisierung des Rundfunks bis zum Ende der 1970er-Jahre eher randständig war. Wirkliches Neuland wird aber allenfalls dort betreten, wo es um die Neudefinition des Bildungs- und Aufklärungsauftrags geht, den die Radiomacher vertraten. Ebenso, wie Unterhaltung den Charakter einer Ressortangelegenheit verlor und zur Basisqualität aller Wellen wurde, durchdrang in den 1970ern auch das Anliegen der Wissensvermittlung und politischen Einbeziehung der Hörer das gesamte Programm, etwa in den zur Norm werdenden Magazinsendungen. Nicht zuletzt die Dialogisierung des Programms, die auch Hörern das Wort gab im Rundfunk, steht für den Wandel von der Belehrungs- und Verlautbarungsinstitution zum Radio als Servicepartner im Alltag.

Dass die Studie an diesem wie an vielen anderen Punkten nicht recht in die Tiefe geht, liegt vor allem an der Wahl der Quellen. Kursawe stützt sich im Wesentlichen auf schriftliche Archivalien des Senders, die über die Programmstruktur und die Vermittlungsabsichten Aufschluss geben, sowie auf Umfragedaten, die jedoch nur sehr grobgerasterte Aussagen zum Hörerverhalten erlauben. So kann er nicht eigentlich die Sendeinhalte diskutieren, allenfalls anhand von Sendungstiteln Trendvermutungen entwickeln; und er kann auch über die Rezeption des Gesendeten sowie die alltägliche Nutzung der Programmangebote kaum etwas sagen.

Das Ergebnis ist eine sehr detailreiche und durch den systematischen Bezug auf den Paradigmenwandel auch verallgemeinernde Darstellung der Intentionen der Verantwortlichen und der von ihnen gewählten Umsetzungsstrategien. Dabei wird dicht belegt, was bisher eher begründete Vermutung war: Wie schwer es den Programmmachern bis zum Ende der 1970er-Jahre trotz aller Bemühungen fiel, sich als Dienstleister für die realen Hörer zu verstehen; sie konnten Rundfunkfreiheit nicht länger als Privileg des Senders definieren, das an Bildung und Kultur, Geschmack und Information zu verbreiten, was dem Publikum nach Auffassung der Redakteure gut tat. Gerade wegen dieser ausgeprägten Beharrungstendenz sagen Kursawes Befunde vor allem etwas über Selbstverständnis und Konzepte der Rundfunkmacher aus; im Zentrum steht die Institution, der alltagskulturgeschichtliche Ertrag kann nur begrenzt sein.

Neue Gesichtspunkte für die Kultur- und Sozialgeschichte der Zeit erschließt die Arbeit nicht. Sie belegt vieles, was bisher noch als Hypothese gelten musste, und liefert reichhaltiges und aufschlussreiches Material sowie Forschungsanregungen insbesondere zur Historiografie der 1970er-Jahre. In dieser Hinsicht ist sie verdienstvoll und weiterführend nicht nur für die Rundfunkgeschichte. Wegen ihres Zuschnitts bietet sich jedoch nicht die durchgehende Lektüre an, sondern das gezielte Nachschlagen einzelner Aspekte. Zwar gibt es kein Register, doch das Inhaltsverzeichnis vermittelt einen guten Überblick.

Nicht nur die hohe Redundanz der Darstellung trübt das Lesevergnügen; auch falsch geschriebene Eigennamen, Druckfehler und Lücken im Literaturverzeichnis weisen auf ungenügende Redaktion hin. Das mag man bei einem Verlag wie Böhlau doch nicht schweigend hinnehmen.

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