K.-M. Mallmann u.a. (Hgg.): Genesis des Genozids

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Titel
Genesis des Genozids. Polen 1939-1941


Herausgeber
Mallmann, Klaus-Michael; Musial, Bogdan
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Bendig, Berlin

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind aus einer wissenschaftlichen Tagung hervorgegangen, die im September 2003 vom Deutschen Historischen Institut Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart unter dem Titel „Die Inkubationsphase des Vernichtungskrieges: Polen 1939-1941“ durchgeführt wurde. Die zwölf Autoren - überwiegend jüngere Historiker - behandeln in ihren empirischen Studien verschiedene Aspekte der nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Polen. Im Folgenden soll ein kursorischer Überblick über die Vielzahl der behandelten Themen gegeben werden. Sieben der Aufsätze sind den konkreten Erscheinungsformen der deutschen Gewaltherrschaft gewidmet, während weitere fünf Untersuchungen die Alltagsgeschichte und die Reaktionen der betroffenen polnischen Gesellschaft und der ethnischen Minderheiten auf den Besatzungsterror in den Blick nehmen.

In der deutschen Forschung ist der deutsche Vernichtungskrieg in Polen bisher eher am Rande thematisiert worden, da die Diskussion um die Verbrechen der Wehrmacht sich eher auf die Schauplätze Sowjetunion und Südosteuropa konzentrierte.1 Klaus-Michael Mallmann und Bogdan Musial betonen in ihrer Einleitung aber zu Recht, dass im Septemberfeldzug von 1939 „der Auftakt zum Vernichtungsfeldzug zu sehen ist, mit ihm die Genesis des Genozids einsetzte. Nicht nur der militärische Feind, sondern (fast) die gesamte polnische Gesellschaft wurde bekämpft.“ (S. 8). Im besetzten Polen übten sich die deutschen Besatzer in einer Praxis der nahezu schrankenlosen Gewalt, die mit allen zivilisatorischen Standards brach. Nur vor diesem Hintergrund ist die weitere Radikalisierung der Vernichtungspolitik nach dem 22. Juni 1941 zu erklären.

Musial versucht sich in seinem einleitenden Aufsatz über Polen als „Schlachtfeld zweier totalitärer Systeme“ an einem Vergleich der deutschen und sowjetischen Besatzungspolitik in Polen. Er konzentriert sich in seiner quantifizierenden Darstellung vor allem auf den Massenterror, den die deutschen und sowjetischen Besatzer ausübten und kommt - unter Benennung der strukturellen Unterschiede - zu dem Fazit, dass diese Politik in beiden Fällen „katastrophale Folgen für die polnische Gesellschaft und den polnischen Staat“ hatte.

Die nächsten vier Beiträge wenden sich den deutschen Besatzungsorganen zu und beleuchten die Rolle der Wehrmacht, der Einsatzgruppen, der Ordnungspolizei und der Waffen-SS bei der Durchführung und Realisierung der NS-Vernichtungspolitik in Polen. Jochen Böhler untermauert in seinem Aufsatz mit dem Titel „Tragische Verstrickung oder Auftakt zum Vernichtungskrieg?“ (S. 36-56) mit zahlreichen Belegen die These, dass der Wehrmacht eine zentrale Mitverantwortung für der Terror gegen die polnische Zivilbevölkerung und die Ermordung von polnischen Juden und Kriegsgefangenen zukommt.

Vom Beginn des Krieges an ermordeten die Einsatzgruppen in Polen Zivilisten und Juden. Dorothee Weitbrecht beschreibt in ihrem Beitrag (S. 57-70) das Vorgehen der Einsatzgruppen, die in Polen den Auftrag hatten, die „Ausschaltung“ der polnischen Oberschicht (katholische Geistlichkeit, Lehrer und Hochschullehrer, höhere Verwaltungsbeamte u.a.) zu bewerkstelligen. Mallmann beleuchtet in seinem Beitrag das Wirken der deutschen Ordnungspolizei (S. 71-89), die in Polen „zum Fußvolk der Massendeportation und Völkerverschiebung“ (S. 76) avancierte. Mallmann arbeitet heraus, dass der Einsatz in Polen für die Angehörigen der Ordnungspolizei „eine permanente Einübung in Erbarmungs- und Mitleidlosigkeit“ und „eine Verhärtung von Stereotypen und Feindbildern“ bedeutet und sich damit als „Schule der Shoah“ (S. 82) erwies.

Martin Cüppers verweist in seiner Studie über die Waffen-SS (S. 90-110) zunächst auf die intensive „weltanschauliche Erziehung“, der die Soldaten der Waffen-SS vor ihrem „Einsatz“ in Polen ausgesetzt waren und thematisiert dann ihre tragende Rolle bei der „völkischen Flurbereinigung“ in den besetzten Gebieten und bei der Ermordung von Geisteskranken. Die antisemitische und rassistische Ideologie zeigte bei den ideologisch gefestigten SS-Angehörigen, die sich als „weltanschauliche Elite“ verstanden, ihre Wirkung, und führte zu ungezählten brutalen Exzesstaten gegenüber Juden und Polen.

Michael Alberti widmet sich in seinem Beitrag (S. 111-126) dem Reichsgau Wartheland, der den überwiegenden Teil Großpolens und zentralpolnische Gebiete umfasste, und vom radikalen Gauleiter Arthur Greiser als „Exerzierplatz der Nationalsozialismus“ angesehen wurde. Als „Laboratorium nationalsozialistischer Rassenpolitik“ spielte der Warthegau eine Vorreiterrolle bei der Germanisierung und Politik der ethnischen Segregation in den dem Reich eingegliederten polnischen Gebieten. Durch die Deportation von Polen und der Ansiedlung von „Volksdeutschen“ sollte der Warthegau demografisch umgeformt werden. Alberti konstatiert, dass im Warthegau „volkstumspolitische Experimente gemäß der „Lebensraum“-Ideologie eingeleitet, Mord und Terror quasi wie in einem Laboratorium getestet wurden“ (S. 123).

Im Umfeld der ersten Terrorwelle im besetzten Polen im Herbst 1939 erfolgten in Danzig-Westpreußen und im Warthegau Mordaktionen an geistig Behinderten, die Volker Rieß in seinem Beitrag (S. 127-144) behandelt. Rieß macht darauf aufmerksam, dass der Krieg und seine rassenideologische Zielsetzung den Ablauf und die Hemmschwelle für den Krankenmord entscheidend herabsetzte.

Im zweiten Teil des Bandes beschreibt Andrea Löw die Reaktion der jüdischen Minderheit im deutsch besetzten Teil Polens (S. 170-186), Marek Wierzbicki untersucht die jüdisch-polnischen Beziehungen im sowjetisch besetzten Weissrussland von 1939 bis 1941 (S. 187-205), während sich Barbara Engelking des heiklen Themas „Denunziation“ im deutsch besetzten Polen annimmt (S. 206-220). Der abschließende Beitrag von Adam Dziurok verweist auf die ambivalente Haltung der Oberschlesier zur deutschen Besatzungsherrschaft.

Die Beiträge des Bandes bewegen sich auf der Höhe der Forschung und zeugen von einer immensen Quellen- und Literaturkenntnis der AutorInnen. Insgesamt bietet das Buch einen grundlegenden und übersichtlichen Einstieg in die gegenwärtige Forschung zur nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Polen.

Anmerkung:
1 Einen Überblick zur deutschen Forschung über die Besatzungspolitik in Polen bietet Bömelburg, Hans-Jürgen, Die deutsche Besatzungspolitik in Polen, in: Chiari, Bernhard (Hg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 51-86.

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