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Titel
Unrichtiges Recht. Gustav Radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre


Autor(en)
Wiegand, Marc A.
Erschienen
Tübingen 2004: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sascha Ziemann, Fachbereich Rechtswissenschaft, Johann-Wolfgang-Gothe-Universität Frankfurt

Das Werk des Juristen und Kriminalpolitikers Gustav Radbruch (1878-1949), der zu den bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts gehört, erfreut sich eines ungebrochenen Interesses. So konnten nicht nur durch den Abschluss der 20-bändigen Gesamtausgabe1 und durch die Veröffentlichung eines Vorlesungsmanuskripts von 1919 2 verdienstvolle archivalische Leistungen erbracht werden.3 Mit der Leipziger Dissertation von Marc André Wiegand konnte auch ein wichtiger inhaltlicher Beitrag zur Radbruch-Forschung geleistet werden. Wiegand unternimmt darin eine Neuinterpretation der Radbruchschen Rechtsphilosophie und bricht dabei, wie noch zu sehen sein wird, mit gesichert geglaubtem Terrain.

Der erste Teil widmet sich den Grundlagen der Radbruchschen Rechtsphilosophie, die, wie Wiegand richtig betont (S. 101ff., 224), in der Wertphilosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus zu suchen sind (Windelband, Rickert, Lask, S. 61ff.).4 Ziel dieser (geistes-)wissenschaftlichen Reformbewegung im Ausgang des 19. Jahrhunderts war nichts weniger als die Rettung der Möglichkeit einer eigenständigen geisteswissenschaftlichen Disziplinarität unabhängig vor den Welterklärungsansprüchen der Naturwissenschaften.5 Im Gegensatz zu den wertfreien Naturwissenschaften hatten es die Geistes- und, wie es jetzt hieß, Kulturwissenschaften, zu denen auch die Jurisprudenz gehörte, mit Werten zu tun.6

Aufbauend auf diesen Grundlagen geht es im zweiten Teil um Darstellung und Kritik der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs, deren Hauptwerke die „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ von 1914 und die „Rechtsphilosophie“ von 1932 sind. Kernstück von dessen Rechtsphilosophie ist die Lehre vom Rechtsbegriff, den Radbruch durch den Bezug auf die Rechtsidee definiert: „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswert, der Rechtsidee zu dienen.“ (S. 115ff.)7 Daneben steht die Lehre vom Rechtszweck. Sie bringt die Inhalte in die Rechtsidee ein und ist im Wesentlichen relativistisch angelegt, bestimmt sich also jeweils nach der vorherrschenden Rechts- und Staatsauffassung.8 Radbruch unterscheidet hier drei unterschiedliche Wertsysteme (individualistische, überindividualistische und transpersonale), denen er später auch Parteiauffassungen zuordnet (S. 168ff.).9 Im Verhältnis der beiden Lehren vom Rechtsbegriff und Rechtszweck zeige sich nun, so Wiegand, eine theoretische Inkonsistenz in der Radbruchschen Rechtsphilosophie (S. 199ff.).

Wiegand bricht mit gesichert geglaubtem Terrain und lässt die Lehre des rechtsphilosophischen Klassikers in einem neuen kritischen Licht erscheinen: Bisher ging man davon aus, dass die drei möglichen Rechts- und Staatsauffassungen in Radbruchs Konzeption gleichrangig seien und auf Grundlage von Radbruchs erkenntniskritischen Wertrelativismus, der die Unmöglichkeit der Feststellung letzter Zwecke zum Inhalt hat, nur eines politisch-moralischen Bekenntnisses, nicht aber einer wissenschaftlichen Erkenntnis fähig seien.10 Dem setzt jetzt Wiegand die These entgegen, dass es, wenn man Radbruch nur „stringent“ anwende, trotzdem Fälle eines transpersonalistischen Wertsystems gebe, die dem wertbezogenen Rechtsbegriff eigentlich widersprechen (S. 201).

Diese These steht und fällt mit dem Begriff des Transpersonalismus bei Gustav Radbruch. Anders als das individualistische und überindividualistische Wertsystem, die auf einem Verhältnis zwischen Menschen als Individuum bzw. als Teil des Kollektivs gründen 11, zeichnet sich das transpersonalistische Wertsystem durch „gemeinschaftliche Beziehungen der Einzelnen zu etwas außerhalb ihrer selbst“ aus. 12 Radbruch selbst ordnet diesem Wertsystem keine Parteiideologie zu und verweigert sich jeder weiteren theoretischen Reflexion im „luftleeren Raum“.13 Wiegand bekommt an dieser Stelle Zweifel (S. 174) und verdeutlicht dies am Nationalsozialismus. Indem dieser die Unterwerfung des Menschen unter einen das Zusammenleben übersteigenden Zweck der „arischen Kultur“ verlange, sei der Nationalsozialismus ein transpersonalistisches Wertsystem (S. 187ff., 225f.). Und gemessen an einem an der Rechtsidee ausgerichteten Rechtsbegriff (S. 194ff.), sei dieser – jedenfalls im Sinne von Wiegands Radbruch-Interpretation – eigentlich „keine mögliche Rechtsauffassung“ und transpersonalistische Normen „unrichtiges Recht“ (S. 201ff., 226).

Damit aber hätte Gustav Radbruch auch schon 1932 das theoretische Rüstzeug gehabt, die nationalsozialistische Rechtsauffassung zu kritisieren (S. 223). Dass dies nicht geschehen sei, sei im Wesentlichen ein Problem des Relativismus gewesen (S. 223), der zwar charakteristisch für Radbruchs Konzeption, dieser aber auch zugleich wesensfremd gewesen sei (S. 223). Wiegand erklärt dies durch zwei im Ergebnis unvereinbare Argumentationslinien in Radbruchs Rechtsphilosophie (S. 208ff.): Einerseits die a priori vorgegebene Wertbeziehung im Rechtsbegriff (idealistischer Ansatz), andererseits die relativistisch angelegte Lehre vom Rechtszweck (positivistischer Ansatz; S. 211). Mit der kritischen Gegenüberstellung der Lehren vom Rechtsbegriff und Rechtszweck leistet Wiegand einen wichtigen Beitrag zu einem differenzierten Verständnis der Radbruchschen Rechtsphilosophie. Wie Wiegand überzeugend darstellt, war diese von Anfang an kein widerspruchsfreies „System“, weswegen sie auch schon von einigen Zeitgenossen – darunter auch Neukantianer – stark kritisiert worden ist.14 Wiegand liegt wohl richtig, die Ursprünge der fehlenden Systematik einerseits in der Vermengung unterschiedlicher neukantianischer Positionen (Stammler, Lask, S.209 ff.), andererseits aber auch im Neukantianismus selbst (S. 217ff.) zu suchen.

Wiegand präsentiert eine sorgfältige Darstellung der rechtsphilosophischen Zweck- und Parteienlehre Gustav Radbruchs, die bislang zu Unrecht nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Wiegands Ansatz, Kontinuität und Diskontinuität im Denken Gustav Radbruchs nicht nur einseitig in zeitlicher Hinsicht, sondern auch systemimmanent zu bearbeiten, verdient Unterstützung. Wenngleich bei der Exegese streng darauf zu achten ist, sich nicht mittels eigener Fortentwicklungen des Systems über ausdrückliche Stellungnahmen hinwegzusetzen oder eigenmächtig Fehlstellen zu ergänzen, wie zum Beispiel über die fehlende Einarbeitung des parteipolitisch existierenden Nationalsozialismus in die Zweck- und Parteienlehre (S. 174f.). Trotzdem ist Wiegands Kritik Ergebnis einer soliden Forschungsleistung und Ausdruck eines vorbildlichen Wissenschaftsbegriffs, dessen Aufgabe in erster Linie die „Explikation impliziter Begriffsinhalte“ ist. Denn, so Wiegand weiter: „Werden Begriffe wie bloße Hüllen verwendet, lassen sich beliebige Vorstellungen mit ihnen umfassen, ohne dass damit der Begriff selbst geklärt wäre.“ (S. 12) Marc André Wiegand verstrickt jedoch sich nicht in Beliebigkeiten und leistet damit Gustav Radbruch und der Radbruch-Forschung einen guten Dienst.

Anmerkungen:
1 Herausgegeben von dem im Jahre 2001 verstorbenen Radbruch-Schüler Arthur Kaufmann; Gustav Radbruch Gesamtausgabe (GRGA), 20 Bde., Heidelberg 1987-2003.
2 Adachi, Hidehiko; Teifke, Nils (Hgg.), Gustav Radbruch. Rechtsphilosophische Tagesfragen. Vorlesungsmanuskript, Kiel, Sommersemester 1919, Baden-Baden 2004.
3 Siehe außerdem die 2. Aufl. der Studienausgabe zur Rechtsphilosophie des Radbruchschen Hauptwerks „Rechtsphilosophie“ von 1932, hrsg. von Dreier, Ralf; Paulson, Stanley, Heidelberg 2003.
4 Dazu nur Sprenger, Gerhard, Die Wertlehre des Badener Neukantianismus und ihre Ausstrahlungen in die Rechtsphilosophie, in: Alexy Robert u.a. (Hgg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, Baden-Baden 2002, S. 157-178.
5 Guter Überblick bei Lepsius, Oliver, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, München 1994, S. 304ff.
6 Für die Rechtswissenschaft hat dies v.a. Emil Lask herausgearbeitet, vgl. Wiegand, S. 81ff.
7 Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie, 1932, in: GRGA, Bd. 2, S. 255.
8 Radbruch, (wie Anm. 7), S. 278ff.
9 Radbruch, (wie Anm. 7), S. 290ff. Dazu v.a. Dreier, Ralf, Gustav Radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 85 (1999), S. 497-509. S. auch die Nachw. bei Wiegand, S. 10 Anm. 54.
10 S. Radbruch, (wie Anm. 7), S. 206ff.
11 Radbruch, (wie Anm. 7), S. 283ff.
12 Radbruch, (wie Anm. 7), S. 284; Wiegand, 165ff.
13 Radbruch, (wie Anm. 7), S. 288f.
14 So z.B. Sauer, Wilhelm, Die Rechtsphilosophie im Lichte von Partei- und Weltanschauungen. Fünf Besprechungen, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 26 (1932/33), S. 75-79; ähnlich Mayer, Max Ernst, Rechtsphilosophie, Berlin 1922, S. 22; zur Relativismus-Kritik v.a. Emge, Carl A., Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus, Berlin 1916; Mayer, Max Ernst, a.a.O, S. 68f.

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