Bayeux-Tapestry on CD-ROM

Cover
Titel
The Bayeux-Tapestry on CD-ROM.


Herausgeber
Foys, Martin K.
Reihe
Scholarly Digital Editions
Erschienen
Woodbridge 2002: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
1 CD-ROM
Preis
$ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Teppich von Bayeux ist eines der auffälligsten und daher bekanntesten Zeugnisse, die aus dem Mittelalter überdauert haben. Er ziert den Schutzumschlag des ‚Lexikon des Mittelalters’ und wird in vielen populären Darstellungen sowie selbst in Schulbüchern erwähnt und vor allem abgebildet. Als historisches Dokument einzigartig und handwerklich grandios, erzählt der Wandbehang auf der imposanten Länge von rund 70 Metern die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm im Jahr 1066 als Bildergeschichte – ja, wenn man so will, als historischen Comic. Dazu passend ist er als „manuscrit 1“ der Bibliothèque municipale in Bayeux inventarisiert, also als Handschrift, nicht etwa als Bild oder Tapisserie. 1 Die landläufige Bezeichnung „Wandteppich“ ist im Übrigen irreführend, handelt es sich doch nicht um ein gewebtes oder geknüpftes Stück, sondern um Stickerei mit Wolle auf acht unregelmäßigen Leinwandpartien.

Der heutige Betrachter tritt in Bayeux keineswegs vor ein sich selbst erklärendes Kunstwerk. Er wird mit einer ihm weitgehend fremden Symbolik und einer teils eckigen Drastik in der Darstellung konfrontiert, die erläutert sein will, soll es nicht beim bloßen Augenschmaus bleiben. Nach unzähligen Abbildungswerken vom monumentalen kunsthistorischen Buch bis zum Bändchen mit verschossenen Farbaufnahmen und Kommentar in sechs (höchst selten grammatisch reinen) Sprachen für den Tagestouristen-Grabbeltisch liegt nun erstmals eine computergängige Ausgabe des Teppichs vor, die mit ihrem Reihentitel verspricht, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen.

Um in den Genuss der Präsentation zu kommen, bedarf es entweder eines PCs mit Windows 98 und mindestens 233 Megaherz sowie 32 MB freien Arbeitsspeichers oder eines Apple mit Macintosh System 7.0; der Rezensent hat die CD auf Desktop-PC und Notebook unter Windows mit üblicher Ausstattung getestet. Um das elektronische Angebot allerdings vollends ausschöpfen zu können, empfiehlt sich ein Internet-Anschluss ebenso wie die Installation von Quick Time 3.0, ohne das die Panorama-Videos von den Schlachtfeldern nicht betrachtet werden können.

Exakt wie der Besucher, der den Original-Teppich in Bayeux aufsucht, kann der Nutzer der CD-Version an dem Kunstwerk vorbeidefilieren, indem er sich per Mausklick von vorne nach hinten entlang scrollt. Die elektronische Version löst dazu den Teppich in 40 Szenen und 173 Bilder (Panels) auf. Man erreicht diese Segmente von einer Navigationsleiste aus. Sie besteht aus dem Teppich in voller Länge und in entsprechender Verkleinerung, was je nach Bildschirmgröße und individueller Augenkraft durchaus zur Herausforderung werden kann. Der Umstand, dass sich das Anwendungsfenster nicht bis zum Vollbild-Modus vergrößern lässt, ist nicht nur hier bedauerlich. Dankenswerterweise wird jeweils oberhalb der Leiste die aktuelle Szene in hinreichend großen Typen beschrieben. Hier nimmt die moderne Fassung eine sinnvolle Anleihe beim Original, denn bei den eingeblendeten Beschreibungen handelt es sich um das durchlaufende Textband des Teppichs in englischer Übersetzung; wer mag, kann sich den Text auch in Latein und in der Originalschrift anzeigen lassen. Unterhalb des Navigationsteppichs läuft eine feingliedrigere Stichwortleiste mit, die das gezielte Ansteuern bestimmter Ereignisse und Szenen erleichtert. Optional lassen sich auf einem weiteren Streifen darunter kurze Bildbeschreibungen sowie eine dichte Kommentierung der jeweiligen Panels einblenden. Letztere genügt hohen wissenschaftlichen Ansprüchen und bezieht sowohl Quellen wie die reichhaltige Forschungsliteratur in vorbildlicher Weise ein.

Man kann also grundsätzlich zwischen impressiver Bildbetrachtung und einer regelrechten Lektüre des Wandbehangs wählen. Wer optisch tiefer eindringen möchte, wählt gezielt eine Szene aus den Ereignissen der Jahre 1064-1066 aus. Innerhalb dieser Panels lassen sich Details in zwei Stufen vergrößern, wobei eine bewegliche Lupe die genaue Fokussierung ermöglicht. Das Zaumzeug des normannischen Expeditionskorps ist in der Endstufe ebenso detailreich zu erkennen wie der Pfeil, der König Harold tödlich am Kopf traf (Panel 169).

Schauen, innehalten und sich nach Gusto in die Materie vertiefen, diese Möglichkeiten gewährt die CD-ROM-Version ebenso wie das Original, nur eben als Pantoffelkino. Der Mehrwert liegt in den angebotenen Kommentierungen und Vernetzungen, die dem Museumsbesucher vor Ort nicht zur Verfügung stehen. Neben einer Einleitung zum Objekt selbst werden dem Benutzer auf Knopfdruck Sacherklärungen, Landkarten und Panoramen der Schlachtorte, Genealogien, Glossare und Bibliografien sowie gleich drei moderne Faksimiles des Wandbehangs angeboten, die sich vergleichend studieren lassen. Besonders interessant ist für den Historiker zweifellos die Verbindung von der Darstellung zu Artefakten aus Museen und zu ausgewählten Quellentexten. Von der legitimatorisch zentralen Darstellung des Eids, mit dem Harold Godwineson 1064 die Erbansprüche Herzog Wilhelms von der Normandie auf den englischen Thron anerkannt haben soll (Panel 59) und der daher nicht nur das Cover der vorliegenden CD, sondern auch vieler Abbildungswerke ziert, gelangt man beispielsweise über den Bildkommentar per Mausklick zur Schilderung der betreffenden Ereignisse in den Gesta Guillelmi ducis des Wilhelm von Poitiers. Damit lässt sich nicht nur Hintergrundwissen vermehren, sondern die bildliche Umsetzung des Themas mit der konventionellen zeitgenössischen Historiografie vergleichen. Zur Reise in diese vielfältigen Hintergrund-Welten laden pop up-Menüs am unteren Bildschirmrand ein. Unter der Rubrik ‚Library’ verbirgt sich dabei eine umfangreiche Auswahl von Exzerpten der maßgeblichen historiografischen Quellen zur Eroberung Englands von Wilhelm von Poitiers bis zum Carmen de Hastingae Proelio in englischer Übersetzung. Das Fehlen der lateinischen Urtexte wird nur der Purist beklagen, greift die CD doch jeweils auf die jüngsten und besten Textausgaben zurück. 2 Gewöhnungsbedürftig ist allerdings, dass die Menüs sich beim Navigieren nur öffnen, wenn die linke Maustaste gedrückt bleibt.

Die Möglichkeit, Einzelbilder zu einer Diashow zusammenzustellen, dürfte die CD im Zeitalter des Beamers auch für den Einsatz in der akademischen Lehre attraktiv machen. Das Ausdrucken der Bilder ist dagegen nicht möglich. Dies ist zu verschmerzen, dürfte die für den Bildschirm konzipierte Auflösung ohnehin nicht hinreichen, um qualitativ hochwertige Ausdrucke zu erstellen. Auch Texte, Kommentare, Bibliografie etc. lassen sich nicht direkt von der CD drucken oder exportieren. Hierzu muss man eine verlinkte, freigeschaltete Internetseite aufsuchen, von der alle gewünschten Operationen problemlos ausgeführt werden können, sei es die Erstellung einer Zitatensammlung oder einer selektiven Bibliografie.

Zu den beeindruckenden Möglichkeiten, die diese digitale Edition offeriert, gehört auch eine Suchfunktion, mit deren Hilfe man in Kommentar und Glossaren Begriffe und Phrasen in logischer Verknüpfung aufspüren kann. Von den aufgelisteten Stellen kann man dann per Link sofort zur entsprechenden bildlichen Abbildung springen, also etwa alle Szenen aufspüren, in denen Bischof Odo von Bayeux auftritt oder ein Falke (Panel 18) zu sehen ist. Besser als es diese CD demonstriert, kann man Text und Bild nicht koppeln, die komplexe Aussagekraft dieser einzigartigen Quelle wohl nicht eindrucksvoller erschließen.

Kaum jemand wird sich der Faszination des Teppichs von Bayeux auch in seiner digitalen Aufbereitung entziehen können, die durch übersichtliche Menüführung, vor allem aber durch ihre hochprofessionelle historische Information überzeugt. Das Betrachten, Lesen und Neuentdecken dieser einzigartigen Quelle, unabhängig von Öffnungszeiten und Besucherandrang, ist für den des Englischen mächtigen Wissenschaftler wie für den interessierten Laien ein Genuss. Man erkauft ihn freilich mit dem Verzicht auf das sinnliche Erlebnis, vor dem Original zu stehen und dessen Dimensionen und Geschlossenheit zu erfahren. Die Bildschirmansicht zerlegt den Wandbehang in Einzelteile, aber sie bringt diese Einzelheiten nach Maßgabe des Betrachters zum Sprechen. Dies ist kein geringes Verdienst angesichts einer Quelle, die beeindruckt, deren Verständnis dem heutigen Betrachter aber erst fachlich kompetent aufgeschlossen werden muss. Wer so vorgebildet nach Bayeux fährt, wird den „Teppich“ nicht bloß „marvelous“ finden.

Anmerkungen:
1 Die Signatur ist nicht ganz eindeutig, da ein Chartular der bei Bayeux gelegenen Leproserie Saint-Nicolas-de-la-Chenaie aus dem 15. Jahrhundert ebenfalls unter Bayeux, Bibl. mun., ms.1 geführt wird.
2 Im Katalog der verfügbaren Quellen lies William of Jumièges, Gesta Normannorum ducum statt ducem.

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