B. Bushey, H. Brodzinski (Bearb.): Lateinische Handschriften bis 1600

Cover
Titel
Die lateinischen Handschriften bis 1600. Band 1: Fol max, Fol und Oct


Herausgeber
Bushey, Betty C.; Broszinski, Hartmut
Reihe
Bibliographien und Kataloge der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar
Erschienen
Wiesbaden 2004: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
LXVII, 615 Seiten
Preis
€ 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eric Steinhauer, Universitätsbibliothek, Technische Universität Ilmenau

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) in Weimar ist als Forschungsbibliothek für deutsche Literatur berühmt. Der Schwerpunkt ihrer Bestände liegt in der Zeit von 1750 bis 1850. Wenig bekannt ist indes, dass diese Bibliothek auch mittelalterliche Handschriften in nicht geringem Umfang beherbergt.1 Der nun vorliegende erste Band des auf zwei Bände angelegten Katalogs der lateinischen Handschriften der HAAB aus der Zeit bis 1600 macht diese Schätze, die bei dem verheerenden Bibliotheksbrand am 2. September diesen Jahres glücklicherweise nicht beschädigt worden sind, erstmals einem breiteren Publikum zugänglich. Er enthält die Beschreibungen von 95 vollständigen Handschriften und 110 selbständigen Handschriften-Fragmenten. Bearbeitet wurde der Katalog von der ausgewiesenen Handschriftenexpertin Betty C. Bushey in den Jahren 1993 bis 2001.2 Die Beschreibung der Handschriften folgt den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Katalogprojekt auch gefördert hat.

Der Katalog beginnt mit einer umfangreichen Einleitung, in der Bushey die Bestandsgeschichte schildert. Die Weimarer Handschriften waren im Gegensatz zur Situation an vielen anderen deutschen Fürstenbibliotheken nicht durch die Säkularisation landeseigener Klöster in die Bibliothek gekommen, sondern durch Ankauf und Schenkungen. Der vorhandene Bestand ist daher das Ergebnis einer mehr oder weniger planvollen Sammeltätigkeit der Weimarer Herzöge und ihrer Bibliothekare.

Die wichtigsten Provenienzen der Weimarer Handschriften sind die 1803 aufgehobenen Erfurter Klöster, allen voran die Kartause auf dem Salvatorberg und die Benediktinerabtei St. Peter3, sowie einige Privatsammlungen, die in Teilen oder vollständig für die Weimarer Bibliothek erworben wurden.

Bushey zeichnet in der Einleitung den Erwerb der Handschriften unter Einbeziehung von im Thüringer Hauptstaatsarchiv lagernder Dokumente der HAAB (Rechnungen etc.) in chronologischer Aufstellung nach. Dabei kann sie die Erwerbungen zwar nicht immer genau aufschlüsseln, gibt aber Hinweise für künftige, vertiefte Forschungen. Die sorgfältig erstellte Einleitung gibt dem Leser ein gutes Bild vom Wachsen und Werden des Bestandes. Die Frage, aus welchen Motiven die Weimarer Herzöge ihrer Bibliothek alte Handschriften – vornehmlich theologisch-liturgischen und juristischen Inhalts – einverleibten, bleibt jedoch weitgehend unbeantwortet. Ging es um den Inhalt der Handschriften, was angesichts der textlich nicht sehr originellen Liturgica und der vielen Fragmente zweifelhaft scheint, oder war es ein antiquarisches Interesse an Curiosa und Zimelien, die das Prestige der Bibliothek aufwerten und der gelehrten Welt Weimars Anschauungsmaterial früher Buchkultur liefern sollten? Solche Fragestellungen liegen nicht im Blickeld eines Kataloges. Gleichwohl stellen sie sich dem aufmerksamen Leser, und es wäre ein schöner Erfolg des vorliegenden Bandes, hier zu vertiefter Forschung anzuregen.

Der Katalog selbst folgt den traditionellen Signaturen der Handschriften und beschreibt die einzelnen Stücke der Reihe nach. Im Rahmen einer kurzen Rezension können hier nur einige Schlaglichter gesetzt werden.

Die älteste Handschrift ist ein Evangeliar-Fragment des 9. Jahrhunderts (Fol 1), das sehr wahrscheinlich das Gegenstück zu dem in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Clm 11019 ist.

Mit Fol max 29 besitzt die Bibliothek eine bemerkenswerte illuminierte Handschrift über Astrolabien von Georg Hartmann (1489-1564), die möglicherweise sogar ein Autograf ist. Die Handschriftenbeschreibung ist mit fast zehn Seiten sehr detailreich.

Weiterhin enthält der Bestand nicht wenige juristische, vor allem kanonistische Werke. Insbesondere aus dem Decretum Gratiani finden sich Fragmente.

Die liturgischen Handschriften sind durchweg mit großer Sachkenntnis bearbeitet. So zieht Bushey regelmäßig das Sanctorale zur Provenienzbestimmung heran, etwa bei Fol 37 (Missale monasticum plenum, 13. Jh.).

Erwähnenswert sind auch einige medizinische Handschriften. Fol 59 aus dem Collegium Amplonianum in Erfurt enthält Werke von Mesue Iunior und Isaac Iudaeus; in Fol 60 finden sich etliche Rezepte. Fol 61 vereint als Sammelhandschrift Werke des Galen und des schon erwähnten Issac Iudeaus.

Als Kuriosum sei Fol 374/2 genannt: eine Ars notoria der Sammlung Schurzfleisch aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Für die Erschließung dieser Handschrift führt Bushey sogar Internetquellen auf.

An dieser Stelle könnte man die Frage stellen: Warum wurde überhaupt ein konventionell gedruckter Katalog vorgelegt? Hätte man die Handschriften nicht viel zeitgemäßer in einer Datenbank präsentieren und mit aussagekräftigen Scans anreichern können? Die Frage scheint berechtigt, zumal der Katalog die schönen Illustrationen der Weimarer Handschriften nur beschreibt, selbst jedoch keine Abbildungen enthält. Insofern ist die gewählte Erschließung der Handschriften in einem gedruckten Katalog eher „langweilig“. Aber man sollte bedenken: Erst in der herkömmlichen Buchform wird die Gesamtheit des Bestandes transparent. Der Leser des Kataloges wird in die Lage versetzt, sich neben punktuellen Information zu einzelnen Stücken einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Damit leistet ein gedruckter Katalog im Gegensatz zu einer Datenbank eine Erschließung des Bestandes an sich.

Und gerade auf den Bestand an sich kommt es im Fall der Weimarer Handschriften in besonderem Maß an: Im Gegensatz zu anderen Fürstenbibliotheken sind die Weimarer Handschriften gezielt erworben und gesammelt worden. Dabei vermitteln die in der klassischen Periode Weimars hinzugekommenen oder dort schon bereits vorhandenen Handschriften ein Bild der Rezeption alten Buchgutes zu dieser Zeit. Insoweit fügt sich die Handschriftenkatalogisierung ungeachtet ihres mediävistischen Wertes in das Profil der HAAB ein und gibt Hilfestellung zum vertieften Verständnis der Bibliothekskultur der Weimarer Klassik.

Betrachtet man die vorhandenen Handschriften insgesamt, so ist festzustellen, dass sie durchgehend zwar kein Spitzen-, wohl aber ein hohes buchkünstlerisches Niveau aufweisen. Das unterstreicht den mehr ästhetischen Aspekt der Sammlung. Weniger die Texte, mehr der Sammlungsgegenstand „Altes Schriftgut“ stand im Zentrum der Weimarer Handschriftenpflege. Man wird diesem Bestand am ehesten gerecht, wenn man ihn als bewusst angelegte Sammlung begreift. Auf diesen Aspekt hat Bushey in ihrer ausführlichen Einleitung in der Tat einen Schwerpunkt gelegt, indem sie immer wieder auf die Erwerbungsumstände einzelner Stücke hingewiesen hat.

Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Katalog, der gerade in seiner gedruckten Form den Bestand als Ganzen zeigt, weit mehr als nur ein bloßes Inventar. Er ist ein Baustein für eine am Weimarer Beispiel ausgerichtete Geschichte des (Bücher)Sammelns. Damit passt er gut zum Forschungsprofil der HAAB, die sich in besonderem Maße als „Provenienzbibliothek“ versteht und auf die Überlieferung des alten Buches in seinen Sammlungszusammenhängen großen Wert legt. Auf den für 2008 geplanten Fortsetzungsband darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Der ausführliche Beitrag im Handbuch der Historischen Buchbestände XXI, Hildesheim 1999, S. 101-127 über die HAAB erwähnt die mittelalterlichen Handschriften nur beiläufig im Rahmen der allgemeinen Bibliotheksgeschichte. Als eigener Bestand werden sie im Gegensatz zu vielen anderen Sammlungen der Bibliothek (S. 114-122) indes nicht vorgestellt.
2 Hervorgehoben sei der pünktliche Abschluss des Projektes. Der Weimarer Bibliotheksdirektor Michael Knoche hatte in seinem Aufsatz „Die Forschungsbibliothek: Umrisse eines in Deutschland neuen Bibliothekstyps“, der in der Zeitschrift „Bibliothek: Forschung und Praxis“ 17 (1993), S. 281-300 erschienen ist und die HAAB als Forschungsbibliothek vorstellt, auf S. 296 das Erscheinen des Kataloges nicht vor 2003 angekündigt. Diese zeitliche Vorgabe wurde eingehalten.
3 Vgl. die Aufstellung der Erfurter Provenienzen in Anhang V, S. 474-482.

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