M. Spoerer: Steuerlast, Steurerinzidenz und Steuerwettbewerb

Cover
Titel
Steuerlast, Steurerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815-1913)


Autor(en)
Spoerer, Mark
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Beiheft 6
Erschienen
München 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Schulze-Tammena, Educational Department, Goethe-Institut London

„Ich weiß als Landwirt, wenn der Metzger kommt, um einen Ochsen zu kaufen, so rechnet er mir vor, wie viel Pfund der Ochse hat, was das Pfund gibt, und sagt: so und so viel Steuern muss ich am Thore geben. Die zieht er mir, dem Producenten ab, ob er sie nachmals noch einmal dem Consumenten abzieht, das weiß ich nicht!“ 1 Bismarcks Statement vom 12. Februar 1851, das im preußischen Abgeordnetenhaus mit „allgemeiner Heiterkeit“ aufgenommen wurde, beleuchtet anekdotisch ein Phänomen, das nicht nur ostelbischen Junkern, sondern auch Finanzwissenschaftlern und Finanzhistorikern stets aufs Neue Kopfzerbrechen bereitet hat. Die Stichworte dafür sind „Steuerüberwälzung“, „Overshifting“ oder „Steuerinzidenz“. Sie benennen den Problemzusammenhang, dass derjenige, der eine Steuer entrichtet, nicht unbedingt derjenige sein muss, der sie trägt.

Mit Mark Spoerers Habilitationsschrift liegt eine energisch geschriebene und fundierte historische Vergleichsstudie zur Besteuerung in Preußen und Württemberg im „langen“ 19. Jahrhundert vor. Spoerer untersucht die Steuerreformen und die Steuerlastverteilung in ihren geografischen, sektoralen und schichtspezifischen Dimensionen (S. 39-102) und ermittelt die Gesamtsteuerlast in Preußen und Württemberg sowie ihre Entwicklung im Laufe des Jahrhunderts (S. 103-124). Im Zentrum der Studie steht das Phänomen der Steuerüberwälzung vor allem am Beispiel der preußischen Mahl- und Schlachtsteuer sowie der württembergischen Fleischsteuer (S. 125-168). Abschließend geht Spoerer der aktualisierenden Frage nach, ob es im 19. Jahrhundert schon erste Formen von „Steuerflucht“ und Steuerwettbewerb gegeben habe (S. 169-192). Die doppelte Herausforderung, eine komplexe, finanztheoretisch informierte Wirkungsanalyse mit einer historischen Vergleichsstudie zu verknüpfen, an der schon mancher Autor bzw. Autorin methodisch gescheitert ist, hat Spoerer überzeugend gemeistert, auch wenn Württemberg gegenüber Preußen etwas zu kurz gekommen ist.

Was bietet die Studie im Einzelnen? Solides Zahlenmaterial und Revisionen, Differenzierungen und Richtigstellungen: Beispielsweise ist die These, dass die westlichen Provinzen Preußens überproportional besteuert wurden, nicht mehr zu halten. Dieser vom rheinischen Politiker David Hansemann im Vormärz politisch wirkungsvoll formulierte Vorwurf - von der historischen Forschung bislang weitgehend akzeptiert, jetzt muss man wohl sagen nachgebetet - wird von Spoerer gründlich widerlegt. Mit klar geordneten Zahlenwerken kommt Spoerer zu einer differenzierten Gegendarstellung, indem er die Steuerbelastung vor und nach der preußischen Steuerreform von 1820 betrachtet und dabei die Erträge der direkten und indirekten Steuern in den alten, den wieder gewonnenen und den neuen Regierungsbezirken Preußens vergleicht.

Zwar sei die Pro-Kopf-Belastung für die neuen westlichen Regierungsbezirke im Durchschnitt gestiegen, während sie in den Regierungsbezirken des alten preußischen Kerngebiets eher gesunken sei. Spoerer kann aber mit seinen Berechnungen belegen, dass zwischen den westlichen und östlichen Regierungsbezirken lediglich eine Angleichung stattgefunden habe. Die Argumentation wird dadurch wirkungsvoll unterstützt, dass Spoerer Teilaspekte des statistischen Zahlenmaterials in thematischen Karten visualisiert (S. 53, 58, 65, 70, 80). Neben der regionalen spielt die sektorale Verteilungswirkung von Steuern eine erhebliche Rolle in der finanzhistorischen Diskussion. Die von Schremmer vertretene Ansicht, dass die Steuersysteme in Preußen und Württemberg bewusst Wirtschaftswachstum stimuliert und Modernisierung gefördert, ja, den Industrialisierungsprozess subventioniert hätten, wird von Spoerer als argumentationslogisch inkonsistent entlarvt. Wie kann ein 1820 bzw. 1823 eingerichtetes Steuersystem Wirtschaftsprozesse antizipieren, die erst in den 1840er-Jahren virulent werden? Spoerer lässt allenfalls die Behauptung gelten, dass es eine „steuerliche Bevorzugung gewerblicher im Vergleich zu agrarischer Wirtschaftstätigkeit“ gegeben habe (S. 31).

Die diffizile Frage nach der Verteilungswirkung von Steuern ist natürlich nicht zu beantworten, ohne solides Zahlenmaterial über reale Steuerbelastungen. Spoerer bezieht in seine Berechnungen die häufig vernachlässigten und unterschätzten kommunalen Zuschläge zu den Staatssteuern mit ein. Auf deren Bedeutung hatte schon Rosemarie Siegert 2 in einer eher deskriptiv angelegten Studie zum preußischen und badischen Steuerwesen hingewiesen. Auch wenn die Datenlage der Kommunalfinanzstatistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere für Preußen, weniger für Württemberg, prekär ist, weil statistische Daten nur sporadisch oder nach uneinheitlichen Kriterien gesammelt wurden, machen Spoerers mit großem Aufwand zusammengestellte Daten deutlich, dass die Gesamtsteuerlast sowohl in Preußen als auch in Württemberg kontinuierlich gestiegen ist (S. 108-112). Diese Entwicklung nimmt Spoerer auch als einen Hinweis auf, dass die vom Doyen der deutschen Finanzwissenschaft Adolph Wagner geäußerte "These der wachsenden Staatstätigkeit" für das 19. Jahrhundert Gültigkeit beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang betont Spoerer, dass die Gesamtsteuereinnahmen im Verhältnis zum Volkseinkommen überproportional gestiegen seien: 5 Prozent in der Mitte des 19. Jahrhunderts und 10 Prozent kurz vor dem Ersten Weltkrieg (S. 122).

Welche sozialen Schichten schlussendlich die Steuerlast tragen müssen, hängt davon ab, ob und wie Steuern weitergewälzt werden können. Dem eingangs schon erwähnten Phänomen der Steuerüberwälzung indirekter Steuern geht Spoerer am Beispiel der preußischen Mahl- und Schlachtsteuer und der württembergischen Fleischsteuer auf den Grund und versucht, den Grad der Vor- und Rückverlagerung der Steuerlast auf Produzenten bzw. Konsumenten zu ermitteln. Die indirekte Besteuerung von Grundnahrungsmitteln war sozialpolitisch immer höchst umstritten und belastend für Unterschichten, weil sie nicht auf andere Produkte ausweichen konnten und dadurch überproportional zur Steuer herangezogen wurden. Spoerer stellt fest, dass sich die Schlachtsteuern nicht vollständig auf die Konsumenten abwälzen ließen, weil sie durch Konsumverzicht dem durch Steuern verteuerten Angebot ausweichen konnten. Deshalb - so Spoerer - sei die Fleischqualität in Steuerstädten qualitativ hochwertiger als in Nichtsteuerstädten gewesen (S. 166). Die Preise für Massengetreide waren dagegen in besteuerten Städten signifikant höher und wurden auf die Kunden abgewälzt. Bei seiner Recherche entdeckte Spoerer die statistischen Analysen des in Gießen tätigen Finanzwissenschaftlers Etienne Laspeyres neu und bringt dessen 1877 und 1901 publizierte Ergebnisse wieder in die finanzhistorische Diskussion ein. Laspeyres, den „weltweit ersten Forscher zur Inzidenz einer Verbrauchsteuer“ (S. 128) zu bezeichnen, werden allerdings nur diejenige wagen, die einen umfassenden Einblick in die Traditionen der französischen und angloamerikanischen Steuerforschung im 19. Jahrhundert haben.

Im Schlusskapitel geht Spoerer der Frage nach, wann, wo und in welchem Umfang sich Fiskalwettbewerb und fiskalisch induzierte Migration in den Staaten Preußen und Württemberg vor dem Ersten Weltkrieg nachweisen lassen. Er sucht dabei Anschluss an die aktuelle finanzpolitische Diskussion über „Steuerflucht“ und Steuerwettbewerb und kann glaubwürdig machen, dass diese Phänomene seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im kommunalen Kontext greifbar waren.

Bereits am Eingang seiner Studie macht Spoerer gegen Schremmers These Front, dass die „Geschichte der Besteuerung im 19. Jahrhundert einen Trend zu größerer Steuergerechtigkeit aufweise“. Das ließe sich in der Tat schwer belegen. Das Zitat, das Spoerer als Beleg bringt, zeigt aber, dass er einem naturalistischen Fehlschluss unterliegt. Schremmer spricht lediglich von allgemein geteilten gerechtigkeitspolitischen Zielvorstellungen und nicht von ihrer vollständigen Umsetzung (S. 33). Zu diesem Bereich der normativen und strategischen Diskurse über die Verteilung von Steuerlasten gibt Spoerers anregende Studie wenig Auskunft. Aber die Einbeziehung der mit Akribie gesammelten und mit Sorgfalt analysierten steuerwirtschaftlichen Daten in einen weiteren kultur- und politikgeschichtlichen Rahmen, wird sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. Dem Zensiten ein menschliches Gesicht, einen Namen und einen Beruf zu geben, sei es als Steuerzahler oder -hinterzieher, war nicht das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie, das wird anderen finanzhistorischen Arbeiten vorbehalten sein. Diesen bietet Marc Spoerer aber auf alle Fälle eine solide und äußerst transparente empirische Grundlage. Seine Studie ist finanztheoretisch fundiert und findet den Anschluss an den aktuellen, vor allem angloamerikanischen Diskurs in der Finanzwissenschaft.

Anmerkungen:
1 Die politischen Reden des Fürsten von Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. Horst Kohl, Erster Band 1847-1852, Stuttgart 1892, S. 290
2 Siegert, Rosemarie, Steuerpolitik und Gesellschaft. Vergleichende Untersuchungen zu Preußen und Baden 1815 bis 1848, Berlin 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension