G. Heydemann u.a. (Hgg.): Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte

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Titel
Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen


Herausgeber
Heydemann, Günther; Oberreuter, Heinrich
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Ihme-Tuchel, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Heftig ist in den letzten 15 Jahren darüber gestritten worden, ob und wenn ja, wie das nationalsozialistische Herrschaftssystem und das der DDR miteinander verglichen werden können.1 Unterschiedlichste theoretische Überlegungen und Modelle standen zur Diskussion, aber Versuche, diese Modelle zu operationalisieren und in ein Forschungsdesign umzusetzen, gab es erheblich weniger. Insofern betritt der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Band tatsächlich Neuland, wenn er sich „sektoralen Mikrovergleichen“ (S. 35) nähert.

Unverzichtbar für das Verständnis des hier vorgestellten Konzepts und seiner Detailanalysen ist die Einführung von Günther Heydemann und Detlef Schmiechen-Ackermann zur „Theorie und Methodologie vergleichender Diktaturforschung“. Sie stützen sich dabei auf die Ergebnisse gemeinsamer Forschungstätigkeit in den vergangenen Jahren und vermögen es überzeugend, die „kontroverse Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs der beiden deutschen Diktaturen“ (S. 9ff.) nachzuzeichnen, bevor sie die Forschungsgeschichte kurz beschreiben und anschließend „Arten und Typen des historischen Vergleichs in der Diktaturforschung“ vorstellen. Ihr Fazit und damit auch die Ausgangsposition für die in diesem Band vorgestellten Studien lautet: „Ohne Zweifel repräsentiert der Vergleich von NS-Staat und SED-Herrschaft eine spezielle Form der komparativen Diktaturforschung; denn erstens handelt es sich um einen Vergleich innerhalb einer Nation, der zweitens noch zusätzlich eine diachrone Vergleichsperspektive einschließt, die drittens eine asymmetrische Beziehungsgeschichte konstituiert“ (S. 31). Dieser einleitende Abschnitt, in dem auch auf „theoretische und methodische Grundlagen des Vergleichs“ zwischen beiden Diktaturen (S. 31ff.) eingegangen wird, eignet sich gerade in der universitären Lehre besonders gut als Einführungstext in den modernen Diktaturvergleich.

Für die von Heydemann und Schmiechen-Ackermann gewählte Perspektive sind in methodologischer Hinsicht zwei grundlegende komparative Ansätze von Bedeutung, die „aufeinander aufbauen und zugleich in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen“. Der eine Ansatz ist der „ganzheitliche, integrale Makrovergleich, der beide diktatorische Herrschaftssysteme in ihrer Gesamtheit mit ihren strukturellen Hauptmerkmalen, eventuellen Gemeinsamkeiten sowie spezifischen Unterschieden zu erfassen sucht“ (S. 32). Auf diesem, eher stark abstrahierenden Ansatz mit einem sehr differenzierten Kriterienraster können dann sektorale oder partielle Mikrovergleiche aufbauen, in denen „nur ganz bestimmte Strukturen und Mechanismen beider Regime herausgegriffen werden [...] Solche sektoralen Mikrovergleiche basieren auf einem Höchstmaß an konkreter Vergleichbarkeit, indem gerade solche Vergleichsobjekte ausgewählt werden, die in beiden Diktaturen weitgehend unverändert geblieben sind (etwa ein Wirtschaftsunternehmen oder eine kirchliche Einrichtung) oder zumindest ein hohes Maß an analogen Strukturen und Funktionsweisen (etwa das Justizwesen oder die Geheimdienste) implizieren“ (S. 34).

Die Überlegungen beider Autoren zeigen deutlich, welche Reichweite sektorale Mikrovergleiche besitzen können, aber auch, dass das hier vorgelegte theoretische Konzept eine Vielzahl von Einzelstudien erforderlich machen wird, die die diktatorischen Herrschaftssysteme in unterschiedlichsten Politikfeldern vergleichend analysieren. Insofern ist der empirische Teil des vorliegenden Bandes vielfach als ein Anfang derartiger Untersuchungen und nicht als enzyklopädischer analytischer Abschluss des deutsch-deutschen Diktaturvergleichs zu betrachten. Die insgesamt 18 - allesamt dem sektoralen Mikrovergleich zuzurechnenden und stark auf Sachsen ausgerichteten - empirischen Studien sind in sechs Bereiche gegliedert: Im Kapitel „Machtetablierung und Herrschaftsalltag“ vergleichen Mike Schmeitzner und Andreas Wagner nationalsozialistische „Machtergreifung“ und sozialistische Diktaturdurchsetzung in Sachsen, während Christopher Beckmann die „zweifache Machtergreifung“ im sächsischen Grimma analysiert. Francesca Weil wiederum geht den Biografien von Landräten zwischen 1933 und 1961 im erzgebirgischen Annaberg nach, Detlef Schmiechen-Ackernmann untersucht die Staatsparteien NSDAP und SED als lokale Vermittlungsinstanzen der Diktatur.

„Justiz, Repression und Geheimdienste“ sind Gegenstand des zweiten Kapitels. Hier zeichnet Hermann Wentker den Transformationsprozess der Justiz in den Anfangsjahren beider deutscher Diktaturen nach, Ruth Bettina Birn und Jens Giesecke befassen sich mit der Generalität der Staatssicherheit im doppelten Diktaturvergleich, Annette Leo analysiert die doppelte Nutzung des Lagers Sachsenhausen. Gerald Hackes Beitrag über die doppelte Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas beschließt dieses Kapitel.

Unter dem Obertitel „Erziehung und Bildung“ untersucht Jill Akaltin Kindergärten und Kleinkindererziehung am Beispiel Leipzigs zwischen 1930 und 1958, Michael Parak die sächsische Hochschulverwaltung in den Jahren 1933 bis 1952. „Gewerkschaft und Betrieb“ ist das vierte Kapitel gewidmet. Rüdiger Hachtmann vergleicht darin die Deutsche Arbeitsfront und den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Sabine Hödt am Beispiel des Magdeburger Schwermaschinenwerks betriebliche Konfliktbewältigung und Möglichkeiten politischer Einflussnahme; Oliver Werner lotet die Handlungsspielräume von Direktoren am Beispiel eines Leipziger Maschinenbaubetriebs aus.

Im Kapitel „Medien und Öffentlichkeit“ untersucht Adelheid von Saldern „Öffentlichkeiten“ in Diktaturen, während Udo Grashoff und Christian Goeschel sich mit dem Umgang beider Diktaturen mit dem Selbstmord befassen. Das Kapitel „Kirche, Bürgertum und Vereinswesen“ beschließt den Band. Hier analysiert Georg Wilhelm die Kirchenpolitik beider deutscher Diktaturen am Beispiel Leipzigs, Thomas Großbölting die Bildungsschichten in der NS- und der SED-Diktatur. Thomas Schaarschmidt beschließt den Band mit einer Untersuchung der Rolle der sächsischen Heimatbewegung in beiden Diktaturen.

Die vergleichende Lektüre der Beiträge macht deutlich, dass mit Hilfe sektoraler Mikrovergleiche viele neue Sichtweisen möglich sind, die Reichweite des Konzepts aber durchaus in den verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich ist. Hinzuweisen ist hier etwa auf die instruktiven Beiträge von Schmiechen-Ackermann über „Die Staatsparteien NSDAP und SED als lokale Vermittlungsinstanzen der Diktatur“ und von Adelheid von Saldern über „Öffentlichkeit in Diktaturen“.

Besonders gut zeigen sich die Möglichkeiten des sektoralen Mikrovergleichs im Beitrag von Birn und Gieseke über die Generalität der DDR-Staatssicherheit im doppelten Diktaturvergleich, in dem sie die Führungseliten des Ministeriums für Staatssicherheit, der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei (Gestapo und Kriminalpolizei) einschließlich des Sicherheitsdienstes der SS (SD) und das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKVD) mit Vorläufern und Nebenorganisationen in vergleichender Perspektive untersuchen (S. 219ff.). Dabei gelingt ihnen mit Hilfe des generationellen Zugriffs eine überzeugende Zusammenschau, an der weitere Detailstudien ansetzen können. Auch der von Grashoff und Groeschel analysierte Umgang beider deutscher Diktaturen mit Selbstmorden macht deutlich, dass beide Herrschaftssysteme sich als „die Lösung des Selbstmordproblems per se“ (S. 477) verstanden. In auf diesseitige Heilserwartungen ausgerichteten Gesellschaften gab es – so die herrschende Ideologie – für den Suizid keinen Platz mehr. Das Individuum hatte vielmehr die Pflicht, sich „in den Dienst der ‚Volksgemeinschaft’ oder des ‚Kollektivs’ zu stellen“ (S. 497). Während es in der nationalsozialistischen Diktatur allerdings Versuche einer Kriminalisierung von Selbstmordversuchen gegeben habe, sei das DDR-System weitgehend indifferent gegenüber suizidalen Handlungen geblieben. Einen nennenswerten Einfluss auf die Selbstmordraten konnten jedoch beide ideologisch fundierten Diktaturen nicht gewinnen; auch hier blieb die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ oder des „neuen Menschen“ eine Fiktion.

Diese Beiträge wurden aus der Vielzahl der interessanten Beiträge nur hervorgehoben, um auf die analytischen Möglichkeiten des sektoralen Mikrovergleiches zu verweisen. Insgesamt bietet dieser Band eine Vielzahl von Erkenntnissen über unterschiedlichste Politikfelder in systemübergreifender komparativer Perspektive. Er wird zu weiteren Diskussionen anregen; seinem eigenen Anspruch, die weitere Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Diktaturvergleichs mit empirisch fundierten Einzelstudien voranzutreiben, wird er in jeder Weise gerecht. Doch – und auch das wird aus vielen Beiträgen deutlich – diese Debatte ist noch lange nicht beendet.

Anmerkung:
1 Vgl. Schmiechen-Ackermann, Detlef, Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002, besonders S. 22ff.

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