S. Grätz: Das Edikt des Artaxerxes

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Titel
Das Edikt des Artaxerxes. Eine Untersuchung zum religionspolitischen und historischen Umfeld von Esra 7,12-26


Autor(en)
Grätz, Sebastian
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 337
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
IX, 343 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Baltrusch, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Das vorliegende Buch, eine Habilitationsschrift an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn, befasst sich mit einer Kernfrage der jüdischen Geschichte im Altertum: Dürfen wir die Esra/Nehemia-Überlieferung der hebräischen Bibel mit ihren Dokumenten für die Beurteilung der persischen Herrschaft über die von Kyros hinzugewonnene Provinz Jehud um Jerusalem heranziehen, oder, mit des Autors Worten formuliert: "Handelt es sich zumindest im Kern der Überlieferung, nämlich der 'Aramäischen Chronik' in Esr 4-6 mit ihren Dokumenten, dem 'Artaxerxesfirman' in Esr 7 und der in Neh 1-7; 11-13 enthaltenen 'Denkschrift Nehemias', um historisch verwertbares Material, das einen Einblick in die nachexilische Restauration einer Provinz Jehud erlaubt?" (S. 1). Die persische Herrschaft über Palästina erstreckte sich über mehr als 200 Jahre (539-332 v.Chr.). Die Bibel hat der Bedeutung dieser Epoche mit einer ganzen Reihe geschichtlicher (Esra und Nehemia), belehrender (Esther) und prophetischer Bücher (Haggai, Sacharja, Maleachi) Rechnung getragen. Esra und Nehemia werden im Allgemeinen mit kultischen und politischen Reformen im Gefolge der persischen Herrschaftsübernahme in Verbindung gebracht und in das 5. Jahrhundert, die Zeit des Perserkönigs Artaxerxes I. (465-424 v.Chr.), datiert. Die babylonische Herrschaft zuvor - mit der Zerstörung des Ersten Tempels 587 v.Chr. und der Deportation der "oberen Zehntausend" in das südliche Mesopotamien - war von Kyros beseitigt worden, und diese Veränderung schlug sich herrschaftspolitisch nieder. Kyros, nach Deutero-Jesaia (Jesaia 44, 28; 45,1-6) ein von Gott gesandter Retter, "Gesalbter", gestattete auch den Neubau des Tempels, der unter Dareios schließlich fertiggestellt wurde. Dies alles weist bereits auf eine Verbesserung der jüdischen Stellung im Perserreich hin, eine Entwicklung, in die sich die späteren Reformen unter Esra und Nehemia einzufügen scheinen.

Nun ist die "persische Zeit" des Judentums häufig diskutiert worden, und man ist heute in der Forschung weit von einer einheitlichen Meinung entfernt. Radikale Positionen etwa leugnen überhaupt jede Bedeutung der Perserzeit für die innerjüdische Entwicklung1, während auf der anderen Seite bereits Eduard Meyer das Judentum als "Product des Perserreichs" bezeichnet hatte.2 Deshalb hat jetzt Sebastian Grätz in einer umfassenden formalen, gattungskritischen und historischen Untersuchung das zentrale Artaxerxes-Edikt in Esr 7,12-26 einer erneuten, in ihrer Gründlichkeit einmaligen Überprüfung auf seine Authentizität unterzogen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen - er weist den Text einem hellenistischen, nicht achämenidischen Hintergrund zu. Diese Zuweisung habe gravierende Folgen für die Bewertung der achämenidischen Herrschaft über Jehuda, die gründlich revidiert werden müsse.

Der Weg zu dieser Erkenntnis führt über drei Etappen: Die erste Etappe (Kapitel 2: S. 5-62) behandelt "die literarische Entstehung des Esrabuches", insbesondere in seinem Verhältnis zu 3 Esr und dem chronistischen Geschichtswerk; die zweite (Kapitel 3: S. 63-214) und umfangreichste Etappe befasst sich sodann mit dem Brief des Artaxerxes Esr 7,12-26, der philologisch, literarkritisch, motivgeschichtlich und historisch unter die Lupe genommen wird. Der Brief enthält den Erlass des Perserkönigs an "den Priester Esra", mittels dessen der Tempel zu Jerusalem von Seiten des Königs ideell und finanziell gefördert wird und gleichzeitig verordnet wird, "das Gesetz deines Gottes und das Gesetz des Königs" einzuhalten. Grätz stellt Erlass und Brief in die Tradition hellenistischer Schenkungspraxis. Durch eine Fülle von Vergleichen mit inschriftlichem und literarischem Material aus hellenistischer Zeit und unter Einbeziehung der althistorischen Forschung auf diesem Gebiet 3 arbeitet Grätz minutiös heraus, wie sich das Formular des Briefes, die Abwicklung des Schenkungsgeschäftes und die Sanktionen exakt mit hellenistischer, aber eben nicht mit achämenidischer Praxis decken. Um dieses Ergebnis auch historisch zu untermauern, werden in der dritten Etappe (S. 215-283) die "Politik der Achämeniden in eroberten Gebieten" sowie einige der wichtigsten Quellen (z.B. der Kyroszylinder, die Elephantine-Korrespondenz, die Gadatas-Inschrift) untersucht. Dabei kommt Grätz zu dem Ergebnis, dass "eine direkte Einflußnahme seitens des persischen Herrschers auf die Kultpolitik in den unterworfenen Gebieten, wie sie in Esr 7,12ff. bezeugt wird, [...] mithin nicht typisch" (S. 264) sei; auf diesem Wege werde außerdem deutlich, dass dieses Zeugnis, der Artaxerxes-Brief, nichts anderes als eine "Spiegelung hellenistischer Vorgänge" darstelle. Esra müsse als "Geschichtsfiktion" gelesen werden (S. 279), denn Jehud war "wirtschaftlich und geographisch marginal" und blieb daher, anders als Ägypten, Babylonien, Phönikien und Westkleinasien teilautonom (S. 283).

Für die These von Grätz ist der hellenistische Begriff der Euergesie zentral, denn mit ihm versucht er, den Charakter des Briefes des Artaxerxes zu bestimmen und damit zugleich seinen achämenidischen Ursprung auszuhebeln. Das ist kaum zulässig, denn in dem Brief geht es eben nicht um Euergesie, sondern um Herrschaftspolitik, um die gegenseitige Ausgestaltung eines bilateralen Verhältnisses zwischen Jerusalem und dem Perserkönig. Es gibt natürlich infolge der Unterstützung durch Artaxerxes Berührungspunkte, doch verengt die Fixierung auf Euergesie den Blick für die darüber hinausgehende Dimension. Ich kann nicht auf alle Argumente eingehen, so dass ich an dieser Stelle die philologische Analyse auslassen muss (auch hier ließe sich im Einzelnen trefflich streiten). Vor allem ist Folgendes kein Argument: Wenn der Text, was natürlich möglich ist, hellenistischer Zeit entstammt bzw. hellenistische Umformung erfahren hat, sagt das noch nichts über die tatsächliche historische Dimension aus, also: dass hier auch fiktiv achämenidische mit hellenistischen Methoden kontaminiert wurden. So sind ja gewiss die Urkunden in den Büchern 14-16 der Antiquitates bei Josephus nicht Originale, doch weiß sich heute die Forschung darin einig, dass sie dennoch glaubwürdig sind (anders sieht dies allerdings Grätz, S. 164, Anm. 540).4

Die Gliederung der zentralen Urkunde (S. 103ff.) geht darauf aus, die Übereinstimmung mit dem hellenistischen Formular deutlich zu machen (immerhin wird der achämenidische "Transitionsmarker" vermerkt, S. 105). Die Untersuchung der Urkunde als "königliches Edikt" arbeitet mit Vergleichen aus unterschiedlichen Epochen: mit Zeugnissen der mittelassyrischen Zeit, dann aus Hatra mehr als 1.000 Jahre später, dann mit Dan 3,29, um schließlich festzustellen, dass in Esr 7,12-26 von zwei Gesetzen, dem Gottesgesetz und dem Königsgesetz (s. oben) die Rede ist; eine klare historische Analyse dieser Begriffe und ihres Zusammenhangs fehlen aber. Die Bestimmung "Das 'Gottesgesetz' als ganzes gehört zum Inhalt des Erlasses in V. 13ff. und wird dadurch durch das königliche Gesetz gewissermaßen 'umgeben'" (S. 111) bleibt unklar, wenn man wirklich von zwei verschiedenen Gesetzen ausgeht, wie es ja Grätz zu Recht tut. Beide Gesetze waren zu befolgen, so dass sich offenbar die jüdischen Interessen aufs Beste mit den politischen Interessen der persischen Herrschaft verbinden konnten. Ebenso dunkel bleiben bei Grätz die patrioi nomoi, die Antiochos III. zur Grundlage seiner Beziehungen zu den Juden machte. Dieser Begriff ist nicht hellenistisch, sondern ursprünglich klassisch-griechisch. Mit seiner Verwendung sicherte der seleukidische König die Juden vor hellenistischen Eingriffen. Auch hier ist die Diskussion bei Grätz oberflächlich (S. 162), und letzten Endes bleibt unklar, was denn nun eigentlich mit dem Begriff gemeint ist, erst recht in Beziehung auf das Dat des Artaxerxes-Erlasses, das ja der Ausgangspunkt der Überlegungen ist. Die Behauptung, dass sich die Politik Antiochos' III. nur im Rahmen der Interpretation von Josephus fassen lasse, müsste viel deutlicher begründet werden (S. 164).

Auf einzelne Punkte der Argumentation möchte ich kurz eingehen:

I. Schenkungen: Grätz stützt seine Interpretation, dass Esr 7,12-26 hellenistische, nicht achämenidische Vorgänge reflektiere, erstens darauf, dass der Brief formal und inhaltlich hellenistisch sei und zweitens, dass in den achämenidischen Inschriften überhaupt von Tempelbauten keine Rede sei (S. 94). Dies ist nicht richtig, und der Kyros-Zylinder ist nur ein Beispiel dafür. Auch für Kambyses und Dareios lassen sich in Babylon und Ägypten derartige achämenidische Aktivitäten nachweisen. Das räumt auch Grätz ein, verortet dies jedoch in die jeweiligen Königsideologien der betreffenden Gebiete und leugnet daraus achämenidische Praxis (S. 94, Anm.187). Dieses Vorgehen ist methodisch nicht zulässig, zumal Grätz die hinter der achämenidischen Aktivität stehende Systematik in den eroberten Gebieten verkennt. Natürlich kann es kein Gegenargument sein, dass es nach Herodot (1,131) und Strabon (15,3,13) keine Statuen und Tempel bei den Persern gegeben habe.

II. Elephantine: An der Südgrenze Ägyptens in einer Militärkolonie war eine Diaspora-Gemeinde beheimatet, die uns durch Papyrus-Funde für die Zeit von 495 bis 398 v.Chr. greifbar ist. Diese Gemeinde geriet gegen Ende des 5. Jahrhunderts in eine Auseinandersetzung mit den ägyptischen Priestern des Chnum, für die die jüdischen Widderopfer ein Greuel waren. Die Papyri belegen, wie sich die ansässigen Juden Hilfe von Jerusalem und dem Perserkönig erhofften und schließlich auch erhielten. Das eigentlich Wesentliche des Verfahrens ist, dass die Beziehungen zwischen Jerusalem und der persischen Herrschaftszentrale zur Regelung einer strittigen Angelegenheit in einer entfernten Region genutzt werden und also gerade auf das durch Esra 7 angesprochene gute Verhältnis Bezug genommen wird. Die Analyse von Graetz übersieht diesen Zusammenhang und hat Sekundäres im Blick; sie findet lediglich heraus, dass "die zentrale Rolle des Königs als Legislator und Restaurator in religiösen Dingen in Esr 7,12-26 [...] sich in den Elephantinepapyri nicht wiederfinden" lässt (S. 251).

III. Kyroszylinder: Hier lassen sich gerade Übereinstimmungen mit Esr 7 finden. Kyros zog 539 in Babylon ein und wurde, vergleichbar mit der ihm entgegengebrachten Verehrung unter den Juden, als ein von Marduk selbst erwählter Befreier und Retter gefeiert. Die Inschrift verurteilt den Vorgänger Nabonid und stilisiert Kyros zum Euergetes von Tempeln - gerade wie der achämenidische Herrscher in Esra. Nun vermutet Graetz in diesem Text ebenso wesentliche Motive neubabylonischer Königsideologie wie in der Fürbitte für ein langes Leben des Königs, die sich sowohl im Kyroszylinder wie in Esr 6,10 findet; überzeugend ist das nicht. Deutlich wird in diesem Dokument die Flexibilität der achämenidischen Verwaltung eroberter Regionen.

Das Buch vertritt mit dem hellenistischen Hintergrund des Artaxerxes-Briefes Esra 7 eine klare These, begründet diese aber nicht in allen Punkt überzeugend; vielmehr werden im historischen Teil Belege aus Versatzstücken verschiedener Epochen zusammengestellt, zudem suggestiv Kriterien angeboten, welche die enge Übereinstimmung von hellenistischer und chronistischer Verfahrenstechnik beweisen sollen, um achämenidische Provenienz auszuschließen. Damit wäre Esra von der Entstehungszeit her eingeordnet, aber die historische Dimension - besser: ihre Entstellung - letzten Endes zum Handlanger dieses Verfahrens gemacht.

Anmerkungen:
1 Lebram, J. C. H., Die Traditionsgeschichte der Esragestalt und die Frage nach dem historischen Esra, in: Sancisi-Weerdenburg, H.; Kuhrt, A. (Hgg.), Achaemenid History, Bd 1: Sources, Structures and Synthesis, Leiden 1987, S. 103-138; vgl. Grabbe, L. I., Reconstructing History from the Book of Ezra, in: Davies, P. R. (Hg.), Second Temple Studies, I: Persian Period, Seffield 1991, S. 98-106.
2 Meyer, E., Die Entstehung des Judentums. Eine historische Untersuchung, Anhang: Julius Wellhausen und meine Schrift Die Entstehung des Judentums, Hildesheim 1965 (Nachdruck der Ausgaben von 1896/97), S. 71.
3 Bringmann, K.; Seuben, H. von (Hgg.), Schenkungen hellenistischer Herrscher an griechische Städte und Heiligtümer, Teil II: Historische und archäologische Auswertung, 1: K. Bringmann, Geben und Nehmen. Monarchische Wohltätigkeit und Selbstdarstellung im Zeitalter des Hellenismus. Mit einem numismatischen Beitrag von H.-C. Noeske, Berlin 2000; 2: B. Schmidt-Dounas, Geschenke erhalten die Freundschaft. Politik und Selbstdarstellung im Spiegel der Monumente, Berlin 2000.
4 Vgl. letzte große Untersuchung von Pucci Ben-Zeev, M., Jewish Rights in the roman World: The Greek and Roman Documents Quoted by Josephus Flavius, Tübingen 1998.

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