H. Schneble: Heillos, heilig, heilbar

Titel
Heillos, heilig, heilbar. Die Geschichte der Epilepsie von den Anfängen bis heute


Autor(en)
Schneble, Hansjörg
Erschienen
Berlin 2003: de Gruyter
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torger Möller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

„Heillos, heilig, heilbar“ diese drei Worte sind der Titel eines Ende letzten Jahres erschienenen Buches, in dem auf knapp 190 Seiten nebst Anhängen, Register und Literaturverzeichnis die Geschichte der Epilepsie vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis zur Jetztzeit dargestellt wird. Der Autor, Hansjörg Schneble, langjähriger ärztlicher Direktor des Epilepsiezentrums Kork, beschäftigt sich neben seiner medizinischen Tätigkeit schon seit Jahrzehnten mit historischen Fragen der Epilepsie. Im Jahr 1998 gründete er in Kork das einzige Epilepsiemuseum der Welt, das 2001 für seinen Internetauftritt inklusive eines mehrsprachigen virtuellen Rundgangs mit dem amerikanischen Word Wide Web Health Award ausgezeichnet wurde. Für seine Arbeit „Krankheit der ungezählten Namen“ erhielt er 1985 den Friedrich-von-Bodelschwingh-Preis.1 Das damalige Buch, in dem 800 Synonyme zur Epilepsie verzeichnet sind, war – wie im Untertitel zu lesen – bereits ein Beitrag zur Sozial-, Kultur- und Medizingeschichte der Epilepsie vom Altertum bis zur Gegenwart. Insofern erinnert die neue Veröffentlichung von der Thematik, vom Zeitraum und auch vom Seitenumfang an die mittlerweile 20 Jahre zurückliegende Arbeit. Die nun vorliegende Publikation ist jedoch, obwohl sich auch textidentische Passagen in beiden Büchern finden, aufgrund neuer und neu konzipierter Kapitel mehr als nur eine Wiederauflage der früheren Arbeit. Die Veröffentlichung richtet sich dabei neben Ärzten und Medizinhistorikern auch explizit an ein medizin- und kulturgeschichtlich interessiertes Laienpublikum.

Die Gliederung ist übersichtlich und klar strukturiert. Die einzelnen Kapitel handeln von den ersten Zeugnissen (zum Beispiel aus Ägypten und Babylonien), der griechischen, römischen, byzantinischen und persisch-arabischen Medizin über das christliche Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. In den jeweiligen Kapiteln finden sich neben den spezifischen Sichtweisen auf die Epilepsie, ihren (vermuteten) Ursachen und Behandlungsformen auch aufschlussreiche Epilepsiebezeichnungen, wie zum Beispiel göttliche oder dämonische Krankheit, Valentins- oder Mottenkrankheit. Den elf zeitlich-räumlichen Kapiteln folgen noch zwei Anhänge: Der eine handelt von prominenten Epilepsiekranken (zum Beispiel Caesar, Napoleon, Dostojewskij, van Gogh), der andere von der Darstellung der Epilepsie in der Kunst. Am Ende des Buches sind sieben Farbdrucke moderner und historischer Kunstwerke zur Epilepsie abgedruckt.

Wer wie Schneble den Versuch unternimmt, die Geschichte der Epilepsie der letzten 5000 Jahre auf knapp 140 Seiten (ohne Anhänge) zusammenzufassen, dem mag man nur ungern vorhalten, was er vergaß: Dass Zusammenfassungen Lücken enthalten, ergibt sich von selbst. Insofern muss Schneble zunächst einmal bescheinigt werden, dass es ihm in beeindruckender Weise gelungen ist, auf engem Raum ein in zeitlich-räumlicher Hinsicht umfangreiches und divergentes Material noch dazu in leicht verständlicher Form zu präsentieren. Darüber hinaus wird insbesondere in dem Teil über die prominenten Epilepsiekranken deutlich, dass Schneble mit seiner Geschichte der Epilepsie auch einen praktischen Beitrag zur Verbesserung der heutigen sozialen Lage von Menschen mit Epilepsie leisten möchte. Anhand der berühmten Anfallskranken lässt sich – so Schneble – gut zeigen, dass Epilepsie nicht „zu einer Minderung der geistigen Fähigkeiten führen muss“, sondern dass das epileptische Geschehen auch mit „hoher und höchster Intelligenz“ vereinbar ist (S. 157f.).

Schnebles Geschichte der Epilepsie liegt ein für einen an historischen Fragen interessierten Mediziner nicht untypisches Erkenntnisinteresse zugrunde. Ausgehend von dem aktuellen medizin-wissenschaftlichen Wissen wird in die Geschichte zurückgeblickt um dort nach den Wurzeln dieses heutigen Wissens zu fahnden: Wann wurde erstmals die Ursache der epileptischen Anfälle im Gehirn verortet? Wer hat die Epilepsie-Begriffe Aura, Absence und Grand Mal geprägt? Auf diese und andere Fragen gibt Schneble zuverlässige Antworten. Seine Darstellung orientiert sich dabei am Höhenkamm einer Medizingeschichte, die sich als Fortschritts- und Erfolgsgeschichte präsentiert. Auch wenn es zweifelsohne Erfolge und Fortschritte gegeben hat, so sind an einigen Stellen Schnebles Deutungen und Interpretationen allzu gewagt oder lassen andere wichtige Aspekte der Epilepsiegeschichte in den Hintergrund treten. Zwei Beispiele: Hippokrates wird zu einem „Aufklärer“ (S. 22), der schon vor zweieinhalbtausend Jahren den „zerebralen“ (S. 23) Ursprung der Epilepsie erkannte. Die Einführung der Bromsalze in die Epilepsiebehandlung ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird als „Durchbruch“ und „Siegeszug“ des „ersten objektiv wirksamen“ Medikaments beschrieben (S. 104). Gegen diese beiden im Kontext des Buches beispielhaften Deutungen der Epilepsiegeschichte als rationale Fortschrittsgeschichte, lassen sich Einwände formulieren, die auch Schneble nicht unbekannt sein dürften. So sah zwar Hippokrates die Ursache der Epilepsie im Gehirn, machte jedoch einen Überfluss an kaltem Schleim, der in das warme Blut der Adern floss, für den epileptischen Anfall verantwortlich.2 Diese auf der antiken Säftelehre beruhende Konzeption hat natürlich wenig mit dem zu tun, was wir heute unter einem auf neuronaler Aktivität beruhendem „zerebralen“ Anfallsleiden verstehen. Ebenfalls kann die Brombehandlung insbesondere im 19. Jahrhundert, die durch hohe toxische Dosen mit erheblichen Nebenwirkungen gekennzeichnet war, nicht als Durchbruch oder Siegeszug bezeichnet werden. So vertrat schon der zeitgenössische Mediziner Peterson Anfang des 20. Jahrhunderts die Meinung, dass es für das Wohlergehen der Epilepsiekranken besser gewesen wäre, wenn man Brom nie entdeckt hätte.3 Da Schneble die problematischen Folgen der Brombehandlung im 19. Jahrhundert kennt 4 stellt sich die Frage, warum er hier die Geschichte der Epilepsie zu Gunsten einer medizinischen Fortschritts- und Erfolgsgeschichte glättet. Spätestens im Dritten Reich, in dem Mediziner an der Zwangssterilisation und Ermordung Epilepsiekranker maßgeblich beteiligt waren, stößt diese Art der Geschichtsschreibung an ihre Grenzen. Statt nun die historischen Wurzeln dieser „anderen“ Geschichte der Medizin zu benennen, greift Schneble auf die psychologisierende Erklärung der „rassenhygienischen Verblendung der Ärzte“ (S. 136) im Nationalsozialismus zurück.

In der Zitierweise offenbart sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wissenschaftskulturen ein methodisches Manko. Leider gibt der Neurologe Schneble – wie in medizinischen Fachpublikationen nicht unüblich – nur den allgemeinen Literaturverweis ohne Seitenzahlen an. Für eine historisch-wissenschaftliche Arbeit, wie auch für jede andere wissenschaftliche Disziplin, deren Gegenstände Texte sind, entspricht diese Zitierweise jedoch nicht dem wissenschaftlichen Standard.

Fazit: Wer einen Überblick über die Geschichte der Epilepsie inklusive Informationen über einige prominente Epilepsiekranke erhalten möchte, dem kann – trotz der obigen Kritik – Schnebles Buch „Heillos, heilig, heilbar“ empfohlen werden. Durch seine übersichtliche Gliederung und Strukturierung eignet es sich auch zum Nachschlagen beziehungsweise kursorischen Lesen. Wer sich jedoch eingehender mit dem Thema auseinandersetzen möchte, der kommt nach wie vor nicht um das Standardwerk zur Geschichte der Epilepsie von Owsei Temkin herum.5 Das im Jahre 1945 erstmals publizierte Buch erschien in einer zweiten und dritten Auflage 1971 beziehungsweise 1994. Temkins Werk endet jedoch mit dem bekannten englischen Neurologen John Hughlings Jackson Ende des 19. Jahrhunderts. Eine neuere Arbeit zur angloamerikanischen Epilepsiegeschichte von 1865 bis 1914 ist vor wenigen Jahren von Walter J. Friedlander erschienen und schlägt die Brücke ins 20. Jahrhundert.6 Sowohl in den USA als auch Deutschland sind zudem weitere Arbeiten zur neueren Epilepsiegeschichte des 20. Jahrhunderts in Arbeit.

Anmerkungen:
1 Schneble, Hansjörg, Krankheit der ungezählten Namen. Ein Beitrag zur Sozial-, Kultur- und Medizingeschichte der Epilepsie anhand ihrer Benennungen vom Altertum bis zur Gegenwart, Bern 1987; http://www.epilepsiemuseum.de.
2 Hippokrates, Von der Heiligen Krankheit, in: Hippokrates Schriften, übersetzt und herausgegeben von Hans Diller, Reinbek 1962, S. 134-149, hier S. 141.
3 Peterson, Frederick, The bromides in epilepsy, in: American Medicine 9 (1905), S. 1019.
4 Schneble, Hansjörg, Antiepileptische Bromtherapie einst und jetzt, in: Nervenarzt 64 (1993), S. 730-735, hier S. 730.
5 Temkin, Owsei, The Falling Sickness. A History of Epilepsy from the Greeks to the Beginnings of Modern Neurology, Baltimore 1994.
6 Friedlander, Walter J., The History of Modern Epilepsy. The Beginning, 1865-1914, Westport 2001.

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