M. Holz: Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene

Cover
Titel
Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene auf der Insel Rügen 1943-1961.


Autor(en)
Holz, Martin
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V 39
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XIII, 677 S., 15 Diagr.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Raillard, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

In der DDR aus ideologischen Gründen vernachlässigt, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Aufnahme und Eingliederung von Vertriebenen - im verordneten amtlichen Sprachgebrauch „Umsiedler“ genannt - in der SBZ/DDR seit 1990 im Begriff ihren Rückstand auf die westdeutsche Forschung aufzuholen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu politik- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen auf Zentral- und Landesebene sind seither erschienen. 1 Mit der Arbeit von Martin Holz, die 2001 unter dem Titel „Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene auf der Insel Rügen 1943-1961. Ihre Aufnahme und Bestrebungen zur Eingliederung in die Gesellschaft“ an der Universität Greifswald als Dissertation angenommen wurde, liegt nun eine umfangreiche auf kommunaler Ebene angesiedelte Studie zur Situation der Vertriebenen in der SBZ/DDR vor. Holz’ Ziel ist es, die Sichtweise der Zonen- und Länderebene „angesichts der Verhältnisse auf Kreis- und Ortsebene zu hinterfragen […], stand das Vertriebenenproblem hier doch direkt vor den Amtsstuben rudimentär aufgebauter Verwaltungen“ (S. 20). Als Untersuchungsraum wählt er die Insel Rügen; ihre unmittelbare Umgebung – etwa die Stadt Stralsund – und die Verhältnisse im Land Mecklenburg-Vorpommern werden ergänzend bzw. vergleichend herangezogen.

Anders als die meisten Veröffentlichungen zum Thema setzt Holz’ Untersuchung nicht erst im Jahre 1945 ein. Er sieht gerade „das weitgehende Ausblenden der Verhältnisse im Zweiten Weltkrieg“ als einen „Mangel bisheriger Arbeiten“ an (S. 23). Für ihn stellt die Kriegswende 1943 eine entscheidende Zäsur dar. Der verstärkte alliierte Luftkrieg machte umfangreiche Umquartierungen und Evakuierungen erforderlich. In seiner Arbeit „sollen diese kriegsbedingten Evakuierungen ausführlicher dargestellt werden, zumal der Zeitpunkt der Flucht bzw. Evakuierung entscheidenden Einfluss auf die vorgefundenen Aufnahmebedingungen hatte“ (S. 24).

Es ist selbstverständlich, dass eine Untersuchung zur Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen nicht erst mit den nach Kriegsende einsetzenden Vertreibungen beginnt, sondern die Aufnahme der seit Herbst 1944 vor der heranrückenden Roten Armee flüchtenden Bevölkerung mit einbezieht, auch wenn diese Flucht in den Augen der Betroffenen zunächst nur Übergangcharakter hatte. Ob hingegen die - ohne Zweifel interessante - Darstellung nur kurzfristiger Einquartierungen etwa im Rahmen der Kinderlandverschickung oder die auf wenige Wochen beschränkte Aufnahme Sudentendeutscher im Herbst 1938 erkenntnisfördernd im Sinne einer Fragestellung ist, die vorrangig auf den Eingliederungsprozess zielt und damit einen langfristigen Aufenthalt voraussetzt, ist fraglich.

Holz konzentriert sich materialbedingt darauf, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Aufnahme und Integration der Vertriebenen aufzuzeigen und betont, dass Aussagen über das tatsächliche Einleben oder gar eine Assimilation an die Aufnahmegesellschaft nicht getroffen werden können. Nach objektiven Kriterien zu beurteilen sind dagegen die Basisintegrationsstufen Wohnen und Arbeiten, deren Untersuchung sich Holz in mehreren Kapiteln zuwendet. Hier arbeitet er einige für die Insel Rügen markante Besonderheiten heraus.

So erweist sich in Fragen der Unterbringung die Praxis der Belegung von Hotel- und Pensionsbetrieben mit Vertriebenen als Spezifikum der durch den Fremdenverkehr geprägten Teile Rügens. Am Beispiel des Seebades Binz schildert Holz anschaulich die daraus resultierenden Interessenkonflikte zwischen Einheimischen und Vertriebenen und die Ansprüche der Besatzungsmacht und der staatlichen Organe. Dabei zeigt er den erzwungenen Wandel einer ehemals durch private Hotel- und Pensionsbetriebe und nun durch die Feriendienste staatlicher Organe und Betriebe dominierten Ferienregion.

Bei der Untersuchung der Aufnahme im ländlichen Gebiet steht unter anderem die Bodenreform als eine Maßnahme zur Versorgung der Vertriebenen im Mittelpunkt. Neben Landarbeitern und Kleinbauern wurden vor allem Vertriebene mit so genannten Neubauernstellen versorgt, in Mecklenburg-Vorpommern erhielten sie 42,5 Prozent des aufgeteilten Landes. Die bekannte Beobachtung, dass viele der Umsiedlerneubauern ihr Land aufgrund mangelhafter Ausstattung und Ertragsarmut zurückgaben, macht Holz auch für Rügen.

Regionale Besonderheiten Rügens werden wiederum im Kapitel zur wirtschaftlichen Situation der Vertriebenen deutlich. Während die Beschäftigungsmöglichkeiten auf Rügen bis 1948 im Allgemeinen als nicht günstig einzustufen sind, versprach die Küstenfischerei nach dem Krieg für entsprechend qualifizierte und mit eigenem Kutter ausgestattete Vertriebene einen guten Verdienst. Große Bedeutung als Arbeitgeber erlangten dann vor allem die ab 1948/49 im Zuge des verstärkten industriellen Aufbaus neugegründeten Großbetriebe wie der Fischerei- und Fischverarbeitungsbetrieb VEB Saßnitz und die Volkswerft Stralsund.

Ein weiteres, leider recht knappes Kapitel widmet Holz der wirtschaftlichen und sozialen Unterstützung für die Vertriebenen, die vor Ort insbesondere durch Umsiedlerausschüsse und die Volkssolidarität geleistet wurde. Seine Darstellung schließt mit der Auflösung der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) im Juni 1948 und der daraus resultierenden Zwangsauflösung der Umsiedlerausschüsse auf Kreis- und Ortsebene. Michael Schwartz hat indes gezeigt, dass die „Umsiedlerpolitik“ nicht mit der Liquidation der Sonderverwaltungen endete, sondern vielmehr in eine neue Phase trat und bis Mitte der 1950er-Jahre weiterlief. 2 Auf kommunaler Ebene fungierten in der Folgezeit insbesondere die Wohnungsausschüsse und Sozialkommissionen als interessenpolitische Ersatz-Institutionen. Ob die Überlieferungen dieser Ressorts weitere Erkenntnisse zur Situation der Vertriebenen auf Rügen bis in die 1950er-Jahre hinein bringen, wäre zu prüfen. Insgesamt wäre ein systematisch aufgebautes Kapitel zu Verwaltungsaufbau und administrativen Maßnahmen wünschenswert gewesen.

Breiten Raum nimmt die Frage der Betreuung der Vertriebenen von kirchlicher Seite ein. Holz, der auch Evangelische Theologie studiert hat und nun als Pfarrer auf Rügen tätig ist, hat zu diesem Zweck zahlreiche kirchliche Archivalien gesichtet. Das ist umso erfreulicher, als diesem Aspekt in bisherigen Veröffentlichungen nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hier ist die Frage zu stellen, inwieweit Kirche nicht nur eine karitative und seelsorgerische, sondern eine gesamtgesellschaftliche, politische Funktion erfüllte.

Die Arbeit beeindruckt durch die Fülle des ausgewerteten Materials und die daraus resultierende Detailkenntnis. Dies birgt jedoch das Risiko, sich in Einzelheiten zu verlieren oder auf einer rein darstellenden Ebene zu verharren. Ein stärker systematischer Zugriff hätte es ermöglicht, die gewonnenen Erkenntnisse besser in einen übergeordneten Kontext einzuordnen. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die kenntnisreiche Veröffentlichung Martin Holz’ einen wichtigen Beitrag zur zeithistorischen Forschung zur Region Mecklenburg-Vorpommern darstellt und auch der Flüchtlings- und Vertriebenenforschung auf dem Gebiet der SBZ/DDR interessante Anstöße geben kann.

Anmerkungen:
1 Zuletzt erschien das voluminöse Werk von Schwartz, Michael, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 61), München 2004.
2 Vgl. Schwartz (wie Anm. 1), S. 1124f.

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