A. M. Burton (Hg.): After the Imperial Turn

Titel
After the Imperial Turn. Thinking with and through the Nation


Herausgeber
Burton, Antoinette M.
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$ 23,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Osterhammel, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Konstanz

„Turns“ sind gut fürs Geschäft, sie halten den Laden in Schwung. Der Vorteil ist immer bei jenen, die sich die Wendehegemonie sichern, die es also schaffen, anderen die Spitzkehren vorzuschreiben. Schlimmer ergeht es dem gehetzten Fußvolk. Kaum hat es die letzte Serpentine schnaufend gemeistert, da droht schon die nächste Kurve. Wer den Titel dieses Buches liest, wird vielleicht erschrocken feststellen, dass sie oder er den „imperial turn“ noch gar nicht so recht wahrgenommen, geschweige denn hinter sich gebracht hat. Und nun geht es schon in die nächste Seitenlage!

Amerikanische Verlage produzieren ungern Sammelbände. Wenn es dennoch geschieht, dann muss etwas Besonderes geboten werden, also etwa eine, wie man heute so sagt, scharf fokussierte Sammlung von Beiträgen, die den Leser am Ende mit dem Gefühl entlässt, man habe zu einem bestimmten Thema Wichtiges dazugelernt. Der Untertitel des Buches verspricht Überlegungen dazu, was mit der Kategorie der „Nation“ historiografisch angesichts der Herausforderungen durch „postkoloniale Studien“ noch anzufangen sei. Eine prominente Vertreterin dieser Richtung begeistert sich auf dem Rückencover: „This is an essential read for aspiring young historians.“ Im gleichen Werbetext wird der Band wegen der Breite von „range“ empfohlen, was nun bekanntlich das Gegenteil von „Fokus“ ist. Man ist gespannt.

Die Einleitung bleibe zurückgestellt. Sie ist lang, anspruchsvoll, apodiktisch: ein Register von Thesen und Aufträgen, an dem einige der folgenden Kapitel scheitern müssen. Es gibt Einleitungen, die erdrücken. Deshalb zu dieser erst später. Es folgen zwanzig Beiträge, von denen jeder Einzelne rein rechnerisch nicht sehr lang sein kann. Das Durchschnittsformat ist nicht der ausgearbeitete Aufsatz, sondern das erweiterte Thesenpapier, meist ausgiebig und gründlich mit Literaturhinweisen in den Anmerkungen ausgestattet. Zwischen den immer wiederkehrenden GroßmeisterInnen – vor allem Spivak, Said, Gilroy, Bhabha und Benedict Anderson schweben inspirierend über diesem Band (erstaunlich wenig Foucault, kein Geertz, kein Bourdieu) – findet man viele Hinweise auf Spezielles in dem weiten postkolonialen Feld.

Löst man die Beiträge aus ihrer etwas willkürlichen Verankerung im Band, dann lassen sie sich in drei Gruppen einteilen. Einige sind programmatischer und dabei meist auch polemischer Natur, darunter eine Anzahl ausgesprochener Insider-Texte. Wer mit den Richtungskämpfen unter britischen Empire-Historikern, dem Stellenangebot auf dem amerikanischen Markt für frisch promovierte Postkolonialistinnen oder den Schwierigkeiten, an US-Colleges Globales und Postkoloniales zu unterrichten, im praktischen Leben wenig zu tun hat, wird aus diesen Selbstvergewisserungstexten nicht viel Nektar saugen können. Von Nationalgeschichte und ihrer Überwindung ist in diesen Kapiteln zumeist nur sehr unspezifisch die Rede; allenfalls hängt ein dräuender Verdacht über einem solch vorzeitlichem Diskurs. Mit einer gewissen Erleichterung vernimmt man den Schreckensruf, den die australische Historikerin Ann Curthoys schon im Titel ihres Aufsatzes ausstößt: „We’ve Just Started Making National Histories, and You Want us to Stop Already?“ In die Geringschätzung des Nationalen und die Abwertung des Nationalstaates als angemessener Einheit historischer Analyse hinein macht Curthoys darauf aufmerksam, dass selbst in einer lebendigen Wissenschaftsnation wie Australien erst innerhalb der letzten 15 bis 20 Jahre so etwas wie ein Aufbruch zu einer von den gröbsten ideologischen Verblendungen befreiten Nationalgeschichte begonnen habe. Als einsame Ruferin gegen den Chor eines anti-nationalen Konformismus plädiert sie dafür, der Nationalgeschichte noch eine Chance zu lassen, bevor sie völlig der historiografiegeschichtlichen Entsorgung anheim fällt. Wenn es in Australien schon so ist, wie dann erst in vielen anderen Ländern der Welt, die sich gerade erst aus Mythen, Tabus und Propaganda herauszuarbeiten versuchen?

Eine zweite Klasse von Aufsätzen könnte man als Forschungsberichte bezeichnen, wären sie nicht allesamt arg kurz und hastig ausgefallen und hätten sie sich etwas mehr Gelassenheit und Sachlichkeit bei der Darlegung von Positionen erlaubt, mit denen man als meinungsfreudiger Autor selbst nicht unbedingt übereinstimmt. Da gibt es ein Kapitel über die neuere Literatur zur französischen Kolonialgeschichte, das seltsamerweise die französischsprachige Forschung überhaupt nicht berücksichtigt, eines zur spanischen und ein sehr verschroben-selbstreferentielles zur amerikanischen Kolonialgeschichtsschreibung. Lora Wildenthal wundert sich in ihrem nur wenige Seiten langen Text zur deutschen Kolonialismusforschung darüber, dass man über eine „stubbornly white German identity“ nicht hinaus finde; eine wirklich substanzielle Aussage ist das nicht. In all diesen Fällen (und auch bei einem Text über „global discourses“ unter Amerikanern asiatischer Herkunft) hätte man sich etwas weniger avantgardistische Aufgeregtheit und mehr Nähe zur Sache gewünscht.

Die dritte Gruppe von Kapiteln machen Fallstudien aus - auch sie häufig so kurz, dass nach den rituellen Übungen in vollmundiger Programmrhetorik zur Darlegung der spezifischen Fälle wenig Platz bleibt. Es ist ein allgemeiner Mangel dieser Aufsätze, dass die Vermittlung zwischen Spezialfall und ehrgeizigem theoretischem Rahmen schwerfällt. Und wenn, wie in zwei Beiträgen (über den transatlantischen Charakter der Modeindustrie um 1900 und über die Geschichte der Polizei in Hongkong) auf den Rahmen nahezu ganz verzichtet wird, dann passen die Texte nicht so recht in diese Art von kämpferischem Wende-Buch. Jede Leserin und jeder Leser werden hier eigene Präferenzen entwickeln. Dieser Rezensent war am ehesten überzeugt von Lara Kriegels Untersuchung über die Darstellung imperialer Arbeit in britischen Printmedien zur Zeit der Weltausstellung von 1851, von Ian Christopher Fletchers Untersuchung der „colonial analogy“, die von einigen Autoren um 1900 zwischen Irland und dem asiatisch-afrikanischen Empire gezogen wurde, sowie von Douglas N. Haynes’ Analyse des britischen Bildungsfernsehens der 1960er und 1970er-Jahre, in denen (so richtig verwunderlich ist dies freilich nicht) „Zivilisation“ mit weißer Hautfarbe, hellenischem Marmor, usw. konnotiert wurde: Black Athena hatte sich damals noch nicht herumgesprochen. Insgesamt ein ziemlich unausgewogenes Durcheinander, manches oberflächlich gemacht, manches schmerzhaft epigonal, manches zu speziell, um grandiose Thesen zu tragen. Das Durchschnittsniveau der Beiträge liegt unter dem, was man von der Spitzenproduktion der „postcolonial studies“ inzwischen gewöhnt ist.

Bleibt die Einleitung von Antoinette Burton, Professorin für Geschichte an der University of Illinois und vor allem bekannt als Autorin des zurecht einflussreichen Buches „At the Heart of Empire: Indians and the Colonial Encounter in Late Victorian Britain“ (1998). Eingangs wird die „new imperial history“, die der Band verteidigen will, kurz definiert. Sie beruhe auf der Annahme von „[a] constitutive impact of modern European imperialism on metropolitan politics and society“ (S. 1, eine bessere Definition später bei Lara Kriegel auf S. 231). „Imperial turn“ bedeute dann die verstärkte Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft für einen solchen „impact“ und die Konsequenz, dass Nationalgeschichte nicht mehr so geschrieben werden kann wie zuvor. Diese Umorientierung sei das Ergebnis eines langsamen Befreiungskampfes von Nicht-Weißen und Frauen. Er habe über die Verbreitung des Postkolonialismus zu einer „Demokratisierung“ der nordamerikanischen Universitäten geführt.

Antoinette Burton scheint diese Errungenschaft für ziemlich fragil zu halten, denn sie wirft sich gleich in eine Abwehrschlacht gegen Vertreter einer „alten“ Kolonialgeschichte (genannt werden P.J. Marshall, David Cannadine und John MacKenzie), die nicht nur die metropolitane Nation und ihr koloniales Imperium als Sphären wissenschaftlicher Untersuchung separiert halten wollten, sondern auf diese Weise auch alle möglichen unerfreulichen politischen Zustände konservierten. Diese Polemik gegen „imperial apologists“ (in deren infame Nähe auch ein kritischer Rezensent fast unausweichlich gerät) verdeckt, was Burton zur Sache sagen will. Da zudem noch ein Seitengefecht gegen einen „binär“ denkenden Postmodernismus (hier in Gestalt von Anne McClintock, Verfasserin von „Imperial Leather“) geführt werden muss, wird die Lage arg unübersichtlich. Man sucht im Pulverdampf lange nach einer Frage, die den Band „fokussieren“ könnte. Die klarste Formulierung ist diese: „What is left to work with if the nation’s role is diminished as a result of the imperial turn?“ (S. 13) Die imperiale Wende wird als nicht länger begründungspflichtige Naturtatsache betrachtet. Was sonst noch gegen Nationalgeschichtsschreibung sprechen könnte außer, dass sie reaktionär ist, bleibt leider ungesagt. Da der Rest des Bandes darauf auch keine explizit begründeten Antworten gibt, ist er weniger ein Beitrag zu einer offen geführten Debatte als ein Dokument der Autosuggestion. Er verspricht den „aspiring young historians“ mehr, als er halten kann.

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