A. Nützenadel u.a. (Hgg.): Zeitgeschichte als Problem

Cover
Titel
Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa


Herausgeber
Nützenadel, Alexander; Schieder, Wolfgang
Reihe
Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 20
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gehler, Institut für Zeitgeschichte, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Zeitgeschichte ist „in“. Allein auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen mehr zeitgeschichtliche Publikationen als zu den anderen Fachbereichen der Geschichtswissenschaften zusammen. Doch was genau ist unter „Zeitgeschichte“ zu verstehen? Zutreffend sagen Nützenadel und Schieder, dass es „noch keinen allgemein anerkannten Konsens über die epochale Abgrenzung, thematisches Profil und methodische Grundlagen der Zeitgeschichte“ gibt (S. 8). Es ist dabei sehr zweifelhaft, ob es einen solchen Konsens jemals geben wird. Zur Klärung dieser Frage trägt die Publikation jedenfalls kaum bei; eher bestätigt sie den Eindruck von der Unmöglichkeit einer exakten Definition von „Zeitgeschichte“.

Nützenadels und Schieders Band leistet dennoch eine Menge: Es werden die unterschiedlichen zeithistorischen Traditionen in diversen europäischen Staaten und die sich daraus ergebenden Forschungsperspektiven aufgezeigt. Wie sich Zeitgeschichte als „Epochenbegriff“, als wissenschaftliches Konzept und als historische Teildisziplin entwickelt hat, wird relativ stringent untersucht. Die weder widerspruchsfreie noch gänzlich befriedigende Einleitung bietet aber nur ein knappes Referat der einzelnen Aufsätze und der bekannten Probleme der Zeitgeschichte als Gegenstand – insofern wirkt der Titel des Bandes auch tautologisch, denn Zeitgeschichte trägt kaum zu ihrer Problemlösung bei, sie ist selbst Teil des Problems.

Dass die einzelnen Beiträge kaum systematisch-komparativ ausgewertet und im Sinne einer analytischen Synthese weitergeführt wurden, mag mit der Entstehungsgeschichte des Werkes zusammenhängen. Es basiert auf einem Kolloquium, welches im Juli 2000 an der Universität Köln stattgefunden hat, an dem Historiker teilnahmen, die mit folgenden Themenstellungen nun in dieser Publikation aufscheinen: Christof Dipper („Die Geburt der Zeitgeschichte aus dem Geist der Krise. Das Beispiel Schweiz“), Martin H. Geyer („Im Schatten der NS-Zeit. Zeitgeschichte als Paradigma einer [bundes]republikanischen Geschichtswissenschaft“), Rainer Hudemann („Histoire du Temps présent in Frankreich. Zwischen nationalen Problemstellungen und internationaler Öffnung“), Lutz Klinkhammer („Novecento statt Storia contemporana? Überlegungen zur italienischen Zeitgeschichte“), Detlev Mares („Too Many Nazis? Zeitgeschichte in Großbritannien“) und Christoph Strupp („‚Nieuwste geschiedenis’, ‚Contemporaine geschiedenis’ oder ‚Historia hodierna’? Zeitgeschichte in der niederländischen Geschichtswissenschaft“). Für den Sammelband erschien es notwendig, das Themenspektrum zu erweitern: Hinzugenommen wurden Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann („Zwischen Geschichte und Erinnerung. Zum Umgang mit der Zeitgeschichte in Spanien“), Ernst Hanisch („Die Dominanz des Staates. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft“), Árpád v. Klimó („Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts“), Stefan Plaggenborg („Sowjetische Geschichte in der Zeitgeschichte Europas“), Martin Schulze Wessel („Zeitgeschichtsschreibung in Tschechien. Institutionen, Methoden, Debatten“) und Rafał Stobiecki („Die Zeitgeschichte in der Republik Polen seit 1989/90“). Martin Sabrow stieß mit dem Aufsatz „Die DDR-Geschichtswissenschaft und ihre Zeithistorie“ dazu.

Von den 16 Beiträgern handelt es sich allein um 13 Historiker aus Deutschland, die über andere europäische Länder schreiben. Einleitend wird bemerkt, dass es durchaus intendiert sei, Fragen in den Vordergrund zu stellen, „die von einer deutschen Perspektive geprägt sind“ (S. 13). Abgesehen davon, dass das sehr deutschlastige Auswahlverfahren der Aufsätze problematisch erscheint, wird nicht klar gesagt, was genau Fragen sind, die von „deutschen Perspektiven“ aus charakteristisch für Zeitgeschichte sind. Zweifelhaft erscheint auch die Feststellung, dass „sich die zeitgeschichtliche Forschung in Deutschland mehr als in den meisten anderen Ländern internationalisiert hat“ (S. 12). Das wäre im methodisch-theoretischen Bereich nur durch vergleichend-systematische Forschungsberichte zu klären gewesen, was diese Beiträge erklärtermaßen aber nicht sind, während sich im inhaltlichen Bereich, d.h. also in der konkreten Themenwahl, erst in jüngerer Zeit ein solcher Trend für Deutschland abzeichnet. Von einer deutschen Vorreiterrolle kann hier nicht die Rede sein.

Die einzelnen Länderbeiträge gruppieren Nützenadel und Schieder folgendermaßen: erstens die „postfaschistischen Demokratien“, allen voran die Bundesrepublik, dann Österreich, Spanien und zuletzt Italien; zweitens „die westeuropäischen Länder“ Großbritannien, die Schweiz, Frankreich und die Niederlande, „deren Geschichte im 20. Jahrhundert ohne tiefgreifende Zäsuren und Umbrüche [sic!] verlief“ (S. 16), sowie drittens die osteuropäischen Länder, deren Geschichtskulturen durch den Sowjetsozialismus geprägt wurden (Sowjetunion, ČSSR, Polen, Ungarn und die DDR). Diese Dreiteilung scheint – oberflächlich betrachtet – einen Sinn zu ergeben, doch sind die hierzu angestellten Überlegungen etwas fraglich: Kann ernsthaft behauptet werden, dass die Geschichte Frankreichs oder Großbritanniens im 20. Jahrhundert „ohne tiefgreifende Zäsuren und Umbrüche“ verlaufen sei? Die einzelnen Beiträge legen mitunter das Gegenteil nahe: Bedeutete die militärische Kapitulation gegenüber der Deutschen Wehrmacht im Jahre 1940 nicht einen tiefen Einschnitt im Bewusstsein von historischer Größe und politischem Rang Frankreichs in Europa? Nützenadel und Schieder erwähnen selbst die französische Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, den Algerienkrieg sowie das (erfolglose) Ringen, den Niedergang der globalen Machtposition der „grande nation“ zu verhindern (S. 20). Waren die beiden Weltkriege, verbunden mit dem Abstieg der britischen Weltmacht, sowie die zunächst vergeblichen EWG/EG-Beitrittsambitionen des Vereinigten Königreichs keine Brüche in seiner Zeitgeschichte? Darauf verweist Mares (S. 147).

Es gibt also keine Zeitgeschichten ohne Brüche, Krisen, Katastrophen und Zäsuren. Diese Einschnitte hätten in einem systematischen europäischen Vergleich genauer in den Blick genommen werden müssen, anstatt mehr oder weniger ausgehend vom Fixpunkt einer deutschen Sonderwegsvorstellung auf andere europäische Zeitgeschichten zu schauen. Streng genommen gab es überall Sonderwege, die Unterschiede erkennen lassen und Vergleichbarkeiten ermöglichen. Der Problemfall „Zeitgeschichte“ ist ein europäisches Problem zur nationalen Potenz.

Während in der Einleitung von Nützenadel und Schieder die Zeit seit 1989/90 als „dritte deutsche Zeitgeschichte“ apostrophiert wird (S. 15, mit Verweis auf Hockerts und Kleßmann), fragt man sich längst, ob diese Phase nicht als vierte deutsche Zeitgeschichte zu begreifen ist: nach Weimar (1.), Nationalsozialismus (2.), alter Bundesrepublik und DDR (3.) gibt es nun eine neubundesrepublikanische Zeitgeschichtsschreibung. Die Geschichtsphase nach 1989 ist allerdings noch nicht besonders tief ins Bewusstsein deutscher HistorikerInnen eingedrungen.

Liest man den sehr gut recherchierten Beitrag von Martin Sabrow, der die Tabus der DDR-Geschichte verdeutlicht, fragt sich der kritische Leser, ob es in der westdeutschen Bundesrepublik-Forschung nicht auch Tabus gegeben hat und gibt. (Europäische) Zeitgeschichten bestehen immer aus Tabus. Als Sieger-Historiografie saß freilich die altbundesrepublikanische Historikerzunft nach 1989/90 über die DDR-Geschichtsschreibung zu Gericht – ein einmaliger Vorgang in den europäischen Zeitgeschichtskulturen, der zu thematisieren gewesen wäre.

Die bundesdeutsche Zeitgeschichtsforschung begann schon früh, war aber lange fixiert auf Hitler und den Nationalsozialismus. Erst das Ende des Kalten Krieges mit der Enthüllung der kommunistischen Verbrechen und ihrer Dimensionen sowie raumübergreifende europäisierende Tendenzen der Gegenwart, also Anstöße von außen, ermöglichten eine Perspektivenerweiterung. Der Fahrt aus „der Kurve“ (Hermann Heimpel) der deutschen Historiografie nach 1945 folgte die Fahrt durch einen Tunnel („Im Tunnel der NS-Zeit“ wäre treffender als „Im Schatten der NS-Zeit“). Wie Martin H. Geyer facettenreich zeigt, manifestierte sich in der Bundesrepublik eine Anpassungsgeschichtsschreibung – weg vom Paradigma einer deutschen Nationalhistorie hin zu einem westlich integrierten Teilstaat (S. 30). So revolutionär dieser Paradigmenwechsel sein mochte: Er war nicht immer progressiv bzw. innovativ, sondern teilweise sehr herrschaftsnah und opportunistisch. Zu Recht verweist Geyer aber auch auf die bahnbrechende Fischer-Kontroverse (S. 39).

Ernst Hanisch zeigt deutlich auf, wie staatsabhängig Österreichs Zeitgeschichte (gewesen) ist. Die erklärte Rückkehr zum Historismus und die Abkoppelung von Neuerer und Neuester Geschichte waren weitere Spezifika. Ihr Hang zur Postmoderne scheint ein Übergangsphänomen zu sein. Synthesen drohen dennoch völlig verloren zu gehen, wie Hanisch am Mangel eines Gesamtkonzepts zur Geschichte der NS-Herrschaft in Österreich verdeutlicht (S. 70ff.). Die realen Verhältnisse der österreichischen Zeitgeschichte legen Hanischs Rat zur Bescheidenheit nahe. Aber auch in einem kleinen Land mit knappen Ressourcen sollte nicht an einer Zeitgeschichte mit nationaler Nabelschau festgehalten werden. Die Alternativen (Regionalisierung, Europäisierung und Globalisierung) sind längst zwingende Herausforderungen geworden, denen sich auch die österreichische Forschung zu stellen hat. Das Exempel Frankreich macht deutlich, wie sehr die Erforschung der Geschichte der europäischen Integration die Lösung von frankozentrierten Perspektiven förderte.

Dass es einen enormen Nachholbedarf bei der Aufarbeitung der Zeitgeschichten der mittel- und osteuropäischen Länder gibt, ist evident. Ein zentrales Problem, das sich als wiederkehrendes Moment der europäischen Zeitgeschichten erweist, wird in Dippers Beitrag über die Schweiz, aber auch in Stobieckis luzidem Aufsatz über Polens junge Zeitgeschichte nach 1989/90 thematisiert: das Vorbeischreiben an den Öffentlichkeiten und das Dilemma, in der Konfrontation mit dem nationalen Gedächtnis „den Kürzeren“ zu ziehen. Dies verweist nicht nur auf die „aufklärerischen“, kämpferischen und revolutionären Leistungen von Zeitgeschichtsschreibungen, sondern auch auf ihr Versagen bezüglich des vielbeschworenen „gesellschaftspolitischen Auftrags“.

Der vornehmlich deutsche Blick auf andere europäische Zeitgeschichten lässt erkennen, dass die Institutionalisierung der Zeitgeschichte auch in anderen Ländern verzögert stattfand, in denen historistische und konservative Denkmuster vergleichbare Wirkungen entfalteten. Die stärkste Herausforderung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zeitgeschichte stellte sich in den jungen „Demokratiestaaten“ nach 1945. In den älteren gewann die Zeitgeschichte erst später ein eigenständiges Profil. Nationalstaatliche Götterdämmerungen setzten dort nur allmählich ein (das Vichy-Syndrom in Frankreich, die Entmythologisierung der Resistenza in Italien, die Debatte über den decline in Großbritannien etc.). In den vormals leninistisch-marxistischen Geschichtskulturen gab es erst nach 1989/90 eine Chance zur Etablierung einer unabhängigen Zeitgeschichtsforschung. Nützenadel und Schieder kommen zum Ergebnis, dass man heute noch nicht von einer europäischen Zeitgeschichte sprechen könne (S. 13, 23f.): „Damit aus vielerlei nationaler Zeitgeschichte eine europäische Zeitgeschichte wird, bedarf es noch intensiver wissenschaftlicher Debatten.“ Ob dies ein Wunsch sein muss (warum eigentlich, und für welches Ziel?), wird nicht ausdrücklich reflektiert und ist noch zu diskutieren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch