H. Ehlert u.a.: Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR

Titel
Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven


Herausgeber
Ehlert, Hans; Rogg, Matthias
Reihe
Militärgeschichte der DDR 8
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 740 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Innerhalb der DDR-Forschung haben die militärischen Interna kaum Aufmerksamkeit gefunden. Daher war es verdienstvoll, dass das Militärgeschichtliche Forschungsamt auf einer Tagung im März 2003 diesen Untersuchungs- und Diskussionsgegenstand wählte. Die Referenten waren nur schwer zu finden und mussten vielfach erst für das Thema gewonnen werden. Dennoch können sich die Ergebnisse sehen lassen. Mit dem Band liegt erstmals eine Sammlung von Darstellungen und Analysen vor, die neben dem Bild des gesamtpolitischen Kontexts eine von kompetenten Bearbeitern formulierte Innenansicht der Nationalen Volksarmee (NVA) zeichnen. Von den zahlreichen Aspekten und Facetten der Sache kann der Rezensent nur einen Teil ansprechen.

In der Gesamteinleitung weisen Hans Ehlert und Matthias Rogg darauf hin, dass mit annähernd einem Zehntel der Bevölkerung in der DDR prozentual mehr Menschen in die Organisationen der Landesverteidigung einbezogen wurden als in jedem anderen Warschauer-Pakt-Staat. Mit ca. 400.000 hauptamtlichen Mitarbeitern war die NVA ein ungewöhnlich großer Militärapparat. Sie griff tief in die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung ein und hatte enorme Bedeutung für deren Sozialisierung. Dazu kam ein SED-typischer weit gefasster Sicherheitsbegriff, der ihrem Aufbau zugrunde lag: Neben dem Schutz nach außen war stets das innenpolitische Ziel der Aufrechterhaltung der Parteiherrschaft und der sozialistischen Strukturen bestimmend. Das Verhältnis von Militär, Staat und Gesellschaft ist ein Faktor, dem bei der Analyse der SED-Diktatur zentrale Bedeutung zukommt. Daran entscheidet sich, ob die DDR in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung als eher autoritärer oder totalitärer Staat gelten muss und inwieweit sie als „durchherrscht“ anzusehen ist. An diese Überlegungen schließt sich eine Erörterung der für das Thema des Buches relevanten Werke an.

Hans-Erich Volkmann wendet sich dem „verweigerten Erbe“ der NVA zu, etwa dem fast totalen Verschweigen des militärischen Widerstands gegen das NS-Regime bis auf den winzigen Teil, der sich mit kommunistischem „Antifaschismus“ in Verbindung bringen ließ. Die nationalsozialistischen Verbrechen fanden nur so weit Aufmerksamkeit, wie das zur Verurteilung politischer Gegner nützlich war. Im Übrigen galt die Vergangenheit als durch die sozialistische Transformation eo ipso abgetan und war damit faktisch tabuisiert. Rolf Steininger stellt die NVA in den Kontext des Kalten Krieges und setzt sich mit dessen kontroversen Interpretationen auseinander. Zunächst wurde bei Öffnung der amerikanischen Akten die traditionalistische Sicht in Zweifel gezogen, dass der UdSSR die wesentliche Schuld am Ausbruch des Ost-West-Konflikts zuzumessen sei. Die Gegenthese vom primär ausschlaggebenden Verhalten der USA wurde nach Bekanntwerden vor allem Moskauer Archivalien weithin zurückgenommen. Zudem hatte in der Frühzeit Großbritannien wichtigen Anteil am westlichen Verhalten.

Christopher Winkler hebt in seinem Beitrag über die drei westlichen Militärmissionen in der DDR hervor, dass sich deren Interesse auf die sowjetischen Streitkräfte konzentrierte, während die Bedeutung der NVA lange Zeit unterschätzt wurde. Klaus-Dietmar Henke betont in Übereinstimmung mit anderen Autoren, dass zwar das ostdeutsche Militär die SED-Herrschaft nach außen und innen zu sichern hatte, bei der Erfüllung dieses Auftrags jedoch entscheidend auf die UdSSR angewiesen war. Armin Wagner führt ergänzend aus, dass sich die Angewiesenheit der DDR auf den sowjetischen Schutz mit der Konsequenz einer Unterwerfung unter die Direktiven aus Moskau verband. Zwar bestand eine prinzipielle Kongruenz der Interessen, doch entstanden Konflikte, als sich die DDR nach dem Ende lang dauernder totaler Unterordnung zuweilen um die Durchsetzung abweichender Ziele bemühte. Das Subordinationsverhältnis fand seinen Niederschlag im zunächst direkten sowjetischen Management der ostdeutschen Machtapparate, etwa des Militärs. Im Zuge der allmählich gewährten größeren Eigenständigkeit wurde es weithin durch Penetration ersetzt, die vielfach, so im Verteidigungsministerium, bis zum Schluss bestehen blieb. Ebenso durchdrangen, wie Daniel Giese und Stephan Wolff ausführen, Partei und Staatssicherheit die Armee, ohne jedoch deren Eigenleben (einschließlich Formen der Kameradenschinderei) verhindern zu können, wie sich aus den eindrucksvollen Beiträgen von Rüdiger Wenzke, Christian Müller und Matthias Rogg ergibt.

Nach Rainer Karlsch besaß die DDR zwar keine Rüstungsindustrie im eigentlichen Sinne, weil, abgesehen von der Produktion von Kriegsschiffen und Brückenlegepanzern, eine finale Waffenfertigung fehlte und die Militärgüter aus dem sozialistischen Ausland, vor allem der UdSSR, importiert wurden. Die Volkswirtschaft war dennoch stark militarisiert. Die NVA brauchte erhebliche Dienst-, Instandsetzungs- und Versorgungsleistungen; die Bezahlung der eingeführten Waffen erzwang Produktionen zur Befriedigung der Bedürfnisse der Lieferländer; für die Rüstungserzeugung der Verbündeten waren Vorprodukte herzustellen. Die übermäßige Beanspruchung der Wirtschaft durch den Personalbedarf des Militärs zeigt Torsten Diedrich. Matthias Uhl stellt dar, wie die NVA nach einem Bündnisbeschluss vom März 1961 mit Nuklearträgern ausgerüstet und auf deren Einsatz vorbereitet wurde. Die Sprengköpfe verblieben in sowjetischem Gewahrsam; die UdSSR behielt sich die volle Kontrolle bezüglich des Kernwaffengebrauchs vor. Das entsprach haargenau dem amerikanischen Verhalten gegenüber der Bundeswehr, das als unerträgliche „Nuklearbewaffnung“ der „westdeutschen Militaristen“ angeprangert wurde.

Kurt Arlt zeigt das unbegrenzte Ausmaß der sowjetischen Kompetenzen bei der Truppenstationierung in der DDR auf. Zu Anfang beruhten diese auf Besatzungsrecht, das den Siegern die „oberste Gewalt“ in Deutschland einräumte. Stalin erhielt dadurch in seiner Zone eine so große Gestaltungsmacht wie nirgends sonst, die er von Anfang an zielbewusst zur politisch-gesellschaftlichen Transformation nutzte. Das begründete ein Interesse an langer Okkupationsdauer. Auch als der DDR nach seinem Tod mehr autonome Entscheidungsfreiheit zugestanden wurde, änderte sich am Status der sowjetischen Streitkräfte auf ostdeutschem Territorium praktisch nichts. Der Stationierungsvertrag von 1957 beließ die wesentlichen Rechte in sowjetischer Hand. Soweit die DDR mindere Zuständigkeiten erhielt, blieben diese faktisch unbeachtet. Von 1945 bis 1994 hielten sich mindestens 10 Millionen Sowjetbürger als Soldaten in der DDR auf, vor allem Wehrpflichtige und Unteroffiziere auf Zeit, dazu Offizierskorps und Generalität.

Die einfachen Soldaten, die ab 1946 in den Kasernen eingesperrt waren und meist nur dann Außenkontakt hatten, wenn sie von ihren Vorgesetzen unentgeltlich an DDR-Betriebe „ausgeliehen“ wurden, galten der Bevölkerung zu Recht als arme Kerle. Dagegen genossen die Offiziere die Dienstzeit in der DDR: Sie konnten ihre Karriere fördern; ihre Frauen hatten gute Verdienstmöglichkeiten; man deckte sich mit zu Hause unerreichbaren Waren ein. Auch entstand ein lebhafter Austausch mit den Deutschen. Die Haltung der Generalität wurde von einem Überlegenheitsbewusstsein bestimmt, das sich weithin als Arroganz und Missachtung äußerte und dazu beitrug, dass die offiziellen Bekundungen enger Freundschaft auch bei Vertretern des SED-Regimes Worte blieben. Auch bestand der Argwohn, die UdSSR werde die DDR im Kriegsfalle als bloßes Manövrierfeld betrachten und möglicherweise preisgeben.

Silke Satjukow macht spannende Ausführungen über wechselseitige Fremdheitsgefühle zwischen den Ostdeutschen und den Sowjetbürgern im Lande. In der Geschichte wurzelnde Ambivalenzen, durch Feindbildpropaganda und Kriegserfahrungen negativ aufgeladen, wirkten sich ebenso aus wie das Verhalten der Roten Armee bei der Eroberung des Landes, das die antisowjetischen Ressentiments in der Bevölkerung verstärkte. Die deswegen 1946 verfügte Trennung des deutschen und sowjetischen Lebensalltags machte die offizielle Freundschaft zu einer Angelegenheit ritualartig organisierter Treffen. Heikel waren von Sowjetsoldaten verursachte „Vorkommnisse“: Einbrüche in unbewohnten Räumen, Körperverletzungen bei Streitigkeiten im Wirtshaus, die auch in späteren Jahren nicht seltenen Vergewaltigungen oder gar lebensbedrohlicher Waffengebrauch (wenn Deserteure sich in die Enge getrieben sahen). Offiziell waren harte Strafen vorgesehen, doch außer in letzterem Falle wurde die Sache oft unter den Teppich gekehrt oder als Bagatellfall behandelt, ohne dass die deutsche Seite etwas daran ändern konnte.

Zu den Vorzügen des Sammelbandes gehört, dass auch allgemein-politische Zusammenhänge beleuchtet werden. Die von Corey Ross dargestellten enormen Schwierigkeiten bei der Soldatenwerbung, solange wegen der Fluchtmöglichkeiten über Berlin noch keine Wehrpflicht möglich war, werfen ein grelles Licht auf die geringe Akzeptanz der DDR unter den Jugendlichen und in der Gesellschaft insgesamt. Was sich die jungen Männer alles einfallen ließen, um massivem Anwerbungsdruck zu widerstehen, ist ebenso bemerkenswert wie die Ablehnung, welche die Bevölkerung den Geworbenen als „Freiwilligen“ entgegenbrachte. Als der Militärdienst obligatorisch wurde, verlor das Soldatsein den Charakter einer Entscheidung für das Regime und rief daher keine Zurückweisung mehr hervor.

Günther Glasers Beitrag zeigt den himmelweiten Unterschied zwischen dem dekretierten Feindbild und der tatsächlichen Einstellung in der Armee. Der Zweck, durch Hass gegen den Gegner, vor allem die Bundesrepublik, politisches Engagement hervorzurufen, wurde gründlich verfehlt. Die angestrebte Identifikation mit der DDR als sozialistischem Heimatland, das gegen die Bedrohung aus dem Westen zu verteidigen sei, blieb aus; die in den 1970er-Jahren propagierte Zwei-Nationen-These wurde nicht angenommen. Das ging so weit, dass man in den Planungen für den Kriegsfall sorgfältig darauf achtete, die NVA nirgends gegen die Bundeswehr einzusetzen, weil die Soldaten gegen diese nicht kämpfen wollten. Die generelle Erosion der DDR-Legitimationsbasis in den 1980er-Jahren war in den Streitkräften deutlich zu spüren. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund entschloss sich die Führung im Herbst 1989 nicht, die Truppe gegen die protestierenden Demonstranten einzusetzen.

Der von Hans Ehlert und Matthias Rogg herausgegebene Sammelband bietet nicht nur Lesern, die speziell an der Geschichte des ostdeutschen Militärs interessiert sind, sondern allen, die sich über die DDR im Allgemeinen und die Zusammenhänge der deutschen Teilung informieren wollen, ebenso wichtige wie zuverlässige Einblicke.

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