Titel
Epocha "dworskich bur'". Otscherki polititscheskoi istorii poslepetrowskoi Rossii, 1725-1762 gg.


Autor(en)
Kurukin, I.V.
Reihe
Noweischaja rossijskaja istorija: isledowanija i dokumenty. Bd. 6
Erschienen
Rjazan 2003: NRIID
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Witzenrath, King's College, London

Kurukin füllt mit seiner soliden Archivstudie eine Lücke in der Geschichte des nachpetrinischen Reiches: Das Wort von der „Ära der Palastrevolutionen“ ist weit verbreitet; an systematischen, vergleichenden Untersuchungen der Umstürze von 1725, 1730, 1740-1741 und 1762 mangelte es jedoch bislang. Als einzige Ausnahme zog der „konstitutionelle“ Coup vom Januar 1730 die Historiker in größerer Zahl an. Er wurde durch die von Kaiserin Anna unterzeichneten „Konditionen“ berühmt, die ihre Macht beschränken sollten.1

Die historische Untersuchung der Palastrevolten wurde im Zarenreich von der außerordentlich strengen Zensur beeinträchtigt. Der Altmeister der russischen Geschichtsschreibung, Kljutschewski, sah die Gardisten als wichtigste politische Kraft und „politische Schule“ des Adels, deren Bedeutung er jedoch zwischen Prätorianern und den Elitetruppen des Sultans, den Janitscharen, ansiedelte. Seine Schüler Bogoslowski und Miljukow erblickten einen Kampf für eine Konstitution. In der sowjetischen Geschichtsschreibung setzte es sich durch, in den Palastrevolten nicht mehr zu sehen als den Kampf der Palastparteien um das Vorrecht, die Staatskasse ungestraft zu berauben.

Kurukin betrachtet die Erforschung von Klientelverbänden als wichtigen Teilbereich seines Themas. Er macht jedoch darauf aufmerksam, dass wichtige Dokumente der Debatten von 1730 so viele Unterschriften von Mitgliedern weniger angesehener Familien enthalten, dass hinsichtlich deren Zugehörigkeit zu den Klientelverbänden auf dem gegenwärtigen Stand der Prosopografie angesichts begrenzter Aktenbestände erhebliche Unsicherheit bestehen bleibe. Gegen seine Einschätzungen kann im Einzelfall berechtigte Kritik vorgetragen werden, doch seine Einwände bleiben bedenkenswert. Ein glücklicher Wurf ist die vergleichende Untersuchung aller Umstürze und Umsturzversuche. Kurukin nähert sich diesem Unterfangen nicht mehr mit dem Instrumentarium der Verfassungsgeschichte, sondern untersucht die „kulturellen Mechanismen“ der Macht, die Vorstellungen über sie, Beziehungen zwischen Patron und Klient sowie „andere Formen politischen Verhaltens“ (S. 27).

Etwas bemüht unterstellt er der Inthronisation Katharinas I. eine „nur leicht maskierte Wahl durch die stärkste Hofpartei“. Dabei verdeutlicht er, dass beide Parteien gemeinsam bestrebt waren zu verhindern, dass Peter I. noch in seinen letzten Stunden sein Thronfolgegesetz änderte. Die Phase von 1725 bis 1730 nimmt eine besondere Stellung in Kurukins Konzeption ein, denn hier entwickelten sich die Formen nachpetrinischer politischer Auseinandersetzung: Diese beinhalteten neue politischen Mechanismen wie die Herstellung von Öffentlichkeit, Wahlen und die Suche nach Kompromissen. Die Vertreter des alten Systems kannten als Mittel der politischen Auseinandersetzung nur den Zarensturz und veränderten nichts an der Form der Regierung. Mit dieser Beschreibung der oft als „Konstitutionalisten“ und „werchowniki“ (nach dem „Obersten Geheimen Rat“) bezeichneten Kontrahenten begibt sich Kurukin auf historiografisches Neuland.

Nachdrücklich betont er, dass die Garden – besonders das Preobraschensker Regiment – trotz ihres geringen Bildungsstandes und begrenzten politischen Einblicks einen großen Anteil an den Palastrevolutionen hatten. Obwohl Kurukin kaum konkrete Einsichten in die Dynamik der oft brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Bauern der in den Garden stark vertretenen kleinen Landbesitzer und denen des großen Adels vermittelt 2, wird doch deutlich, dass es einen Interessengegensatz zwischen den genannten Gruppen des Adels gab. Die Entwicklung trieb viele Gardisten in die Arme der unbeschränkten zarischen Selbstherrschaft. Dennoch schließt sich Kurukin nicht der sowjetischen Interpretation an, die hier eine Auseinandersetzung zwischen Aristokratie und niederem Adel sah, sondern argumentiert stattdessen, dass die in der petrinischen politischen Kultur angelegte Neigung zur Kompromisslosigkeit friedliche Lösungen verhindert habe.

Die Konfiguration im Obersten Geheimen Rat schloss die „neuen Männer“ Peters zugunsten der Dolgorukows aus, die zu keiner Zeit bereit waren, die Macht zu teilen. Infolgedessen verschrieben sich so wichtige und gebildete Figuren wie Feofan Prokopowitsch einer gegen den Rat gerichteten Propaganda, die das Schreckgespenst einer erneuten kaiserlosen Zeit der Herrschaft „untereinander verfeindeter Kosakenatamane“ – wie die unvergessene Zeit der Wirren ein Jahrhundert zuvor – an die Wand malte: Die Räte seien trotz bester Absichten unfähig gewesen, zu Einigungen zu kommen. Dies ist nur ein Beispiel für die Öffentlichkeit, die laut Kurukin diese Periode vor späteren auszeichnete.

Kurukin wendet sich vehement gegen die noch immer bestehende Neigung unter russischen Historikern, die herrschende Hofclique unter Anna als unterdrückende Fremdherrschaft darzustellen. Nicht in erster Linie Repressionen, sondern das funktionsfähige Kabinett, die zur Gewohnheit werdende Stellung des Favoriten und die Befriedigung der sozialen Forderungen des Adels stabilisierten das Regime und lenkten die Evolution des petrinischen Systems in die Bahnen der „Institution des Umstürzlertums“. Nach Anna gab es nur noch jene Form des Umsturzes, die „Fehlentwicklungen“ korrigieren sollte, ohne das System zu verändern; dazu trug insbesondere der Generationswechsel von den reformerfahrenen, selbständigen Mitstreitern Peters zu den jungen Höflingen bei.

Kurukins Beschreibung der Entwicklung des „Umstürzlertums“ hebt einige bemerkenswerte Züge der russischen Geschichte hervor: Schon Kamenskij (1997) zeigte, dass die Zahl der Teilnehmer im Laufe der Zeit zunahm. Kurukin schränkt ein, 1741 habe die herrschende Elite einen regelrechten Schock erlebt, als sie begriff, dass die Macht bei den betrunkenen Grenadieren auf den Straßen der Hauptstadt lag. 1762 zogen die am Umsturz teilnehmenden Offiziere daher nur sorgfältig ausgewählte Soldaten heran, während die vorangehende Verschwörung eine exklusive konspirative Unternehmung war, an der einflussreiche Persönlichkeiten teilnahmen. Die Garden hätten sich sonst wie die Janitscharen im Osmanischen Reich in eine privilegierte Kaste und Barriere für Reformen verwandeln können.

Das „Umstürzlertum“ begann mit einem offenen Konflikt der „Parteien“, durchschritt eine Phase der aktiven Beteiligung von Gardesoldaten mittleren Ranges bei der Vorbereitung und Durchführung der Absetzung des Imperators 1741 und vollendete sich in der vollständig konspirativen Verschwörung von Aristokraten und Gardeoffizieren 1762. Eine Besonderheit der russischen Entwicklung sieht Kurukin darin, dass sie vom Streit über die Rechtskräftigkeit von Testamenten zu Angriffen auf die Person des Autokraten fortschritt; möglich sei dies geworden, weil die Selbstdarstellung des Hofes im Zuge der petrinischen Reformen die Vorstellung vom „frommen Herrscher“ fallen ließ.

Kurukin hat die verstreuten Untersuchungen zu den Palastrevolutionen zusammengefasst und bislang ungenutzte Aktenbestände in beeindruckender Breite verarbeitet. Lässt man seine erfreuliche Unvoreingenommenheit beiseite, so bleibt sein Anspruch, historische, „politische“ Anthropologie zu betreiben, jedoch wenig nachvollziehbar. Insbesondere die Frage, ob es sich bei den Palastrevolten um eine Institution handelte, bedarf einer methodischeren Herangehensweise und einer Begriffsdefinition. Sein Buch bietet eine überzeugende Darstellung der Vorgänge und bei weiteren Aufklärungsversuchen wird an ihm nicht vorbeizukommen sein.

Anmerkungen:
1 Popov, D.F., Problemy rossijskoj absoljutnoj monarchii, Moskau 1999, S. 92; Dixon, S. The Modernisation of Russia, 1676-1825, Cambridge 1999, S. 25; Kamenskij, A.B., Ot Petra do Pavla I, Moskau 1999, S. 176f.
2 Kivelson, V., Autocracy in the Provinces, Stanford 1996.

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