A. Tiggemann: Die "Achillesferse" der Kernenergie in Deutschland

Titel
Die "Achillesferse" der Kernenergie in Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985


Autor(en)
Tiggemann, Anselm
Reihe
Subsidia Academica 5
Erschienen
Lauf an der Pegnitz 2004: Europaforum-Verlag
Anzahl Seiten
874 S.
Preis
€ 46,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schank, Bergisch-Gladbach

Im so genannten Atomkonsens im Jahre 2000 einigte sich die jetzige Bundesregierung mit den Vertretern der Industrie auf den Ausstieg aus der Atomenergienutzung in den nächsten 20 Jahren. Atommüllzwischenlager müssen verpflichtend an den Meilern gebaut werden. Ein Endlager soll bis zum Jahr 2030 entstehen. Damit wurde ein zeitlicher Aufschub festgeschrieben, der exakt in der Traditionslinie der nachrangigen Behandlung der Endlagerungsproblematik seit den 1950er-Jahren steht.1

Neuerdings können die Entwicklung sowie die Hintergründe, die dazu führten, in dem Buch des Historikers Anselm Tiggemann detailliert nachgelesen werden. Er wagt sich mit seinem zeithistorischen Projekt bis fast an die Gegenwart heran. Dadurch gelingt es ihm - gerade für die späten 1970er-Jahre und die erste Hälfte der 1980er-Jahre -, eine Lücke in der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung zu füllen. In vier großen Teilen analysiert er die bundesdeutsche Politik der nuklearen Entsorgung mit Schwerpunkt auf dem so genannten „Nuklearen Entsorgungszentrum“. Die verspätete Entwicklung seit den 1950er-Jahren mit ihrer wissenschaftlichen Orientierung an den US-amerikanischen Lösungswegen (Kernbrennstoffkreislauf und Einlagerung in Salzformationen) wird eingangs aufgezeigt. Nachfolgend werden das Entstehen und die Entwicklung des spezifisch bundesrepublikanischen Entsorgungskonzeptes beschrieben, das eine Bündelung aller notwendigen Anlagen an einem Ort vorsah. Durch eine „Politik des konstruktiven Zwangs“ (S. 243ff.) wurde die Frage der Entsorgung zu einem zentralen Thema. Die Umsetzung des Entsorgungskonzeptes an einem konkreten Ort wird im dritten Teil behandelt. Das Auswahlverfahren des Ortes Gorleben für ein Entsorgungszentrum wird nachvollzogen und auch in Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Auswirkungen bewertet. Schließlich wird die Untersuchung durch die Betrachtung der Weiterentwicklung des Konzeptes nach dem Scheitern eines zentralen Entsorgungszentrums hin zu einem flexibleren so genannten integrierten Entsorgungskonzept an mehreren Orten sowie durch die Beschreibung der vielschichtigen Auseinandersetzungen vervollständigt.

Tiggemann legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf die Entwicklung eines „Nuklearen Entsorgungszentrums“, welches in Gorleben geplant war. Für ihn „war und ist ,Gorleben’ Schnittpunkt lokaler, regionaler und bundesweiter Entwicklungen“ (S. 17). Mit dem Namen dieses Ortes verknüpfen sich die Geschichte und Politik der Kernenergie und besonders der damit verbundenen Entsorgung sowie der Protest dagegen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Mythen werden von ihm ebenfalls berücksichtigt. So gelingt es ihm beispielsweise mit seiner Darstellung, Klarheit in den Entscheidungsprozess für den Ort Gorleben zu bringen. Differenziert und detailliert beschreibt er das bisher wenig beachtete separate Auswahlverfahren des Landes Niedersachsen. Die vielerorts kritisierte mangelnde Öffentlichkeitsbeteiligung, aber auch deren rechtliche Korrektheit stellt er fest. Aber auch die überregionale Bedeutung des Ortes Gorleben für die Anti-AKW-Bewegung wird klar herausgearbeitet. Das Erstarken und die Institutionalisierung des Protestes mündeten in einer neuen Sozialen Bewegung, die „zur Veränderung der politischen Kultur in den 70er und 80er Jahren“ (S. 42) führte. Die parlamentarische Manifestation dieses Protestes fand ihren Ausdruck in der Partei der „Grünen“.

Tiggemann hat seine umfangreiche Studie auf einer beeindruckenden Quellenbasis aufgebaut. Die Auswahl der Archive und Bestände ließ sich von den untersuchten Perspektiven leiten. Die Bestände des Kernforschungszentrums in Karlsruhe, des Atomministeriums und der Atomkommission bilden die Grundlage für die Vorgeschichte der Kernenergiepolitik. Die politischen Ebenen werden vielfältig durch die entsprechenden Bestände abgedeckt: Für die bundespolitische Ebene wurde u.a. das Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages und für die landespolitische Ebene die Protokolle der Sitzungen des Niedersächsischen Landtages sowie das Archiv der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsens ausgewertet. Ergänzt wurde diese Seite des Zugangs durch Bestände von politischen Mandatsträgern in den entsprechenden Archiven. Die Gegenseite der Anti-AKW-Bewegung wurde z.B. durch die Auswertung von archivierter Korrespondenz sowie Rechtsgutachten und Prozessunterlagen miteinbezogen. Die Analyse mehrerer regionaler und lokaler Presse sammlungen und -archive (z.B. NDR-Archiv und Elbe-Jeetzel-Zeitung) stützt die Untersuchung erheblich. Einschränkungen erfuhr Tiggemann allerdings aufgrund der Aktualität und andauernden politischen Brisanz des Themas und durch die gesetzliche Aktensperrfrist. Einige Bestände sind nicht zugänglich, und mehrfach beantragte Sondergenehmigungen wurden ihm häufig nicht erteilt. Umso wichtiger ist daher die Einbeziehung von Zeitzeugeninterviews. Mit der quellenkritischen Einordnung der Aussagen stellen die Interviews und schriftlichen Auskünfte einen wichtigen Aspekt der Untersuchung dar. Tiggemann hat 50 Personen - Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik sowie Repräsentanten der Gegner - nach ihren Haltungen und Entscheidungen befragt. Mit Hilfe ihrer Aussagen und einiger von ihnen zur Verfügung gestellter privater Unterlagen können gerade für die jüngere Entwicklungsgeschichte wichtige Aussagen getroffen werden.

Anselm Tiggemann hat ein detailreiches Buch zur nuklearen Entsorgung vorgelegt, einem bisher vernachlässigten Gebiet der bundesdeutschen Kernenergiegeschichte. Die bisherigen Entwicklungen sowie ihre Wirkungen werden minutiös aus verschiedenen Perspektiven analysiert. Tiggemann rückt die Kernkraftkontroverse, die der Bielefelder Umwelthistoriker Joachim Radkau in den 1980er-Jahren einmal als „gedankenreichsten Diskurs“2 in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet hat, in den Blick der Geschichtswissenschaft. Der große Umfang des Werkes resultiert (neben dem für eine Dissertation unvermeidlichen genauen Anmerkungsapparat) auch aus den offensichtlich vom Verlag stammenden typografischen Vorgaben. Hier hätte sich durch einen kompakteren Satz im Fußnotenbereich und eine andere Seitenaufteilung ein wenig Volumen einsparen und somit etwas mehr Leserfreundlichkeit gewinnen lassen. Die Ausführlichkeit der Darstellung trägt sicherlich dazu bei, dass es allen Interessierten als Nachschlagewerk dienen kann. Besonders die mitgelieferte Chronologieübersicht und das Personenregister erleichtern dankenswerterweise den gezielten Zugriff. Angesichts der weiterhin bestehenden Aktualität der Debatte stellt die Veröffentlichung einen unverzichtbaren Beitrag dar, dessen Ergebnisse zur Klarheit in den zukünftigen Auseinandersetzungen beitragen könnten.

Anmerkungen:
1 Vgl. DER SPIEGEL 30/2004, S. 50f. Der Zeitrahmen wird bereits von Experten als unrealistisch angesehen und das Jahr 2050 genannt. Vielleicht wird sich die Lösung der Problematik nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich durch die Schaffung eines internationalen Endlagers als vermeintlich besten Weg verschieben und damit weiterhin nachrangig behandeln lassen.
2 Radkau, Joachim, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur. Phasen und Dimensionen einer neuen Aufklärung, in: Herrmann, Armin und Schumacher, Rolf (Hgg.), Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, S. 307-334, hier S. 307.

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