T. Kühne u.a. (Hg.): Massenhaftes Töten

Cover
Titel
Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Kühne, Thomas; Gleichmann, Peter
Reihe
Frieden und Krieg - Beiträge zur Historischen Friedensforschungen 2
Erschienen
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Boris Barth, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Der vorliegende Sammelband vereinigt die Beiträge einer interdisziplinären Tagung, die Anfang November 2001 vom Arbeitskreis Historische Friedensforschung und der Evangelischen Akademie Loccum gemeinsam veranstaltet wurde. Der Band will programmatisch nicht die Erfahrung des Leides oder die der Opfer darstellen, sondern wählt bewusst die Perspektive der Täter. Man hätte dem Band vielleicht auch den Untertitel: Die Erfahrung des Tötens geben können.

Im Folgenden ist es nicht möglich, alle 17 Beiträge, die neben einem gewichtigen einleitenden Kapitel und einem kurzen Nachwort vertreten sind, angemessen zu würdigen. Der Band bietet eine breite Palette von unterschiedlichsten Themen und Ansätzen. Im Folgenden sollen fünf Aufsätze näher dargestellt werden, die typisch für das Buch insgesamt – mit seinen Stärken und Schwächen – sind.

In einer gewohnt souveränen Darstellung untersucht Michael Geyer, wie die Deutschen an der Westfront des Ersten Weltkrieges die Effektivität des Tötens lernten. Hierbei interpretiert er Niall Fergusons bekannten und kontrovers diskutierten „net kill count“ neu. Geyer geht von der Frage aus, warum diese deutsche Armee trotz enorm hoher Ausfälle auch in aussichtslosen Situationen weiter kämpfte und dabei so effektiv war, dass die Verluste der Alliierten an Toten und Verwundeten selbst in den letzten Kriegswochen die der Deutschen deutlich überstiegen. Den psychologischen Schlüssel hierzu findet Geyer in dem System der beweglichen Verteidigung, das seit Anfang 1917 eingeführt worden war, und das faktisch ein offensives Schlagen aus der operativen Defensive bedeutete. Dieses System ermöglichte, dass bei den einzelnen Soldaten Furcht und Panik in effektive und gezielte Aggression gegen den Feind umgesetzt wurde.

Bernd Greiner geht in überzeugender Weise der Frage nach, warum sexuelle Ausschreitungen gegen Frauen im amerikanischen Vietnamkrieg besonders exzessiv wurden. Orgien von Gewalt gegen Frauen sind für diesen Konflikt inzwischen gut dokumentiert. Kleine amerikanische Kampfgruppen genossen unter den besonderen vietnamesischen Bedingungen große Freiräume, und die Solidarität innerhalb dieser Gruppen gründete häufig auf der gemeinsam erfahrenen und ausgeübten Gewalt. Deshalb wurden diese Einheiten für Kriegsverbrechen anfälliger als andere Truppenteile. Besonders psychopathische Persönlichkeiten sind nicht erkennbar, hingegen resultierte die Gewaltbereitschaft aus der militärischen Ausbildung, die bewusst Hemmungen abbaute. Hinzu kam eine spezifische Erwartungshaltung, die der realen Situation in Vietnam nicht entsprach, und aus der Konfrontation dieser Erwartungen mit der Realität des Krieges entstanden zusätzliche Aggressionspotentiale. Im Einzelfall wirkten die Sicht auf vietnamesische Frauen als faktische Sexsklavinnen mit Paranoia und Ängsten vor der Guerilla zusammen.

Der Aufsatz von Joanna Bourke untersucht den Zusammenhang zwischen Fotografie und dem Töten im Krieg, wobei die Entwicklung der Kameratechnik berücksichtigt wird. Die technische Entwicklung verzerrt das Bild des Vietnamkrieges, weil durch die Einführung billiger Kameras als Massenware nun jeder Soldat jederzeit in der Lage war, dokumentarische Fotos zu erstellten. Dadurch entstanden im Vietnamkrieg – anders als in den meisten bisherigen Kriegen – auch zahlreiche Fotos von Opfern, und die mediale Präsenz dieses Konfliktes stellt sich ganz anders dar, als frühere Kriege des 20. Jahrhunderts. In einem überzeugenden Plädoyer wird eindringlich davor gewarnt, die scheinbare Authentizität der Fotografie als Realität zu nehmen, sie sei stattdessen kritisch zu hinterfragen.

Einiger Wert wird in dem Band auf Interdisziplinarität gelegt, auch wenn die historische Perspektive eindeutig überwiegt, aber was bedeutet nun diese Interdisziplinarität angesichts eines derart schwer zu fassenden übergreifenden Themas? Wenig wird der Historiker (der der Rezensent nun einmal ist) von dem Aufsatz von Rolf Pohl überzeugt, der aus der Perspektive der forensischen Psychiatrie die Psychogenese von Massenmördern untersucht. Die These, dass Eichmann exakt die gleiche psychische Struktur wie jeder beliebige pathologische Mörder gehabt haben soll, der in der Regel ein Fall für die forensische Psychiatrie war und ist, überzeugt den Rezensenten nicht: Eichmanns Widerwillen dagegen, sich selbst Massenerschießungen oder Vergasungen ansehen zu müssen, ist eindeutig belegt. Auch ist die ausgedehnte Argumentation mit den Kategorien des Unterbewusstseins oder mit dem Unbewussten dem Historiker, der auch in der Analyse von Grenzsituationen Fakten benötigt, fremd. Nicht dem pathologischen Mörder, dessen Geisteskrankheit ihn zum Töten zwingt, sondern dem „normalen“ und gesellschaftlich gut angepassten Menschen, der in Grenzsituationen zu bestialischen Taten fähig wird, gilt deshalb das besondere Interesse. Vielleicht ergibt sich hier dennoch in der Zukunft ein fruchtbarer Dialog zwischen Historikern und Psychiatern/Psychologen, nur müssten im Vorfeld die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen systematisch deutlich gemacht werden.

Auch der Beitrag von Elcin Kürsat-Ahlers über das Töten in Genoziden überzeugt nicht, weil ein grundsätzliches Problem des theoretischen Ansatzes nicht reflektiert wird, sondern die Schlussfolgerung in die Prämisse der These hineingenommen wird. Der Autor vertritt einen extrem ausgeprägten Intentionalismus, durch den faktisch jedes Massaker bereits einen Genozid darstellt. Damit geraten aber die historisch-soziologischen Kategorien ins Wanken, und der Begriff des Völkermordes erlebt eine derart inflationäre Entwicklung, dass jede Fähigkeit zur Differenzierung verloren geht. Die Frage, ob und wann aus einem oder mehreren Massakern ein Genozid wird, bleibt unreflektiert. Dieses Problem spiegelt aber auch eine gewisse Tendenz der Forschung wider, in die seit einigen Jahren Begriffe wie „genozitär“ und „genozidal“ eingezogen sind, ohne dass deutlich ist, was damit gemeint wird. Vielleicht handelt es sich ja nur um eine unreflektierte und etwas naive Rhetorik, die aufzeigen soll, dass ein Massaker besonders grauenhaft ablief. Man wartet aber eigentlich nur noch auf einen Autor, der feststellt, ein bestimmter Völkermord sei besonders genozidal gewesen. Gerade in derart sensiblen Bereichen ist doch ein gewisses Maß an analytischer Präzision notwendig.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Erstens fehlt – negativ formuliert – dem Band der rote Faden, weil allein das Thema „Töten“, vorwiegend aus der Täterperspektive geschildert, zu allgemein ist, als dass ein kohärenter argumentativer Zusammenhang für die Geschichte des 20. Jahrhunderts hergestellt werden könnte. Ein durchgängiges Gesamtkonzept für das Buch wird nicht wirklich sichtbar. Man kann dies aber auch ins Positive wenden: Zweitens nämlich bietet der Band ein buntes und vielseitiges interdisziplinäres Potpourri zu unterschiedlichen Themen der menschlichen Grenzerfahrung im Bereich der extremen Gewalttätigkeit. Hier finden sich einige erstklassige Aufsätze, denen eine breite Rezeption zu gönnen ist. Nach einigem Zögern entscheidet sich der Rezensent dafür, das Positive überwiegen zu lassen und das Buch in der zweiten Weise zu sehen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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