Titel
Die Amerikaner. Reise durch ein unbekanntes Imperium


Autor(en)
Böhm, Andrea
Erschienen
Freiburg 2004: Herder Verlag
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Peter F. N. Hörz, Lehrstuhl für Volkskunde/Europäische Ethnologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Erlangen, Montag, 27. September, kurz vor 19 Uhr: Das Siemens-Forum – »Schnittstelle zwischen Unternehmen und Gesellschaft« 1 –, ist proppenvoll. Grund des nachfeierabendlichen Besucherzustroms ist ein Auftritt von Andrea Böhm, der freien Journalistin aus New York, welche aufmerksamen Lesern von TAZ, GEO, ZEIT und Le Monde Diplomatique nicht unbekannt sein dürfte. Das Publikum hat ein geschätztes Durchschnittsalter von über fünfzig Jahren und dürfte sich überwiegend aus den Reihen der Angestellten rekrutieren. Anders als bei anderen Veranstaltungen in der Siemens-Reihe »Autoren Live« ist das krawatten- und kostümlastige Publikum diesmal durch Anwesenheit »mitgebrachter« Söhne und Töchter im Gymnasialalter aufgelockert. Schließlich spricht Andrea Böhm über ihr brandaktuelles Buch: »Die Amerikaner: Reise durch ein unbekanntes Imperium«. Dergleichen ist in diesen Tagen angesagt, stehen die Präsidentschaftswahlen in den USA doch unmittelbar bevor. Und weil Böhm dieses Jahr den Theodor-Wolff-Preis für ihren ZEIT-Artikel »Die verratenen Brüder« in Empfang nehmen darf, werden die fünf Euro Eintrittsgeld offenbar auch gern bezahlt ... Was die Veranstaltung in Erlangen betrifft, so ist diese insofern lehrreich, als man an den Reaktionen des bildungsbürgerlichen Mittelschicht-Publikums einiges über deutsche Befindlichkeiten in Bezug auf die USA ablesen kann. Aber auch das nicht wirklich neu, weil man ohnehin weiß, dass Deutschland über George W. gerne lacht.

Doch kommen wir zum Buch: Dieses nämlich ist zumindest besser als Andrea Böhms Auftritt in Erlangen vermuten lässt. Die Autorin hat gemacht, was SchreiberInnen guter Reportagen über »Land und Leute« schon seit Wilhelm Heinrich Riehl, dem Ahnherr der Volkskunde 2 gemacht haben: Eine Reise durchs Land. Und diese Reise lässt Böhm den Leser nachvollziehen, Station für Station. Wie bei fast allen Reiseaufzeichnungen aus den USA liegt auch der Ausgangspunkt von Böhms road trip an der Ostküste. Allerdings nicht in der glitzernden Wahlheimat der Autorin, sondern in Paterson, New Jersey. »Paterson war Amerikas erste Fabrikstadt gewesen«, so lernen wir, »1792 auf dem Reißbrett entworfen und gegründet, um den Traum von der Warenproduktion made in America zu verwirklichen« (S. 15). Eine Stadt, nicht etwa »als Gemeinwesen, sondern als privates Unternehmen« entstanden (ebd). Die alten Industrien freilich sind längst dahin und so teilt Paterson das Schicksal vieler Orte, die, einst in Wachstumsperioden einzelner Industrien groß geworden, schließlich Jahre und Jahrzehnte dahinsiechen und entweder zu ghost towns verkommen oder aber, bedingt durch neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen einen zweiten Frühling erfahren. Im Falle von Paterson liegt dieser zweite Lenz darin begründet, dass die Stadt zum Zentrum nahöstlicher Immigration geworden ist. Vor 9/11 freilich wäre dies zwar auch schon aus ethnografischer Sicht interessant gewesen, ins Rampenlicht der nationalen Öffentlichkeit indessen trat die Stadt erst in dem Moment, da Amerika vernommen hatte, dass sich einer der Attentäter des 11. September zuvor zeitweise an diesem Ort aufgehalten hatte. Den Alltag dieser Phase rekonstruiert Böhm auf Grund von Gesprächen vor Ort, schließt diese kurz mit Sekundärinformationen und bewegt sich immer wieder auch auf die analytische Ebene, stellt Fragen nach der Zukunft der orientalischen Einwanderer in den USA.

Auf dem Weg westwärts lernen alle interessierten deutschen Leser, die es noch nicht wissen, dass es in diesem Land Kellnerinnen gibt, deren Stundenlohn 2,50 US-Dollar plus Trinkgeld beträgt (S. 28) und dass sich die Bewerber für die miesen Jobs, die »Walmart« und andere Arbeitgeber anzubieten haben, einem obligatorischen Drogentest unterziehen müssen (S. 37). Der Leser lernt weiter wie die Energiekonzerne die Landschaft von West Virginia und Kentucky im Tagebau umgraben (und dabei ruinieren), und wer den Vorzug der Existenz von Gewerkschaften noch nicht erkannt haben sollte, wird angesichts der Beschreibungen massenhafter sozioökonomischer Abstiege auf der einen und sagenhafter Profite auf der anderen Seite (z.B. S. 53-59) zumindest die grenzenlose Freiheit des Marktes in Frage stellen.

Böhm fährt weiter nach Huntsville, Alabama, in jenem Ort also, in dem die 1945 zur US-Armee übergelaufenen deutschen Raketenbauer, Wernher von Braun und seine Mitarbeiter, ab 1950 für die USA arbeiteten und »die Stadt buchstäblich in eine neue Ära schoss[en]« (S. 65). Auch in diesem Kaptitel lässt sich abermals gut nachvollziehen, wie nahe regionaler und lokaler Niedergang und Aufschwung in Amerika oft beieinander liegen: Ein Senator antichambriert in Washington, die Raketenbauer ziehen von Texas nach Huntsville um, und aus einem Sechzehntausendseelen-Ort, der zuvor nichts zu diskutieren wusste, als »Baumwollpreise, Bibel und Bürgerkriegsanekdoten« wird von heute auf morgen jene Rocket City, die plötzlich genug Geld für die Erhaltung ihrer Schulen hat und binnen einiger Jahrzehnte die zehnfache Einwohnerzahl aufweist (S. 65). Und weil die Möglichkeiten unbegrenzt sind, gibt es heute am Ort auch noch ein Besucherzentrum, welches staunenden Kindern und Erwachsenen Raumfahrt und militärische Raketennutzung im Sinne eines Erlebnisparks näher bringt. Böhm hat diesen Park für uns getestet und in zehn Minuten per Knopfdruck 17 feindliche Helikopter zerstört – freilich nicht ohne uns wissen zu lassen: »Danach ging es mir auch nicht besser.« (S. 68)

Tage später spaziert die Autorin durch die Ruinen von Llano des Rio, knapp zwei Autostunden nördlich von Los Angeles, und teilt (vermutlich auf Basis von Mike Davis‘»City of Quartz« 3) mit, dass an diesem Ort 1914 die »Young Peoples’s Socialist League« mit der Gründung einer Art Kibbuz die Grundlage für eine sozialistische Stadt schaffen wollten. Eine Grundlage, die mit der Produktion landwirtschaftlicher Güter, mit Bäckereibetrieb, Ragtime-Orchester und Montessori-Schule zunächst, trotz politischen Drucks ziemlich stabil gefügt war, ehe das Kollektiv per Gerichtsverfügung den Zugang zu den in der kalifornischen Wüstenlandschaft lebenswichtigen Wasserressourcen aberkannt bekam und sich überdies über die Frage des Mindestlohns zerstritt (S. 114).

Rund achtzig Seiten später endet Böhms Reise in New York City. Dabei ist der Autorin zugute zu halten, dass sie darauf verzichtet, quasi als glanzvollen Höhepunkt auf einigen Seiten ein Portrait dieser Stadt zu versuchen. Einige nüchterne Notizen. Dazu ein paar Nachsätze zum Verlauf des Trips und ein wenig grundsätzliche Selbstreflexion: »Außerdem wußte ich nach dieser Reise nicht mehr genau, ob all die Jahre in verschiedenen Ecken und Städten der USA nicht doch mehr als Exkursionen in der Fremde gewesen waren, ob ich eine Nicht-Amerikanerin geblieben oder eine Noch-Nicht-Amerikanerin geworden war.« (S. 201)

Spätestens nach einem verregneten Wochenende dürfte der Durchschnittsleser Böhms Exkursion nachvollzogen haben. Und dieser Durchschnittsleser, der sich ungefähr aus jener Schicht rekrutiert, die auch im Erlanger Siemens-Forum dominant gewesen ist, hat am Ende (fast) die meisten seiner Vor-Urteile bestätigt bekommen. Das mag daran liegen, dass Böhm zwar durchaus aufmerksam beobachtet, einigermaßen gründlich nachdenkt, aber am Ende doch jene Tiefenschärfe vermissen lässt, die Mike Davis‘ Texte auszeichnet. 4 Dabei darf der Autorin freilich zugute gehalten werden, dass sie an keiner Stelle den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu betreiben. Insofern läuft jede Kritik an Böhm eigentlich ins Leere. Weil es sich aber letztlich um angewandte Politikwissenschaft handelt, die hier publiziert wird und weil journalistische Reportagen über das so genannte »andere Amerika« immer auch gerne von Sozialwissenschaftlern gelesen werden, ist Böhms Werk am Ende eben doch eine kritische Betrachtung wert.

Dabei ist in erster Linie zu sagen, dass ein wenig mehr Distanz zu sich selbst, ein wenig mehr Überlegung im Sinne der Selbstreflexion: »Wer sieht was, aus welchem Grunde?« Böhms Büchlein noch deutlich verfeinert hätte. Böhm sieht, gleich wie lange sie in den USA gelebt haben mag, noch immer mit sehr deutschen Augen. Und wahrscheinlich will und muss sie mit deutschen Augen sehen, weil sie einer deutschen Leserschaft die USA näher bringen möchte. Diese deutsche Leserschaft aber profitierte möglicherweise mehr, wenn ihr nicht in einer langen Kette von Eindrücken genau das widergespiegelt würde, was das deutsche Bildungsbürgertum vom Verdi-Sekretär bis zum Ethnologie-Professor ohnehin schon immer gewusst zu haben glaubt. Gleichwohl: Für alle, die sich in Wahlzeiten noch ein Stück Amerika erlesen möchten, ist Böhms Buch doch immerhin einen Seitenblick würdig.

Anmerkungen:
1 Hintergrundinformation zur Veranstaltungsreihe: »Autoren Live«: http://w4.siemens.de/siemensforum/sf_erlangen/veran_autoren_akt.htm
2 Riehl, Wilhelm Heinrich, Wanderbuch. Zweiter Teil zu »Land und Leute«, Stuttgart 1869.
3 Davis, Mike, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und neuere Aufsätze. Berlin 1994 (zuerst: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles, London 1990).
4 wie Anm. 3, sowie Ders., Casino Zombies. Und andere Fabeln aus dem Neon-Westen der USA, Berlin 1999.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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